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Matthias Lohre – Teufels Bruder

Zwei Senatorensöhne auf Grand Tour durch Italien, mit im Gepäck Schreibkrisen, Liebeskummer und die Frage, wohin der Lebensweg führen soll. Einen führt dieser Lebensweg in Matthias Lohres zweitem Roman Teufels Bruder nicht nur von Lübeck nach Italien – sondern sogar in die die Arme des Teufels. Der Name des Reisenden: Thomas Mann.


In seinen im vergangenen Jahr unter dem Titel Leoparden im Tempel wiederveröffentlichen Schrifstellerporträts beginnt Michael Maar seine Annäherung auf das Phänomen Thomas Mann mit einer Frage. Welches ist die Figur, die einem in Thomas Manns erstem Roman als erstes begegnet – oder die besser gesagt angerufen wird? Die Lösung lautet: der Teufel. Denn dieser hat gleich als erstes in einem Ausruf des Konsuls Buddenbrook als „Düwel“ seinen Auftritt.

Das ist alles andere als verwunderlich, wie Maar im Folgenden aufzeigt. Denn der Teufel besitzt im Werk Thomas Manns einen ganz eigenen Stellenwert, schließlich will Mann dem Teufel sogar höchstpersönlich in Italien begegnet sein. Auch in Matthias Lohres zweitem Roman ist der Teufel im Leben Thomas Manns stets präsent und spukt häufig durch den Text. Denn dessen Roman spürt der Faszination Manns für den Teufel nach, indem er jene Jahre in den Mittelpunkt rückt, in denen sich Heinrich und Thomas Mann auf jene Grand Tour durch Italien begaben, bei der dem jüngeren der beiden Brüder nach eigener Aussage der Teufel erschienen sein soll.

Zwei Senatorensöhne auf Grand Tour

Matthias Lohre - Teufels Bruder (Cover)

Lohres Buch setzt im Jahr 1896 ein. Nach dem Tod ihres Vaters, eines angesehenen Lübecker Konsuls, reisen beide Brüder durch Italien. Das väterliche Erbe und enttäusche Erwartungen beschäftigen die beiden Reisenden ebenso wie die Frage, wo es hingehen soll in ihrem Leben. Schriftsteller wollen sie beide sein, doch der große Erfolg lässt besonders im Falle von Thomas Mann noch auf sich warten. Noch nicht einmal wirklich zu erahnen ist dieser erhoffte Erfolg.

Konkret ist bislang nur die Ebbe in der Reisekasse der Brüder. Und so lässt sich Heinrich mit einem Verleger auf einen besonderen Deal ein. Er soll als Herausgeber dessen Zeitschrift Das zwanzigste Jahrhundert vorstehen, um so Geld in die Reisekasse zu spülen. Doch ganz so vorteilhaft entpuppt sich der Deal nicht, denn fortan begleitet Heinrich den Filius des Verlegers auf seinen Reisen, der wiederum Heinrich für seine eigene Agenda einspannt und die Brüder zur Abgabe von Novellen bewegen möchte. Der Arbeitstitel dieses Projekts trifft dabei die bisherige Schaffensbilanz der Brüder in Italien vortrefflich, denn er lautet Enttäuschung.

Und dann ist da ja auch noch Thomas Mann, der im Gefolge seines Bruders ebenfalls mit durch Italien reist. Schon zu Beginn der Grand Tour in Venedig allerdings passiert etwas, das Tommy, wie ihn sein Bruder ruft, entschieden prägt. Denn in Vendig wird er eines jungen Mannes ansichtig, dessen Spuren er auf seiner ganzen Reise durch Italien folgt. Bis auf den Kraterrand des Vesuvs in Neapel steigt der jüngere der beiden Mann-Brüder dem geheimnisvollen Jungen nach. Doch wo immer er dem Jungen begegnet, ist auch ein geheimnisvoller Fremder nicht fern…

Das komplizierte Miteinander zweier Brüder

Teufels Bruder ist die Geschichte zweier komplizierter Brüder, deren Miteinander nicht minder kompliziert ist. Da der feinfühlige und feinnervige Thomas Mann, der sich zum Schriftsteller berufen fühlt, aber doch anfangs über kleine Formen und eine gewisse Ortientierungslosigkeit nicht hinwegkommt. Da Heinrich, der sich mit seinen Texten schon einen gewissen Ruf erschrieben hat, aber trotzdem mit der Ablehnung des väterlichen Erbes hadert. Aufgerieben zwischen dem Begehren für eine Schauspielerin und einer Scharade gegenüber seines Verleger und dessen Sohn, die ebenso Schauspiel erfordert und dann auch noch die Fürsorge für seinen irrlichternden Bruder – all das zehrt an Heinrichs Nerven.

