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Eva Strasser – Wildhof

Rückkehr ins Elternhaus. Nach dem Tod ihrer Eltern stellt sich die Erzählerin in Eva Strassers Roman Wildhof vielen Verlusterfahrungen, die im einstigen Zuhause auf sie warten. Doch einmal mehr zeigt sich auch, dass im Ende eines Lebensabschnittes auch die Möglichkeiten eines Neubeginns liegen. Sogar die Klärung des Rätsels rund um das Verschwinden ihrer Schwester liegt in greifbarer Nähe…


So ganz konkret kann man ihn nicht verorten, den Standort von Linas Elternhaus, in das die junge Frau nun wieder zurückkehrt. Irgendwo im Schwarzwald steht das Häuschen, das nicht nur von außen viel Wald umgibt, sondern das auch im Inneren viel Holzarbeiten aufweist. Einst verbrachte Lina mit ihrer Schwester Luise ihre Kindheit hier, nun aber liegt das Haus verwaist da.

Der Grund ist ein höchst tragischer: Linas Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein frontaler Auffahrunfall hat nicht nur das Leben ihrer Eltern beendet, sondern auch einen großen Riss in Linas bisheriges Leben geschlagen. Dabei wäre das Leben für die Weggezogene auch so schon kompliziert genug. Gerade verbüßt die junge Frau eine Bewährungsstrafe – und dann ist da auch noch das ungeklärte Verschwinden ihrer Schwester Luise in Linas Kindheit. Ihr Schicksal konnte nie wirklich geklärt werden.

Die Zeit der Gespenster

So steht die Rückkehr nach Wildhof nicht unbedingt unter einem guten Stern. Immer mehr Vergangenes drängt ans Tageslicht, während Lina nun damit beginnt, den Verlust ihrer Eltern irgendwie in notgedrungene Produktivität umzusetzen. Die Beerdigung will geplant, der Nachlass geregelt werden. Und so bricht für die junge Frau nun die Zeit der Gespenster an, in der sie Personen aus ihrer Vergangenheit vor Ort wieder begegnet, wodurch sich für uns Lesende langsam ein Bild des Lebens von Lina zusammensetzt.

Lina hat keine Kinder und keinen Mann, und das Haus, das sie hat, will sie nicht. Sie lässt sich in die Wiese fallen. So ist das nun mal mit der Vergangenheit. Springt einen an wie ein hechelnder Hund, schmeißt einen in den Graben, das war keine Absicht, die macht nichts, die will nur spielen, so ist sie halt, ungestüm und wild, und will überall dabei sein, ist immer auf der Suche, obwohl sie im Heute nichts verloren hat.

Eva Strasser – Wildhof, S. 62

Wie die im Holz abgelagerten Jahresringe, die das vielfach im Haus verwendete Baumaterial kennzeichnen, sind es bei Lina die Erfahrungen und Verluste, die sich in ihr abgelagert haben und die ihren Charakter formten. Doch nun gerät all das in Frage, als sie mit dem Ausräumen des Hauses beginnt, um das Haus verkaufen zu können. Ein neuer Blick auf Altes ergibt sich – und am Ende fördert ihre Rückkehr nach Wildhof auch neue Informationen zum Verschwinden ihrer Schwester zutage, die von einem auf den anderen Tag verschwand, ohne dass sich mehr eine Spur von ihr fand.

Verlust und Neubeginn

Eva Strasser - Wildhof (Cover)

Wildhof kombiniert den Verlust mit dem Neubeginn und lässt Lina sich vor Ort mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen auseinandersetzen. Das steht in einer ganzen Reihe von Büchern, die in letzter Zeit auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erschienen sind.

Die Trauerverarbeitung nach dem Tod ihrer Eltern weckt Assoziationen zu Daniela Kriens im vergangenen Jahr erschienenen und für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman Mein drittes Leben, in dem eine Frau aufs Dorf zieht, um dort in der Einsamkeit eines Dorfs in der ostdeutschen Provinz den Tod ihrer Tochter zu verwinden.

Aber auch Bezüge zu Wo der Name wohnt, dem jüngst bei Suhrkamp erschienenen Debüts von Ricarda Messner bieten sich an. Hier wie dort ist es eine Wohnungsauflösung von Eltern (bzw. Großelternteilen im Falle von Ricarda Messner), die die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte und den Schmerzpunkten der Herkunft auslöst.

