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Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens

Italienisches Tagebuch 1939/40

Beginnt er oder beginnt er nicht? In Iris Origos Tagebuch der Jahre 1939 und 1940 lässt sich die gespannte Lage kurz vor Kriegseintritt und die Konsequenzen nach der Mobilmachung aus Sicht der italienischen Landbevölkerung nachspüren. Nun hat der Berenberg-Verlag das Buch in der Übersetzung von Anne Emmert unter dem Titel Eine seltsame Zeit des Wartens auf Deutsch publiziert. Lektüre, die die Bedeutung des Kriegs unmittelbar erfahrbar macht.


Schreibe ich in der Einleitung von der Sicht der italienischen Landbevölkerung, dann ist das nur zum Teil richtig. Denn die Tagebuchschreiberin Iris Origo war zwar italienische Staatsangehörige, stammte aber ursprünglich aus Großbritannien und war mit einem begüterten Italiener verheiratet. Gemeinsam investierten sie ihre in die Ehe eingebrachten finanziellen Mittel in den Erwerb eines Landguts namens La Foce. Dieses in der Südtoskana gelegene Gut zeichnete sich vor allem durch die karge Umgebung aus, in der es sich befand. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung wollten die Origos das Land wieder urbar machen.

Aus diesem Hintergrund heraus erklärt sich auch die Sympathie, die Iris Origo anfänglich noch für den Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hegte. Dieser trieb unter dem Motto „Kampf für den Weizen“ die agrikulturelle Rückeroberung des kargen Landes voran. So profitierten auch die Origos von der Zuwendung der faschistischen Partei. Im Lauf der Zeit ist allerdings ein Wandel in der Wahrnehmung und Einstellung von Iris Origo feststellbar. Denn je näher der Krieg rückt, umso konkreter wird auch die Gefahr und die Bedrohung, was Origo zum Umdenken bewegt. Auch die Freundschaft mit einer antifaschistischen Familie sorgt für eine zunehmende Abkehr ihrer ursprünglichen Position.

Krieg zieht auf

Ihr Tagebuch widmet sich aus Sicht der Landbevölkerung dem aufkeimenden Zweiten Weltkrieg. Als begüterte, gebildete Frau mit besten Verbindungen hat sie dabei eine durchaus kosmopolitische Sicht auf die Dinge, die sich nicht nur in einer reinen Nabelschau der italienischen Verhältnisse erschöpft. Denn ihr Schwiegervater war nicht nur Bildhauer, sondern Freund des Dichter Gabriele D’Annunzio, der dem Faschismus unter Mussolini entscheidend den Boden bereitete. Ihr Patenonkel ist der US-amerikanische Botschafter in Rom, stets verkehrt Iris Origo unter Mächtigen der Republik.

Iris Origo - Eine seltsame Zeit des Wartens (Cover)

Insofern ist ihr Blick ein vielschichtiger. Sie erzählt von den Spannungen, die sich langsam auch unter der Bevölkerung breitmachen. Die Radioansprachen, die sich verdichtenden Zeichen, die auf Krieg stehen. Anschließend der Einmarsch Hitlers in Polen, der zum Auslöser des Zweiten Weltkriegs wird. Der Durchbruch an der Maginot-Linie, der Rückzu der Alliierten und die Eroberung Belgiens und Frankreichs, all diese zeitgeschichtlichen Themen bilden sich auch in Origos Eine seltsame Zeit des Wartens ab.

Dabei legt das Tagebuch davon Zeugnis ab, wie zwei Herzen in Origos Brust schlagen. Während ihr aktuelles Land Italien langsam aber sicher dem Kriegsbeginn entgegenschreitet oder taumelt, ist ihr Kopf auch stets bei den Entwicklungen in ihrem Heimatland England. Die aufkeimende anti-englische Stimmung, die verzweifelten Versuche der Diplomaten, den Krieg doch noch abzuwenden und die landläufige Meinung und Ressentiments der Landbevölkerung, ihr Tagebuch ist ganz nah dran an den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Der genaue Blick der Iris Origo

Origo erzählt von Presse, Propaganda und der großen Politik, die sich doch noch Hoffnung auf ein glimpfliches Ende des Konflikts macht, genauso von den expansionistischen Bestrebungen Deutschlands und dem sich verstärkenden Antisemtismus, der auf den Straßen offenbar wird. Aber auch die Vorzeichen des Kriegs im Privaten sind in ihrem Tagebuch immer wieder Thema.