Wie sich die beiden Brüder mal duellieren, dann wieder aufeinander angewiesen sind, das versteht Lohre trefflich zu schildern. Er lässt sich für seinen Roman gar nicht auf das Himmelfahrtskommando ein, sich einen der hohen Erzähltöne anzuverwandeln, für den die beiden Brüder bekannt sind.

Vielmehr entwickelt er einen eigenen Stil, mit dem er sowohl die rastlose Grand Tour durch Italien als auch Fragen der künstlerischen Selbstfindung und innere Konflikte zu schildern vermag. Großartig etwa die Szene, wenn die Brüder Mann auf Drängen des Richard Wagner-begeisterten Thomas in Rom einer Aufführung der von ihm so hochverehrten Werke des deutschen Komponisten lauschen wollen.

Zwischen Venedig und Neapel

Über die geschilderte Musik und das Konzerterlebnis auf dem überfüllten Platz hinaus treffen hier verschiedene Konflikte und Erzähllinien des Romans aufeinander und verschränken die unterschiedlichen Erzählebenen. Das gelingt Matthias Lohre außerordentlich gut, obgleich die Übersicht im all den erzählerischen Sprüngen von Heinrich zu Thomas Mann, verbunden mit den vielen Stationen der Reise (von Venedig über Palestrina bis in den Untergrund der Sanità in Neapel und zurück), nicht immer ganz leicht zu behalten ist.

Besondere Freude macht es in Teufels Bruder natürlich, die vielen Anspielungen im Werk von Thomas und Heinrich Mann zu entschlüsseln. Von Mann und Hund über den Tod in Venedig bis hin zur möglichen Geburtstunde der Buddenbrooks reicht der anspielungsreiche Bogen, den Lohre unter dem eigentlichen Plot spannt und der in seiner Verknüpfung von fiktiv Erlebtem zu tatsächlichem Werk wirklich interessant ist.

Im großen Gedenkkonzert an die Mann-Brüder und den 100. Geburtstag des epochalen Zauberbergs kommt diesem Roman eine ganz eigene Stimme zu, mit der er sich in der Vielzahl anderer Mann-Hommagen zu behaupten weiß.


  • Matthias Lohre – Teufels Bruder
  • ISBN 978-3-492-07279-3 (Piper)
  • 544 Seiten. Preis: 25,00 €

Bildquelle Titelbild: Library of Congress unter Verwendung https://loc.gov/pictures/resource/ppmsc.06559/

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Wolf Haas – Wackelkontakt

Die Kunst, ein literarisches Möbiusband zu schmieden, sie stellt Wolf Haas in seinem neuen Roman Wackelkontakt eindrücklich unter Beweis. Wer sich vom psychedelischen Äußeren des Buchs nicht abschrecken lässt, der darf spätestens im Inneren dann so manches Mal am eigenen Verstand zweifeln. Denn Haas stürzt die Leserinnen und Leser in ein wildes Durcheinander aus einem im Zeugenschutzprogramm befindlichen Killer und einem Trauerreder mit reparaturbedürftiger Hauselektrik.


Die Zweifel setzen schon nach einigen Seiten ein: ist es wirklich ein Roman von Wolf Haas, den man hier liest? Wo ist er hin, der gestammelte Sound, der Haas vor allem mit seinen Brenner-Romanen bekannt gemacht, originell nur Hilfsbegriff? Auch in seinem letzten Roman Eigentum, der erstmals unter dem Dach des Hanser-Verlags erschien, hatte Haas wieder auf diesen markanten Stil zurückgegriffen, um mit der schnellen, schon fast schlampigen Art und Weise ein Buch zu erschaffen, um damit gegen das Sterben der Mutter des Erzählers anzuerzählen.

Nun also Wackelkontakt – und alles ist anders. Keine angerissenen Sätze, Ellipsen oder andere sprachliche Eigenwilligkeiten. Dafür ein Text, der fast ohne Austriazismen und den so unverkennbaren Haas-Stil auskommt, dafür ein Fließtext, der im wahrsten Worte fließt und mäandert.