Eva Strasser Roman sortiert sich neben diesen Titeln ein und kann insbesondere durch die Sprache überzeugen. Denn sie findet einen stimmigen Ton für die zwischen Trauer, Rebellion, Nostalgie und Schmerz oszillierende Lina zu finden. Wie wählt man die passende Urne für seine Eltern aus, wie findet man im Zuhause das Testament, was gilt es alles zu beachten, um das Leben der Eltern formal wie psychologisch zu einem Ende zu bringen? Davon erzählt die Autorin sehr anschaulich und beschreibt die Fragilität unseres Daseins bis hin zur Frage, was am Ende vom Leben bleibt.

Vielleicht etwas zu viel des Guten oder Schlechten?

Wollte man Einwände gegen den Roman finden, so wären diese allenfalls in der Motivik des Romans zu finden, denn es ist vielleicht etwas zu viel des Guten beziehungsweise Schlechten, das sich auf den 200 Seiten des Buchs entfaltet und auf kleinstem Raum verhandelt wird.

Der Verlust der Eltern, das Eintauchen in die Vergangenheit und das Aufwachsen dort im Haus, verbunden mit einer Affäre, die sich durch einen potentiellen Käufer des Hauses anbahnt, die Dynamiken rund um den Bewährungsstatus von Lina sowie die Lösung für das Geheimnis des Verschwindens ihrer Schwester, das auf den letzten Metern fast noch in einen Krimi kippt – vielleicht hätte der Verzicht auf die ein oder andere Volte auf die klarere Fokussierung des Romans eingezahlt.

Das sind aber wirklich nur marginale Einwände gegen diesen ansonsten wirklich stimmigen und gut geschriebenen Roman, der der Trauer und dem Furor seiner Erzählfigur viel Raum gibt und nachvollziehbar von der Trauerarbeit erzählt, die doch oftmals genau das ist: Arbeit.


  • Eva Strasser – Wildhof
  • ISBN 978-3-803-13373-1 (Wagenbach)
  • 202 Seiten. Preis: 22,00 €
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Daniela Krien – Mein drittes Leben

Wie weiterleben, wenn das eigene Kind gestorben ist? Daniela Krien erkundet es in ihrem Roman Mein drittes Leben einfühlsam und erzählt von Trauer und von der Schwere, einen Neuanfang zu wagen.


Den Entschluss seiner Frau zu einem Umzug kann Richard überhaupt nicht nachvollziehen. Ein ödes Dorf mitten im Nirgendwo der Leipziger Peripherie hat sie sich ausgesucht, um dort einen heruntergekommenen Hof zu bewohnen. Außer der Durchgangsstraße mit rauschendem Durchgangsverkehr gibt es dort nichts, was irgendwie von Aufbruch oder Vorankommen zeugt. Dort möchte man nicht begraben sein, wie Lindas Mann Richard bei der ersten Fahrt durch diese reizlose Ansammlung von Häusern bemerkte. Und auch Linda muss ihm beipflichten – und doch wohnt sie nun dort.

Den Grund für den Um- oder besser Rückzug erläutert Daniela Krien in kleinen Erinnerungsfetzen, die immer wieder den neuen Alltag von Linda durchschießen. Denn ihre Tochter Linda ist gestorben, als sie auf ihrem Rad von einem abbiegenden Laster im Leipziger Straßenverkehr übersehen wurde. Diese Tragödie verwinden Linda und ihr Mann auf unterschiedliche Art und Weise. Denn während für ihn das Leben irgendwie weitergeht, er als Künstler um seinen Ausdruck kämpft, lautet Lindas Antwort auf den Verlust – Rückzug.

Rückzug ins Durchgangsdorf

Daniela Krien - Mein drittes Leben (Cover)

Ihre Stelle in einer Kunststiftung gibt sie auf, sie zieht von zuhause aus, sucht im Durchgangsdorf einen Rückzug, um zu trauern und ihren restlichen Lebensmut gleich mitzubegraben. Doch damit wäre Mein drittes Leben ein reichlich kurzes Buch geworden – und auch das titelgebende Leben nach dem Verlust ihres Kindes und der Distanz zu ihrem Mann hätte nicht stattgefunden.