Sie weiß aus erster Hand zu berichten, wie die Anzeichen des Kriegs nicht nur auf höchster politischer Ebene mehren, auch im letzten Winkel der Südtoskana liegt etwas in der Luft. So erweist sich die lange geplante Einfuhr eines Traktors, den Antonio für La Foce aus den USA importieren möchte, plötzlich als nicht zu überwindendes Hindernis. Auch sind es kleine Szenen wie die Notiz am 15. Mai, die einen Eindruck von der Geschwindigkeit und Macht jener Lawine gibt, die über der Welt niedergeht und die Menschen bis ins Innterste erschüttert.

15. Mai

Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens, S. 93

Es ist vielmehr Welthaltiges und dezidiert Politisches, das Iris Origo in ihren Tagebüchern der Jahre 1939 und 1940 umtreibt, denn persönliche Einblicke. So handelt sie nahezu im Vorbeigehen die Geburt ihres zweiten Kindes ab, erlaubt sich keinen Raum für Sentimentalitäten und erweist sich als genaue Beobachterin mit wachem Blick und offenen Ohren, die alle Schwingungen von den Regierungspalästen bis zu den Ackerschollen aufnimmt und beschreibt.

Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis

Zwei (in manchen Teilen fast etwas redundanten) Begleittexte in Form eines Nachworts von Iris Origos Enkelin Katia Lysy sowie einem Vorwort der Herausgeberin Lucy Hughes-Hallett begleiten das Werk, in dem auch die Übersetzerin Anne Emmert immer wieder hilreiche Verweise zu auftretenden Personen oder Ausrufen einfügt.

Hier lässt sich unmittelbar erlesen und erfahren, wie es gewesen sein muss, als plötzlich der Krieg vor der Tür stand und der ganze Kontinent in den Abgrund „schlafwandelte“, wie es Origo an einer Stelle formuliert. Dem Berenberg-Verlag gelingt hiermit die Entdeckung eines Werks der Zeitgeschichte, dessen Verfasserin mit feinem Sensorium auf die Druckunterschiede auf dem Kontinent reagiert. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis und ein Tagebuch, das besonders durch die kleinen und ruhigen Momente besticht

So schlicht wie nahegehend ihr Befund vom 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsbeginn:

Nach wie vor keine neuen Nachrichten, daher fuhren wir gestern Abend aufs Land zurück. Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens. S. 55

  • Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-949203-07-7 (Berenberg)
  • 136 Seiten. Preis: 22,00 €
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Eugen Ruge – Pompeji

Redner, Strippenzieher, Machthungrige – mit seinem neuen Werk Pompeji legt Eugen Ruge einen historischen Roman vor, der sehr deutlich auf die Gegenwart zielt und auf unseren Umgang mit nahenden Katastrophen und auf rhetorisches Blendwerk blickt.


Wobei, ist das wirklich ein historische Roman? Eigentlich nicht, denn das, was Eugen Ruge in Pompeji verhandelt, das ist in der Wahl des Gegenstandes und der Erzählmittel so gegenwärtig und aktuell, dass man auch vonseiten des dtv-Verlags auf eine Labelung als historischer Roman verzichtet hat und stattdessen einfach die Zuschreibung des Romans auf das eruptive Cover gesetzt hat.

Eugen Ruge - Pompeji (Cover)

Im Gegensatz zum englischen Bestsellerautor Robert Harris, der im Jahr 2004 den Vulkanausbruch von Pompeji in seinem gleichnamigen Roman verarbeitete, ist Ruge Werk deutlich mehr als eine Nacherzählung jener damaligen Ereignisse, die Harris einst in seinem Roman darbot. In dessen acht Tage umfassender Schilderung stützte sich der britische Autor auf einen Krimiplot rund um eine Verschwörung am Fuße des Vesuv, um mit den Mitteln des Spannungsromans das bekannte historische Ereignis zu garnieren.