Willkommen in Eschers Welt

Wolf Haas - Wackelkontakt (Cover)

Denn Haas erzählt zunächst die Geschichte eines Mannes mit dem sprechenden Namen Escher. Dieser sitzt in seiner Wohnung und wartet auf einen Elektriker. Die Zeit bis zur Ankunft des Elektrikers vertreibt er sich mit der Lektüre eines Buchs über einen jungen Mann namens Elio, der sich als Mafiakiller auf eine Kronzeugenregelung mit dem zuständigen Staatsanwalt eingelassen hat und nun danke eines Zeugenschutzprogramms untertaucht.

Mit seinem neuen Namen Marko Stainer beginnt dieser ein neues Leben -und plötzlich sind wir drin in dessen Geschichte, in die Haas übergangslos wechselt – und später immer wieder zurück. Denn auch der Mafioso liest ein Buch. Und dieses handelt von einem Trauerredner, der in seiner Wohnung sitzt und – man ahnt es schon: auf einen Elektriker wartet.

Es ist ein wirkliches literarisches Möbiusband, welches Wolf Haas hier webt und das an die optischen Täuschungen des niederländischen Künstlers M. C. Escher erinnert. Immer wieder gehen beide Erzählungen ineinander über, agieren die Figuren wechselweise und ganz am Ende sind wir wieder da, wo wir am Anfang schon waren, ohne allzu viel von der wilden Handlung des Buchs vorwegnehmen zu wollen.

Wolf Haas‘ Ausflug in die experimentelle Literatur

Die Erzählanordnung dieses Romans erinnert an andere Klassiker der experimentellen Literatur, allen voran natürlich Italo Calvino und dessen Roman Wenn ein Reisender in der Winternacht. Aber auch der jüngst erschienene Roman von Anthony Burgess wäre als Referenz zu nennen, der ebenso voll an undogmatischen Erzähleinfällen ist, wie es Wackelkontakt ist.

Alles ist ineinander verschachtelt und verschränkt und entwickelt sich auf dem doppelten Spielboden dann auch noch zu einem Mafiathriller, sodass die Hochspannung nicht nur im Stromkasten von Escher zuhause ist, sondern auch noch in einem wilden Ritt endet, in dem ein Aktienpaket eines digitalen Buchhändlers eine nicht unwichtige Rolle spielt.

Über allem bleiben aber immer Zweifel bestehen. Welche Geschichte ist nun die echte? Sind wir eher in der Welt des untergetauchten Mafioso zuhause, der über Escher liest – oder ist Eschers Welt die eigentliche, in der er sich in das Buch über den Mafioso im Zeugenschutz versenkt?

Oder ist es am Ende doch alles nur Trick 17 und Haas dreht uns eine lange Nase? Wackelkontakt lässt Deutungen zu und unterhält durch seine verschlungene Erzählweise hervorragend. Ein Mafiakiller unter Hochspannung, ein Elektriker unter Hochspannung und dazu noch der Trauerredner, der vom passiven Leser zum aktiven Helden der Geschichte wird – aber welcher von beiden denn nun?

Hier wackelt nichts

Mit Wackelkontakt weitet Wolf Haas sein Schreiben merklich und zeigt in der Wahl seiner Erzählmittel, zu welchem unterschiedlichen Mitteleinsatz er fähig ist. Hier nun der ineinander übergehende Fließtext, in dem der Humor, eines der entscheidenden Triebmittel seiner nachtschwarzen Krimis um Simon Brenner, hier nur vereinzelt aufblitzt. Aber es gibt sie, diese Blitze:

Die Wohnung lag im dritten Stock und erzählte ihm nicht viel über den Toten. Außer, dass er sich sogenannte Spots in die Zwischendecke gebaut hatte. Diese Beleuchtungskörper deprimierten Escher. Deckenspots erinnerten ihn an Leute, die Deckenspots hatten. In diesem Fall konnte er es aber verwinden, denn wer will einem Elektriker verbieten, sein Handwerk zu übertreiben.

Wolf Haas – Wackelkontakt, S. 142

Hochspannung in Sachen Komposition und Spannung im Plot, das sind die Merkmal dieses neuen Romans von Wolf Haas, der sich hier als versierter Schriftsteller zeigt, der ein metafiktionales Spiel mit seinen Leserinnen und Lesern spielt. Hier wackelt nichts, hier hat nichts Luft: Wackelkontakt passt und ist ein originelles Leseerlebnis!