Doch beobachtet Daniela Krien im folgenden, durch die Ich-Perspektive erzählerisch ganz nah dran an ihrer Protagonistin, wie sie sich zunächst im Dorf einen neuen Alltag und neue Kontakte erschließt – und später auch in Leipzig wieder neu Fuß fasst und so vorsichtig ein neues Leben beginnt, das nicht nur Weiterleben ist.

Mein drittes Leben besticht durch seine genaue Auslotung der Seelenzustände und Verheerungen nach der tödlichen Nachricht des Todes eines eigenen Kindes. Ein Umstand, für den die deutsche Sprache gar kein Wort vorsieht, so wenig dieser Fall eigentlich eintreten soll. Und doch ist es für Linda und ihren Mann so. Wie wenig man darüber kommunizieren kann, wie eine solche Nachricht zum Auseinanderbrechen zwischen zwei Partnern führen kann, das beschreibt Krien eindrücklich.

Ein Neuanfang nach dem Ende

Ihre Sprache dabei ist nicht sentimental, sondern sehr präzise und fasst die Erkundungen der Seelenlandschaft in eine klare Prosa.

Ich blicke aus dem Fenster auf einen zur Hälfte gepflasterten, zur anderen Hälfte mit Rasen bewachsenen Hinterhof, der begrenzt wird von einer mit Efeu überwucherten Sichtschutzwand. Das alte Konzept meines Lebens habe ich endgültig aufgegeben. Schritt für Schritt gehe ich Tag für Tag ein kleines Stück weiter. Mehr ist es nicht, mehr muss es auch nicht sein.

Daniela Krien – Mein drittes Leben, S. 169

Ähnlich wie in diesem Jahr auch Adriano Sack oder Franziska Gänsler hat Daniela Krien ein Buch geschrieben, das der Trauer Raum gibt und das seiner Protagonistin beim Verarbeiten des Verlusts und dem Austesten verschiedener Pfade hin zu einem neuem Stück Lebensweg zusieht. Von Trauer und Schmerz durchsetzt ist der Winter ein starkes Bild, der im Roman nicht nur in Form eines nun anders gefeierten Weihnachtsfestes oder Schuberts Winterreise auftaucht, sondern auch immer wieder ganz konkret auf die Innenwelten Lindas bezogen wird.

Die Sehnsucht nach Sommer ist mir abhandengekommen. Mein innerer Winter lässt sich nicht mit der Leichtigkeit der hellen, warmen Tage in Einklang bringen.

Daniela Krien – Mein drittes Leben. S. 118 f.

Und doch bleibt es auch bei Linda nicht bei einem ewigen Winter. Symbolhaft ist der Garten, in dessen Bewirtschaftung sie einen neuen Lebenssinn findet und der mit seinem Vergehen und Werden auch nach dem scheinbaren Tod im Winter immer wieder die Kraft für einen Wiederbeginn im Frühling findet.

Fazit

Mein drittes Leben zeigt, wie schwer dieser Weg ist – aber dass es ihn gibt, wie verzweifelt und nachtschwarz das Leben auch in Phasen sein mag. Dass das Ganze über Kalendersprüche und banale Binsen hinausgeht, das ist der Verdienst von Daniela Krien, den sie mit diesem Buch leistet. Mit einer stimmigen Dreiklang aus Inhalt, Form und Sprache reiht sich das Buch ein in die Riege bereits genannter Seelenerkundungen, dessen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 durchaus gerechtfertigt ist.


  • Daniela Krien – Mein drittes Leben
  • Artikelnummer 175851 (Buechergilde)
  • 296 Seiten. Preis: 24,00 €
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Adriano Sack – Noto

Sizilien als Sehnsuchts- und Trauerort. Adriano Sack erkundet in seinem Roman Noto die Landschaften der italienischen Insel und zugleich die Seelenlandschaften seines Helden, der einen Todesfall verwinden muss. Es entsteht so ein durchaus stimmiger Roman, dem man die oftmals exaltierten und prätentiösen Figuren am Ende gerne nachsieht.