Ruge verzichtet auf solche erzählerischen Hilfsmittel. Er interessiert sich mehr für Machtpolitik, für Lobbyarbeit und die Strategien zur Verdrängung unangenehmer Erkenntnisse, womit Pompeji viele Anknüpfungspunkte zur Gegenwart aufweist. Allen voran liest sich sein Buch wie ein Kommentar auf die sich abzeichnende Klimakatastrophe, auch wenn es im Buch die Erkenntnis eines aktiven Vulkans ist, die statt der heutigen Erkenntnisse über den notwendigen Wandel unseres Lebens verdrängt wird.

Interesse am politischen Pompeji und den Mechanismen der öffentlichen Meinung

Konzentrierte sich der Handlungsrahmen bei Robert Harris damals auf das Ausbruchsjahr 79 nach Christus, fasst Eugen Zeit und Material deutlich weiter. Sein Interesse gilt dem Leben dort in Pompeji vor der Katastrophe. Schon einmal war die Stadt einige Jahre zuvor von einem schweren Beben erschüttert worden. Doch die Bequemlichkeit der Menschen hat rasch für eine Verdrängung der damaligen Katastrophe gesorgt. Schon längst hat man wieder zu einem Alltag gefunden, den Ruge in seiner Fantasie schildert. Pompeji alias Colonia Cornelia Veneria als Ort der Politik, als Forum der öffentlichen Meinungen, das ist es, was ihn im vorliegenden Werk beschäftigt.

Dies ist der wahre Bericht vom Untergang Pompejis und seiner Bewohner. Dies ist die Geschichte des Vulkanvereins von seinen chaotischen Anfängen bis zu dem Tag, da er sich zu Tode feierte. Aber vor allem ist dies die Geschichte seines Gründers oder jedenfalls des Mannes, der sich dafür hielt. Es ist die Geschichte des vielbewunderten, vielgeliebten, aber auch vielgehassten, des unglaublich schlauen, aber vielleicht auch ganz mittelmäßigen Bürgers Jowna alias Josephus alias Josse.

Eugen Ruge – Pompeji, S. 11

Jener Josse steht im Mittelpunkt des Romans. Eigentlich stammt er aus niederem Geschlecht, ist Sohn eines aus Pannonien geflohenen Metzgers, der sich nun in Kampanien niedergelassen hat. Dort lebt er zusammen mit seiner Frau Jadwiga und dem kleinen Sohn in ärmlichen Umständen.

Vom Sohn eines Metzgers zum Bewerber um das Kapitol

Seinen Sohn hat der Metzger als Zeichen der Assimilierung und der Bewunderung des römischen Lebensstils dort in Pompeji auf den Namen Josephus ins Register eintragen lassen. Später wird daraus Josse. Ein Muster für den Umgang mit der eigenen Identität und Legende, der später noch viele weitere Beispiele folgen sollen.

Jener „Josse“ Josephus begreift Pompeji als Spielfeld, das zum gesellschaftlichen Aufstieg und den kreativen Umgang mit der eigenen Identität einlädt. So schart er eine Gruppe junger Taugenichtse um sich, verbringt die Tage zwischen Körperertüchtigung und Debatten.

Erst der Auftritt eines griechischen Sachverständigen wird zum Wendepunkt in Josses bislang recht ereignislosem Leben. Dieser hält einen Vortrag im sogenannten Vogelschutzverein, den Josse und seine Getreuen eigentlich nur der Aussicht auf die Anwesenheit von Frauen wegen besuchten. Doch die im Vortrag geäußerten Erkenntnisse des Griechen, man lebe in Pompeji auf einem Vulkan, fasst Josse trotz fehlender rhetorischer Ausbildung kurz und prägnant zusammen, sodass der junge Mann dort das erste Mal von sich reden macht.

In der Folge wird er weitere Reden halten, wird unter die Fittiche eines Rhetoriktrainers genommen, macht die Bekanntschaft mit Aufsteigern in Pompeji, wird eine Kolonie am Meer gründen, für die Abkehr von der Stadt und ein sicheres Leben in seiner Kolonie werben, um nach der Bekanntschaft mit einer höherstehenden Pompejianerin schließlich die genau umgekehrte Botschaft zu verkünden und mithilfe seines von Unterstützern finanzierten neuen Vulkanvereins für ein Leben mit dem Vulkan werben.