  • Wolf Haas – Wackelkontakt
  • ISBN 978-3-446-28272-8 (Hanser)
  • 240 Seiten. Preis: 25,00 €
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Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit

Schicksale am Fuße des Dente del lupo. In ihrem mit dem diesjährigen Premio Strega ausgezeichneten Roman Die zerbrechliche Zeit erzählt Donatella di Pietrantonio von prägenden Erlebnissen auf einem Campingplatz in den Abruzzen, die in einer Mutter durch die Heimkehr ihrer Tochter wieder wachgerufen werden.


Dente del lupo, Wolfszahn, so wirde der Berg in den Abruzzen geheißen, der in Donatello di Pietrantonios Buch alles überragt. Am Fuße des Wolfszahn geheißenen Bergs liegt ein Grundstück, das der Vater seiner Tochter Lucia überschreiben will. Früher befand sich auf dem Grundstück ein Campingplatz, nun aber hat die Natur dort am Berg mit der Rückeroberung des Gebiets begonnen. Längst haben die Schäfer und ihre Herden dem Dente del lupo wieder einen Lebensraum abgetrotzt und beweiden Flächen dort oben. Eine Schärfe besitzt der Berg aber immer noch, wenngleich eher in psychologischer Hinsicht. Denn einst schlugen Ereignisse dort oben Wunden in Lucias Seele, die im Lauf des Romans wieder aufbrechen.

Denn nicht nur, dass ihr Vater ihr das fragliche Grundstück mit den Überresten des Campingplatzes vermachen will. Auch ihre Tochter Amanda ist auch Mailand heimgekehrt, kurz bevor die Corona-Pandemie das ganze öffentliche Leben zum Erliegen brachte.

Rückkehr zum Dente del lupo

Ich habe sie zu viel allein gelassen in der Großstadt. Bei ihrer Rückkehr war sie eine andere. Ich glaubte, sie sei von ihren neuen Freundschaften in Anspruch genommen, aber sie existierten nur in meiner Fantasie.

Nach ihrer Abreise füllte ich meine Tage mit Patienten, suchte in der Arbeit Betäubung. Daheim kam zu der kalten Hälfte des Ehebetts Amandas leeres Zimmer. Sie waren im Abstand von wenigen Monaten gegangen, Vater und Tochter. Mein Mann, unser Kind. Im November habe ich den Heizkörper abgestellt und die Tür des Zimmers, in dem sie aufgewachsen war, geschlossen. Habe mich dem Winter gestellt.

Sie muss frei sein, sagte ich mir, deshalb bestieg ich keinen Zug. Innerlich fühlte ich mich schwach, beschränkte mich auf die Alltagsdinge, mehr wagte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie sag, wie es mir ging. Ich habe die Angst gezähmt, die ich um sie hatte. Ein Ort, den sie sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihr nichts Böses tun.

Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit, S. 65

Langsam versucht Lucia zu ergründen, was Amandas Heimkehr und ihre charakterliche Veränderung verursacht hat. Die Suche nach den auslösenden Momenten fördert dabei auch aus Lucias eigener Jugend Erinnerungen zutage und bringt Dinge zum Vorschein, die vor allem mit dem Campingplatz zu tun haben, auf dem Lucia einst ihre Sommer verbrachte.

Das Leben von Mutter und Tochter

Donatella di Pietrantonio - Die zerbrechliche Zeit (Cover)

In zwei Rückblenden verschränkt di Pietrantonio das gegenwärtige Leben von Mutter und Tochter mit dem Sommer vor vielen Jahren, als ein Vorfall im Dorf für Aufsehen sorgte und der Erinnerungen an Fälle männlicher Gewalt wachruft. Diese Gewalt, sie dauert an und setzt sich wie ein Kontinuum bis zum heutigen Tag fort – und das nicht nur in Italien, sondern auch in unserer Gesellschaft. Liest man Die zerbrechliche Zeit, werden Assoziationen geweckt, etwa jüngst an die grauenvollen Ereignisse, die zwei amerikanischen Touristinnen nahe Schloss Neuschwanstein widerfuhr.