Italien, altes Sehnsuchtsland. Seit jeher zieht es die Menschen in das Land, in dem die Zitronen blühen und in dem la dolce vita alle anderen Aspekte von organisierter Gewalt bis hin zum politischen Rechtsruck locker in den Schatten stellt. Adriano Sack fügt dieser Facette an Italiensehnsucht einen weiteren Roman hinzu und erzählt zugleich von zwei Figuren, die dieser Italiensehnsucht ebenfalls erlegen sind. Sie haben sich Sizilien als Hort ihrer Träume auserkoren.

Doch mit dem Traum von Italien ist es nicht weit her. Denn Adriano, der sich zusammen mit seinem Mann, dem Ich-Erzähler Konrad, ein Haus dort im Süden des Landes gekauft hat, ist verstorben. Und so bricht der Konrad trauerüberwältigt von seiner Wohnung nahe des Tiber in Rom nach Noto auf, um noch einmal zu jenem Haus zurückzukehren, das für seinen Mann und ihn Fluchtpunkt, Zuhause und Verwirklichung all ihrer Sehnsüchte war. Mit im Gepäck hat er einen Teil der Asche seines verstorbenen Partners, irgendwo auf der italienischen Insel will er diese noch verstreuen, um so Abschied zu nehmen.

Trauer in Sizilien

Während er zurückreist, mit der Autofähre nach Palermo übersetzt und sich auch mit dem Gedanken trägt, das gemeinsame Zuhause zu veräußern, drängen immer wieder die Gedanken an das Leben mit Adriano in seine momentane Trauer. Patenkinder, Bekannte und andere Expats, die dem Traum von Sizilien ebenfalls erlegen sind, besuchen Adriano und langsam entfaltet sich ein Bild des Lebens dort auf jener Insel, die an guten Tagen wie dem berühmten Roman Giuseppe Tomasi di Lampedusas nachempfunden zu sein scheint, wie Konrad einmal bemerkt. Ebenso wird auch die tiefe Liebe zwischen den beiden Männern offenbar, die in ihrer Gegensätzlichkeit zueinander gefunden haben.

So gelingt dem Journalisten und Autor Adriano Sack ein Doppelporträt einer großen, queeren Liebe, und einer Hommage an Sizilien, das bei aller Faszination auch seine Schattenseiten hat. Waldbrände und Müllverbrennung im eigenen Garten, Korruption und Einfluss der Mafia sind nur einige Faktoren, die das Leben dort am Fuße des Ätna trüben.

Zu den Verdiensten von Noto zählt, dass der Roman all das in den Blick nimmt und so ein vielschichtiges Bild der Italiensehnsucht und den Kosten dieser Sehnsucht zeichnet. Auch den Prozess der Trauer und die Verarbeitung des Todes seiner großen Liebe Adriano zeigt Adriano Sack nachvollziehbar und glaubwürdig, indem er auch immer wieder einzelne Erinnerungen oder gegenläufige Stimmen des verstorbenen Partners einflicht und sich Konrad in seinen Erinnerungen verlieren lässt.

Katikatureske Figuren und Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm

Diese Stärken wiegen die manchmal schon karikatureske Zeichnung vieler Figuren auf, die von skurrilen Auftritten wie Gwyneth Paltrow im Bärenkostüm am Ätna bis zur queeren CDU-Politikerin Annabelle von Gumppenberg reichen, auf deren reichlich dekadenter Hochzeit nicht nur Pasta mit wildem Fenchel und gehobelter Seeschnecke gereicht werden, sondern sogar ein Double von Mick Jagger auftreten darf.

Der belgische Starkoch hat es sich scheinbar einfach gemacht. Laut dem dem handgeschriebenen Hochzeitsmenü, das an jedem Platz liegt, gibt es Crudo di frutti di mare, als rohe Meeresfrüchte. Diese hier sind allderdings so frisch, dass Donatella dramatisch die Hand vor den Mund hält und ruft: „Oh my god. This is pure sex. I want to eat the chef! Grab him, wash him an bring him in my tent!“

Adriano Sack – Noto, S. 310 f.