Der Aufstieg von Josse in Pompeji

Eugen Ruge zeigt in seinem Werk einen Aufsteiger, der teils aus günstigen Umständen, teils aus eigenem Vermögen und teils aus eigenem Unvermögen immer höher in die pompejianeische Gesellschaft aufsteigt. Mit rhetorischem Geschick und viel Blendwerk macht er von sich reden, stachelt Menschen an und wird wiederum von der Machtelite als Werkzeug benutzt.

Damit knüpft Eugen Ruge ein Stück weit an Werke wie Bertolt Brechts Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui an. Zugleich beschreibt er auch Mechaniken von Demagogen und Verführern, die in Sachen eigener Standpunkte eine erstaunliche Wendigkeit und Ungreifbarkeit an den Tag legen. Und nicht zuletzt beschreibt Pompeji auch die politischen Versuche, aus einer sich abzeichnenden Katastrophe politisches Kapital zu schlagen.

So porträtiert Eugen Ruge Josse als Aufstieger, der es schließlich bis zum ernsthaften Bewerber für das Kapitol schafft, nachdem seine Getreuen in einer Schmutzkampagne andere Kandidaten aus dem Rennen geschlagen haben. In Pompeji ist es eben nicht nur der Vulkan, der Dreck in die Luft schleudert. Dirty Campaigning, Super-PACS – Begriffe, die man (noch) aus dem US-amerikanischen Wahlkampf rund ums Kapitol kennt, Ruge zeigt sie in seinem Roman schon als Mittel des antiken Kaitolwahlkampfs. Er zeigt Josse als Profiteur der Krise, die er selbst fleißig befeuert, um an die Macht zu gelangen.

Moderne literarische Gestaltungsmittel

Auch die literarischen Gestaltungsmittel des Buchpreisträgers sind doch eher Mittel von heute. Da gibt es Invektive zu lesen, die wenig römisch, dafür sehr zeitgemäß sind. Im Wahlkampfstress um das Kapitol muss Josses Geldgeberin und Chefstrategin einmal feststellen, dass ihr Besitz um ganze vier Prozent gesunken ist, obschon die Prozentrechnung erst im 15. Jahrhundert und die Betriebswirtschaftslehre noch einmal deutlich später erfunden wurde. Josse predigt, man müsse lernen „mit dem Vulkan zu leben“.

Das erinnert in seiner Inszenierung von historischem Stoff mithilfe von moderner Mittel und klarer Brüche in Sachen historischer Geschlossenheit stark an Regiearbeiten etwa von Baz Luhrman.

Das kommentierende und erzählende Wir führt die Lesenden immer wieder an der Hand, blendet sich aus Gesprächen aus, rafft Erkenntnisse und Handlungen zusammen, nimmt Vorausschauen vor und leitet quecksilbrig durch die Ereignisse.

Fazit

So ist Pompeji eine große literarische Freude. Mehr Don’t look up denn historische Nacherzählung, auch wenn Ruge im Nachwort versichert, die historischen Umstände und intellektuellen Bewegungen sehr akkurat studiert zu haben.

Hier wagt ein Autor, einen historischen Stoff auf seine Gegenwärtigkeit abzuklopfen, mit den literarischen Möglichkeiten zu spielen und aus der Vergangenheit auf das Jetzt zu blicken. Mit großem Gespür für politische Manipulationstechniken, rhetorische Nebelkerzen und die Skrupellosigkeit von Machteliten, der der Ruges Aufstieger Josse hier begierig nacheifert ist das ein hervorragender und themensatter Roman geworden, den man nur loben kann!


  • Eugen Ruge – Pompeji
  • ISBN 978-3-423-44177-3 (dtv)
  • 429 Seiten. Preis: 21,99 €
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Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß

Ich trinke einen Schluck Seewasser und muss grinsen: Es ist süß, es ist zuckersüß, dieses Wasser, dieser Sumpf, es hat den Geschmack von Kirschen, von Clementinenmarmelade, von Marshmallows, das Wasser des Sees ist immer süß, brülle ich aus Leibeskräften.