Donatello di Pietrantonios Roman öffnet den Raum für derlei Themen und Gedanken. Es ist ein präziser Roman, in dem die schreibende Kinderzahnärztin Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und verknotet – und langsam wieder entspinnt. Das erfordert ein langsames und genaues Lesen, denn Die zerbrechliche Zeit ist gesättigt von Atmosphäre und Schwebungen, die zwischen den Charakteren und den Zeilen herrschen (übersetzt von Maja Pflug).

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

„Es geht nicht nur um das, was du siehst“. Dieser Satz, den Lucias Vater bei der Begehung des familieneigenen Besitzes auf dem Berg äußert, er lässt sich auch auf Pietrantonios Roman übertragen. Denn die äußere Handlung in der Gegenwart ist alles andere als spektakulär, vielmehr geht es um das Innere, um Seelenlandschaften und die Gefahren, die sich Frauen heute wie einst ausgesetzt sehen.

Filigran und durchdacht werden die Themen von di Pietrantonio in einen genauen Erzählton gekleidet, was mich persönlich in einigen Passagen an das ebenfalls so verdichtete Erzählen Maja Haderlaps erinnerte. Mit Sinn für Verletzlichkeit, Präzision und einem Fokus auf den Auswirkungen von Gewalt erzählt Die zerbrechliche Zeit von einer Mutter und Tochter und arbeitet Erinnerungen und kontinuierliche Gewalt als Themen des Romans gekonnt auf.

Die Auszeichnung mit dem Premio Strega ist mehr als gerechtfertigt, vor allem in einer Zeit, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung nicht nur in Italien sondern weltweit in Gefahr geraten und die Gesellschaft in alte, patriarchale Rollenmuster zurückzufallen droht. Hier braucht es Romane wie den von Donatella di Pietrantonio, um aufzurütteln, zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Dass die Autorin dabei nicht nur mit der Relevanz ihres Themas sondern auch der literarischen Ausgestaltung überzeugt, macht Die zerbrechliche Zeit noch einmal wertvoller!


  • Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit
  • Aus dem Italienischen von Maja Pflug
  • ISBN 978-3-95614-621-3 (Kunstmann)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gian Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos

Es ist ein Plan, der an Absurdität kaum zu überbieten ist. Der junge Francesco „Cesco“ Magetti soll im beschaulichen Asti nichts weniger als eine Karte zeichnen, die Die Eisenbahnen Mexikos verzeichnet – auf Befehl von ganz oben. Und so macht sich der junge Mann darin, inmitten der Wirren des Zweiten Weltkriegs eine solche gewünschte Karte zu zeichnen, ohne jemals in Mexiko gewesen zu sein. Gian Marco Griffi macht aus dieser Ausgangslage einen Roman, der das Absurde, aber auch das Brutale und Gewalttätige in Zeiten des Faschismus grell ausleuchtet.


Asti ist eine Stadt im Norden Italiens, die man hierzulande sicherlich am ehesten für ihren Rot- und vor allem für ihren Schaumwein kennt. Im Piemont gelegen ist die Stadt nicht nur der Wohnort von Gian Marco Griffi – auch seinen Roman Die Eisenbahnen Mexikos siedelt er in dieser Stadt an.

Man tritt Asti nicht zu nahe, wenn man die Stadt nicht unbedingt als den Nabel der Welt bezeichnet. Regional gewiss von Bedeutung, weltpolitisch aber eher zu vernachlässigen ist die Stadt, die heute gut 73.000 Einwohner zählt. Bei Gian Marco Griffi konzentriert sich das ganze Schicksal allerdings auf jenen Ort, an dem der junge Cesco Magetti im Jahr 1944 beim Kommando der Republikanischen Nationalgarde der Eisenbahnen seinen Dienst tut.

Zahnweh und Zweiter Weltkrieg

Die Republik liegt in Schutt und Asche, die Nazis haben das Land besetzt, die Männer wurden zum Militärdienst eingezogen und um Cesco herum lösen sich alle Gewissheiten auf. Das ist für den jungen Mann dabei noch nicht einmal das Schlimmste. Denn zu allem Überfluss peinigt ihn Zahnweh, das ihn den Großteil des Romans über beschäftigen wird.