Derartig überspannte Ausbrüche, Exaltierheit und prätentiöse Figuren und Gehabe gibt es in Noto reichlich. Sie alle werden aber auch immer wieder gebrochen und treffen auf durchaus amüsante Karikaturen wie etwa den an sich berauschten Großfeuilletonisten, der in seiner Hochzeitsrede während der schon erwähnten sizilianischen Vermählung seine eigene Belesenheit und Weltgewandtheit trefflich ausstellt, dafür aber den Anlass seiner Rede ebenso wie den Namen der Braut völlig aus dem Blick verliert.

Fazit

Komik und Tragik, Präzision und Überschwang, Sehnsucht und Flucht liegen in diesem Roman eng beieinander. Dem Journalisten Adriano Sack gelingt das Bild einer großen queeren Liebe und eine Hommage an das vielschichtige Sizilien. Und diesem Bild verzeiht man da die eine oder andere Karikatur auch gerne, besonders, da der Roman von Lizzo über Beyoncé bis zu den Pure Shores zudem einen exzellenten Soundtrack wachruft.


  • Adriano Sack – Noto
  • ISBN 978-3-312-01314-2 (Nagel & Kimche)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €
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Sarah Crossan – Verheizte Herzen

Ein Buch, das weniger durch seinen Inhalt

denn durch seine außergewöhnliche Form besticht.

Sarah Crossan hat mit Verheizte Herzen

einen Roman in Versform geschrieben.

Über eine Frau, die nach dem Tod ihrer Affäre den Halt verliert.


Der Versroman hat in letzter Zeit eine kleine Renaissance erlebt. Bereitete etwa Christoph Ransmayr mit Der fliegende Berg eine Renaissance dieser uralten Form vor, so war dann spätestens mit Annette – Ein Heldinnenepos, Anne Webers mit dem deutschen Buchpreis gekrönten Hommage an die französische Widerstandskämpferin Annette Beaumanoir, die Versform wieder im breiten literarischen Bewusstsein angekommen.

Mit Verheizte Herzen liegt nun ein weiterer Roman in Versen vor, der diesmal aus dem englischen Sprachraum kommt und von Maria Hummitzsch ins Deutsche übertragen wurde. Und während der englische Originaltitel Here is the beehive gerade in Verbindung mit dem bienenumschwärmten Cover eine sinnvolle Verbindung eingeht, präsentiert sich der deutsche Titel doch etwas unverbunden.

Mittendrin im Bienenstock

Sarah Crossan - Verheizte Herzen (Cover)

Das geschäftige Treiben des titelgebenden Bienenstocks lässt sich gleich in zweifacher Hinsicht auf die Heldin Ana Kelly übertragen. So gleicht deren Zuhause mit ihrem Mann Paul, einem Lehrer mit höheren Ambitionen, und ihren Kindern bisweilen wirklich einem Bienenstock. Ein stetes Miteinander, Leben, die nebeneinander hergelebt werden, Kinder, die ständig Aufmerksamkeit einfordern und doch auch Wärme, die da im Inneren dieses Verbunds herrscht.

Doch auch Anas Herz selbst gleicht einem unablässig brummenden Inneren eines solchen Bienenstocks. Denn schon auf der ersten Seite wird sie mit einer Todesnachricht in Verbindung mit einer Testamentsvollstreckung konfrontiert. Das wäre eigentlich nichts besonderes, ist Ana doch als Anwältin in solchen Fällen beschlagen. Der Name, der ihr von der Frau des Toten am Telefon genannt wird, wirft sie allerdings völlig aus der Bahn: es handelt sich um Connor Mooney. Jenen Mann, mit dem Ana seit geraumer Zeit eine Affäre verband.

Und so muss sie nun einerseits das Testament ihres heimlichen Geliebten vollstrecken und sich auf der anderen Seite nichts anmerken lassen im Umgang mit der trauernden Witwe. Eine Spagat, der Ana einiges abverlangt und sie nicht zur Ruhe kommen lässt, besonders als sie Connors Familie näher kennenlernt.

Ein überheiztes Herz

Verheizte Herzen erzählt die Geschichte einer Frau, deren Herz und Seele wirklich an Überhitzung leiden. Da ist ihre eigene Familie, das tägliche Miteinander. Und da war bis vor wenigen Momenten noch die Affäre mit ihrem Klienten, die sich doch auch zu mehr auswuchs, wenngleich sich Connor im Gegensatz zu Ana nicht ganz in diesen Seitensprung hineingab. Und so ringt Ana den ganzen Roman über mit der Frage, was sie falsch gemacht hat, wie sie sich nun verhalten soll und welche Schritte angezeigt sind. In ihrer Trauer stellt sie fest:

Die Uhren springen zurück.
Eine Stunde Extraschlaf.