Es war eine üble Zeit. Ennio war desertiert, Luigi Bocca hatten sie versehentlich ins Ohrläppchen geschossen, Lehrer Pozzi hatte drei Finger seiner rechten Hand verloren und fluchte jedes Mal, wenn er zum Schreiben mit der linken herumfuhrwerken musste. Der König hatte Reißaus genommen, in den Zügen kamen Fahrgäste abhanden, der Barbier Gianni hatte ebenfalls Reißaus genommen, war auf irgendeinen Hügel gestiegen, um die Republik zu bekriegen, und im Viertel liefen alle mit ungemachtem Bart herum. Auch Pietro war desertiert, das Kino Gran Cinema Vittoria war geschlossen worden, mein Zahnarzt Grandi saß wegen Verrats im Gefängnis Le Nuove in Turin, und ich hatte seit drei Tagen Zahnweh.

Gian Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos, S. 9

Eigentlich aber sind die Zahnschmerzen das kleinste Problem des Nationalgardisten. Denn der bedauernswerte Magetti ist das Ende einer Befehlskette, die ihren Anfang in den obersten Kreisen der nationalsozialistischen Führung nahm. Schwer in die Defensive geraten meinen die Nazis nun aufgrund einer der vielen kuriosen und absurden Unwahrscheinlichkeiten in diesem Buch, das ausgerechnet im von Italien maximalweit entfernten Mexiko eine Wunderwaffe liegen soll. Ein geheimnisvoller Ort birgt sie, auf Karten findet er sich nicht. Ein Problem, das Cesco Magetti für die Machthaber lösen soll.

Eine Karte für die Eisenbahnen Mexikos

Gian Marco Griffi - Die Eisenbahnen Mexikos (Cover)

Die Anfertigung einer Karte, die diesen Ort ebenso wie die Eisenbahnen Mexikos beschreibt, endet bei ihm in so unmexikanischen Städtchen Asti. Als letzter Empfehlsempfänger in der Delegationskette macht er sich nun daran. die gewünschte Karte zu zeichnen. Über die Stadtgrenzen von Asti ist er allerdings nie wirklich hinausgekommen. Südamerikanischen Boden hat er erst recht nie betreten. Und so versucht er nun händeringend in der Provinz das zu beschaffen, was seine Vorgesetzten von ihm erwarten. Die Jagd nach hilfreichen Hinweisen gerät dabei aber zu einer Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten, die ihn zu Eisenbahndepots, Buchsammlern, in die Bibliothek und auf den Friedhof von San Rocco führt.

Dies bleibt beileibe nicht die einzige Verkettung von Ungemach und Schicksal. Die Eisenbahnen Mexikos ist voll von derlei wechselweise komischen und tragischen Verstrickungen, die die Figuren umfangen. Egal ob die Hintergründe für den absurden Plan der mexikanischen Eisenbahnkarte, die Jagd nach einem hilfreichen Buch oder die Befehlsketten der Nationalsozialisten – Gian Marco Griffi spürt mit viel Platz, Zeit und Detailfreude diesen Ketten nach.

Ausführlich erzählt er vom Wahnsinn, der mit dem Krieg einhergeht. Neben Himmelfahrtskommandos wie Cesco Auftrag als Kartograph sind es auch die Nazis, deren Gebaren der Roman auf komische, aber keineswegs lustige Art und Weise beschreibt, Immer schimmert durch alle Absurditäten, Fantastik und komische Momente auch die Brutalität des Kriegs durch. Egal ob in einer besondere Nazi-Entwicklungsabteilung in einer abgelegenen Villa im Elbtal oder dem Disput zweier golfspielender Soldaten auf dem Golfplatz.

Eine Mischung aus Absurdität, Verzweiflung, Komik, Gewalt und Slapstick

Es ist diese eigenwillige Mischung aus Absurdität, Komik, Verzweiflung, Gewalt und Slapstick, die Die Eisenbahnen Mexikos kennzeichnet. Immer wieder nimmt der Roman neue erzählerische Anläufe, nimmt unterschiedliche Perspektiven ein und lässt Originale wie einen Kornett spielenden Totengräber ihren Auftritt.

Ein stringentes und glaubwürdiges Leseerlebnis ist dieser 2023 für den Premio Strega nominierter Roman nicht immer. Vielmehr sind es die Grenzbereiche von Absurditäten und Wahnsinn, die Gian Marco Griffi hier in seinem fast barocken und sprachlich höchst vielfältigen (und von Verena von Koskull hervorragend aus dem Italienischen übersetzten) Roman ausführlich erkundet. Halb Odysseus, halb Sisyphos schickt er seinen zahnschmerzgeplagten Helden Cesco Magetti auf eine Reise, die man so schnell nicht vergisst.


  • Francesco Marco Griffi – Die Eisenbahnen Mexikos
  • Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
  • ISBN 978-3-546-10084-7 (Claassen)
  • 800 Seiten. Preis: 36,00 €
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Maria Messina – Das Haus in der Gasse

In dieses Haus möchte man wirklich nicht einziehen. Mit großem Geschick für psychologische Schwingungen und Konflikte inszeniert Maria Messina in Das Haus in der Gasse das problembehaftete Zusammenwohnen höchst unterschiedlicher Menschen in einem düsteren Haus irgendwo in einer sizilianischen Stadt. Es ist nichts weniger als die Wiederentdeckung einer vergessenen italienischen Autorin!


Sie zählt zu den vergessenen Autorinnen der italienischen Literaturgeschichte: Maria Messina. Früh konnte sie den Kritiker Giuseppe Antonio Borgese mit ihren Erzählungen begeistern, viel Ruhm war ihr aber nach den schriftstellerischen Erfolgen zeit ihres Lebens nicht beschert. Nicht einmal biografische Eckdaten oder Details ihres Lebens haben sich erhalten, wie Christiane Pöhlmann in ihrem kenntnisreichen Nachwort zu Das Haus in der Gasse ausführt.

So war lange Zeit der funktionale 1. Januar des Jahres 1944 als Sterbedatum von Marina Messina festgelegt, ehe sich nach einem Fund der Sterbeurkunde der 19. Januar als wirkliches Todesdatum von Messina datieren ließ. Kaum ein Fitzelchen von Information über die Schriftstellerin hatte Bestand. Das im toskanischen Pistoia aufbewahrte Archiv der Schriftstellerin war durch einer Bombardierung zerstört worden. Und so verlieren sich die Spuren Maria Messinas in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, der zum Zeitpunkt ihres Todes schon längst Chaos und auflösenden Strukturen über das ganze Land gebracht hatte. Nicht einmal ein gravierter Grabstein erinnerte lange Zeit an die Autorin aus dem Süden Italiens.

Die vergessene Maria Messina

Maria Messina - Das Haus in der Gasse

Erst der ebenfalls in Sizilien geborene Autor Leonardo Sciascia sorgte für eine Wiederentdeckung der Autorin – die allerdings auch nicht von langer Dauer war. Auch die Welle der (Wieder)Entdeckung der feministischen Literatur in Italien sorgte allenfalls für ein kurzer Strohfeuer, das die Werke Maria Messinas für die die damaligen Leser*innen zu entfachen wussten. Denn nicht nur, dass Messina aufgrund ihrer kaum zu greifenden Biografie wenig Interesse weckte und schon gar nicht als markantes Vorbild taugte – auch ihr Werk selbst entzog sich griffigen Schlagwörtern und Parolen, die der damalige Zeitgeist bevorzugte, wie Pöhlmann im Nachwort ausführt.

Denn bewusste Botschaften, klare Einordnungen und eindeutige Figurenzeichnungen gibt es in Das Haus der Gasse nicht. Vielmehr erweist sich Maria Messina als Meisterin für Psychologie in ihren Figuren und erzählt eine Geschichte, die weniger in einer konkreten Zeit und Ort verhaftet ist, als vielmehr das Allgemeine im menschlichen Zusammenleben herausarbeitet und in den Mittelpunkt stellt.

Das Zusammenleben im Haus in der Gasse

Schauplatz des 1921 entstandenen Romans ist das titelgebende Haus in der Gasse, irgendwo in einer italienischen Stadt nahe des Meeres. Hier lebt Don Lucio, ein von seiner Familie gefürchteter Pedant. Ob Pantoffel, Zitronenwasser, Pfeife zum Rauchen oder die Massage seines Kopfes – alles muss zur rechten Zeit erfolgen und darf nicht vom gewohnten Gang abweichen.

Einst ehelichte Don Lucio Antonietta, deren Vater sich mit Schulden überhäuft hatte, die er Don Lucio als Gesandten des Barons, zurückerstatten musste. Aus diesem Schuldverhältnis ergab sich ein – natürlich – regelmäßiger Kontakt mit Don Lucio, dem auch bald der Antrag für die junge Antonietta erwuchs. Schon kurz nach dem Auszug Antonietta brach das restliche familiäre Gefüge zuhause zusammen. Der Vater starb, die Familie verstreute sich in alle Winde, nur die jüngere Nicola brauchte Obdach, das sie ebenfalls im Haus in der Gasse fand.