Die Zeit verschiebt sich.
Tick.
Tack.

Hätte ich nur.

Ich wäre freundlicher.
Ich würde dich retten.
Eine Minute nur.
Nur eine.

Die übrigen neunundfünfzig
kann wer anders
haben.

Schenk sie Rebecca.
Überlass Rebecca neunundfünfzig Minuten mit dir.
Eine mir.
Eine.

Nur diese letzte.

Sarah Crossan – Verheizte Heren, S. 143 f.

Von solchen Überlegungen und Reflektionen ist Verheizte Herzen randvoll. Das ist bisweilen für meinen Geschmack etwas larmoyant und rührselig, hat in seinen besseren Momenten aber auch starke Wucht und Emotionalität. Vor allem im letzten Teil gelingt Sarah Crossan dann wieder der Ringschluss zum Beginn ihres Buchs, der durch den Verzicht auf naheliegenden Kitsch überzeugt.

Nötige Versform?

Nur eine einzige Frage bleibt nach der Lektüre für mich bestehen, bei deren Antwort ich mir selbst unschlüssig bin. Geht die Idee der freien Versform wirklich auf – oder ist sie für Crossans Erzählung eigentlich gar nicht zwingend notwendig?

Lässt sich eine solche freie Versform ja eh nicht ganz verlustfrei in eine andere Sprache hinüberretten, besitzt Sarah Crossans Roman doch auch im Deutschen eine besondere Form, die es zwar nicht mit klassischen Versepen aufnehmen kann, die in ihrem Tasten und Suchen, Nachdenken und Trauern aber doch eine ganz eigene Tonalität findet und das starke Bild einer trauernden Frau ergibt, deren sämtlichen Sicherheiten und Gewissheiten sich auflösen. Insofern gewinne ich der Versform dieses Buches durchaus etwas ab, die der Thematik der trauernden Affäre und Mutter eine literarisch interessante Note beifügt und so über andere, ähnlich angelegte Bücher hinausragt.

Fazit

Bislang trat Sarah Crossan eher auf dem Feld der Jugendbücher in Erscheinung. Mit Verheizte Herzen gelingt ihr nun ein überzeugender Wechsel in das Fach der Erwachsenenunterhaltung. Ein interessant gestaltetes Buch, das das Trauern in lyrische Worte setzt und dabei ähnlich wie auch Ruth Lillegraven eine eindringliche Geschichte erzählt, die durch die gewählte Form zusätzlich gewinnt.


  • Sarah Crossan – Verheizte Herzen
  • Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch
  • ISBN 978-3-462-00060-3 (KiWi)
  • 272 Seiten. Preis: 22,00 €
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Kristen Arnett – Ziemlich tote Dinge

Diese Familie ist wirklich mehr als außergewöhnlich. Kristen Arnett in ihrem Debütroman „Ziemlich tote Dinge“ über eine reichlich dysfunktionale Dynastie von Taxidermisten, die Kunst der Tierpräparation, die Verarbeitung von Verlusten und die Frage nach einem möglichen Neuanfang. Großartige und eigenwillige Literatur aus Amerika, die es sich zu entdecken lohnt.


Jessa-Lynn Morton entstammt einer Familie von Taxidermisten. Ihr Vater hat ihr einst die Kunst der Präparation von Tieren nahegebracht, seitdem verdingt sie sich im familieneigenen Geschäft in Florida als kunstvolle Handwerkerin, die den toten Tieren noch einmal Leben einhaucht. Bei ihrem Vater kann sie allerdings auch mit jeglicher Kunstfertigkeit nichts mehr ausrichten. Sie findet ihn erschossen in den Arbeitsräumen des Geschäfts vor.

Der Suizid ihres Vaters wirft in der Folge nicht nur Jess aus der Bahn. Alle Familienmitglieder geraten ins Taumeln und begegnen dem Verlust auf ganz eigene Art und Weise. Jess‘ Mutter rasiert sich eine Glatze und beginnt, sich künstlerisch auszuleben. Im Schaufenster ihres Geschäfts modelliert und gruppiert sie ausgestopfte Tiere zu freizügigen bis obszönen Gesamtensembles, die schon bald die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich ziehen.

Milo, der Bruder von Jess, ist sowieso schon aus der Bahn geworfen. Seine Frau Brynn hat ihn verlassen, die Kinder sind bei ihm geblieben. Ein Verlust, den aber nicht nur Milo nicht verwinden kann, auch Jess macht dieser Verlust noch immer zu schaffen. Denn auch sie pflegte eine intensive Affäre mit Brynn…

Viele eigenwillige Figuren

Kirsten Arnett - Ziemlich tote Dinge (Cover)

Es sind viele eigenwillige Figuren, die uns Kristen Arnett in ihrem Debüt präsentiert. Die queere Jess, die die Frau ihres Bruders liebt. Die exzentrische Mutter, deren Kunst schon bald auch eine lokale Galeristin begeistert. Die lokale Galeristin, die wiederum sehr von Jess begeistert ist. Und dazwischen allerhand ausgestopfte Waschbären, Alligatoren, Pfaue und Bären.

Höchst anschaulich schildert Arnett die Kunst, die es bedeutet, Ziemlich tote Dinge wieder zum Leben zu erwecken. Den Prozess dahin, bis ein Tier ausgestopft an der Wand hängt oder als Trophäe ausgestellt wird, das dekliniert die amerikanische Autorin hier bis ins Kleinste vor. Hier werden überfahrene Tiere von der Straße geklaubt, Skelette geformt und präpariert – aber nie so, dass sie dieses Handwerk platten Grusel- oder Ekeleffekten opfert. Stattdessen zeichnet sie dieses Handwerk als Kunst, das in vielfacher Hinsicht bei der Trauerbewältigung helfen kann.

Interessant wird Ziemlich tote Dinge zudem durch die Kombination von Eros und Thanatos. Während der Tod sowohl in die Familie als auch das Handwerk und die Kunst der Mortons bestimmt, ist dieses Buch auch stark vom Begehren und Sexualität geprägt. Die gleichzeitige Liebe von Bruder und Schwester zur gleichen Frau, die Affäre von Jess mit der Kuratorin der kleinen Galerie, die Suche nach einer eigenen queeren Identität, das alles prägt dieses Buch ebenfalls sehr. Gelungen schafft es Kristen Arnett, diese schwierige Suche nach dem eigenen Ich und die Kalibrierung der eigenen Bedürfnisse nachvollziehbar zu machen. Arnetts Buch ist voller Szenen, die von anrührend bis hin zu grotesk reichen.

Von tierischer Wiederbelebung und menschlichem Sterben

In dieser Engführung von tierischer Wiederbelebung und menschlichem Sterben, Begehren und Abschied ist Arnetts Buch wirklich gelungen. Zudem verfügt die 1980 geborene Autorin über eine wirklich gute Schreibe (übersetzt von Brigitte Jakobeit), die die Natur Floridas, die Kunst der Taxidermie und das Leiden und Begehren nachvollziehbar in Worte kleidet. Das dieses wie in einem sog lesbare Buch ein New York Times-Bestseller war, das verwundert nicht.

Kristen Arnett gelingt das Portrait einer eigenwilligen Familie voller eindringlicher, manchmal geradezu skurriler Figuren, die vom Tod und dem Leben erzählen. Dieses Buch ist wirklich eine Wunderkammer, die nicht nur mit vielen ausgestopften Tieren, sondern auch einer ganzen Füller unterschiedlicher Themen aufwarten kann. Queere Identität. Trauerarbeit. Die Kunst der Taxidermie. Eine Hymne auf die Fauna Floridas und die Kraft der Versöhnung.

Ein außergewöhnliches Buch das zeigt, dass nicht nur die großen Namen Jonathan Franzen und Co. das Metier des Familienromans beherrschen. Hier lernt man eine Sippe kennen, die man auf keinen Fall schnell vergisst – und besonders nicht dieses Cover!


  • Kristen Arnett – Ziemlich tote Dinge
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
  • ISBN 978-3-7530-0007-7 (Ecco-Verlag)
  • 416 Seiten. Preis: 22,00 €
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