Immer und ewig einander gleich und bedrückend verstrichen die Stunden im Haus in der Gasse.

Maria Messina – Das Haus in der Gasse, S. 149

Und so verstricken sich im Laufe des Romans nun die Figuren gegenseitig in Neid, Rivalität und Begehren. In der stets untergründig bedrohlichen und angstgesättigten Atmosphäre des Hauses wachsen die Kinder von Don Lucio und Antonietta heran. Nicola übernimmt ebenfalls Betreuung und Hausarbeiten und bewegt sich im Spannungsfeld der Eheleute, während Don Lucio sie begehrt, im Gegensatz zu seinen Gefühlen für seine Schwägerin seine Kinder aber mit Distanz und Härte erzieht.

Neid, Rivalität, Enge und Kälte

Eindrücklich schildert Maria Messina das komplizierte Miteinander aus Anziehung und Abstoßung, Kälte und aufflackernder Liebe. Mit viel Gespür für psychologische Schwingungen, Rivalität und Verbrüderung beziehungsweise Verschwesterung inszeniert sie den Alltag der Familie, der sich wenig spektakulär ausnimmt, dafür umso eindringlicher die weiblichen Perspektiven im Haushalt unter einem despotischen Hausherren schildert.

Man verlässt das Haus so gut wie nie, Spaziergänge oder Ausflüge ans nahegelegene Meer gibt es nicht, sie sind Don Lucio verhasst. Alles was Freude bringt, ist in diesem Haushalt verpönt. Liebe und Wärme findet sich so gut wie gar nicht, nur die Enge umgibt Messinas Figuren. Folglich wirbeln die Gedanken Nicolas auch durcheinander, als ihre Schwester Don Lucio ein Mädchen gebärt:

Warum musste es in diesem traurigen Haus zur Welt kommen?

Aber als sie die rosigen, fest geschlossenen Fäustchen betrachtete, bekam sie auch mit dem Eindringling Mitleid.

Wenn es nur ein Junge wäre, sagte sie sich. Sein Los wäre einfacher. Frauen sind zum Dienen und zum Leiden geboren. Zu nichts anderem.

Maria Messina – Das Haus am Ende der Gasse, S. 76

Die Selbstaufgabe, Kasteiung und Verleugnung jeglicher eigenen Ansprüche oder Entfaltung von Frauen unter einer patriarchalen Herrschaft, sie nimmt Maria Messina in diesem Roman so gnadenlos und zeitlos in den Blick, dass sich Das Haus in der Gasse auch in unseren Tagen frei von Staub und Sentiment liest.

Hoffentlich eine dauerhafte Entdeckung

Dass Maria Messina nun in einer dritten Welle der Wiederentdeckung endlich der verdiente Ruhm und postume Bekanntschaft zukommt, das bleibt zu hoffen, schreibt doch hier eine Autorin mit genauem Blick für die Anhängigkeiten von Frauen und dem komplizierten Miteinander von Menschen, grundiert von tiefgreifendem psychologischen Gespür für Zwischenmenschliches.

Zumindest der herausgebende Verlag der Friedenauer Presse unter Christian Döring und Christiane Pöhlmann, die nicht nur als Autorin des Nachworts fungiert, sondern auch die vorliegende, sehr präzisen Übersetzung durch Ute Lipka durchgesehen hat, haben ihren Verdienst zweifelsohne erbracht.

Jetzt ist es an den Leserinnen und Lesern, diese Autorin neu zu entdecken. Im Jahr, in dem Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, stehen die Zeichen dafür gut – es wäre allen Beteiligten von Herzen zu wünschen!

Ein Hinweis sei an dieser Stelle auch noch zum Beitrag der Kulturzeit gegeben, in der sich die Literaturkritikerin Ursula März dem Werk nähert und Hinweise gibt, warum Maria Messina so gründlich vergessen wurde.


  • Maria Messina – Das Haus in der Gasse
  • Aus dem Italienischen von Ute Lipka
  • Durchgesehen und mit einem Nachwort versehen von Christiane Pöhlmann
  • ISBN 978-3-7518-8017-6 (Friedenauer Presse)
  • 210 Seiten. Preis: 22,00 €
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