Und noch einmal: Das Wasser des Sees ist immer süß.

Brülle ich aus Leibeskräften.

Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß, S. 245

Wer hat hier recht? Der Buchtitel oder die Erzählerin Gaia? Nach der Lektüre von Giulia Caminitos neuem Roman muss man konstatieren, dass vom impulsiven, dopamingesättigten Ausruf der Heldin am Ende wenig bleibt. Denn das Wasser ist hier wirklich nicht süß, allenfalls ist es recht arsenhaltig.

Armut und Enge

Dabei ist das Wasser zunächst noch völlig abwesend. Vielmehr ist es die Armut und Enge, die das Leben von Gaias Familie bestimmt. Die Mutter Antonia, der nach einem Sturz von einem Arbeitsgerüst querschnittsgelähmte Vater, der Bruder Mariano sowie die jüngeren Zwillinge und Gaia, sie leben in ärmlichsten Verhältnissen auf zwanzig Quadratmetern einer dunklen und illegalerweise besetzten Wohnung im Untergeschoss. Jeder brüllt jeden an dort in der Via Monterotto Nr. 64, das Leben auf engstem Raum gleicht einem emotionalen Pulverfass.

Doch nach vehementem Protest der Mutter und einer Absetzung der alten Sozialdienstchefin bessert sich die Lage etwas, als die Familie in eine richtige Sozialwohnung in Rom ziehen darf. Doch auch hier bleibt die Familie aufgrund ihrer Klasse und der bisweilen hysterischen Umgangsformen sozial isoliert. Da hilft auch der vehemente Protest der Familie mit drastischen Aktionen nur wenig – ihrer Klasse können sie nicht entkommen.

Giulia Caminito - Das Wasser des Sees ist niemals süß (Cover)

Und so drillt die Mutter Antonia Gaia hartnäckig für schulische Erfolge. Während die Mutter in den Häusern bessergestellter Familien putzt, forciert sie das Lesen von Büchern aus der Bibliothek und drängt auf schulische Erfolge.

Doch auch hier bleibt Gaia isoliert, da immer und immer wieder ihre eigene Herkunft Thema ist, sie aufgrund der ärmlichen Kleidung und Verhaltensweisen oftmals geschnitten wird und so beständig Ausgrenzung erfährt.

Ein weiterer Umzug bringt dann endlich etwas Besserung – und auch der See ist nun in Reichweite. Denn die Familie tauscht ihre Wohnung am Corso Trieste mit der Wohnung einer anderen Dame, der eine Sozialwohnung im Hinterland von Rom zugewiesen wurde, nämlich in Anguillara Sabazia. Das Örtchen befindet sich im Nordosten Roms und grenzt an den Lago di Bracciano. Dort lernt Gaia neue Freunde kennen, verliebt sich, macht unter großen Anstrengungen einen Schulabschluss.

Doch euphoriegesättigte Momente wie der eingangs zitierte bleiben eine Ausnahme. Es kommt zum Selbstmord einer Freundin, andere Todesfälle folgen. Und wirklich angekommen ist die Familie weder seelisch noch sozial so richtig dort am See, sodass auch Anguillara nicht der Endpunkt des vielbewegten Lebens von Gaias Familie sein wird.

Sozialrealistisches Erzählen

Das Wasser des Sees ist niemals süß ordnet sich ein in die Welle von sozialrealistischem Erzählen ein, das im Nobelpreis für Annie Ernaux oder hierzulande im fabelhaften Roman von Daniela Dröscher dieses Jahr seinen bisherigen Höhepunkt fand.

Ähnlich wie zuletzt auch Christian Baron zeigt Giulia Caminito klar, wie unsere Herkunft und materielle Armut das ganze folgende Leben prägen und wie man seiner Klasse noch nicht einmal durch Orientierung am Bildungsideal wirklich entkommen kann.

In diesem Sinne ist Das Wasser des Sees ist niemals süß ein hochpolitischer Roman, bei dem auch wie schon in Caminitos Debüt Ein Tag wird kommen der Anarchismus eine wichtige Rolle spielt. Hier ist es Gaias Bruder Mariano, der sich schon bald von seiner Familie abwendet, stammt er doch von einem anderen Vater und wird zur Großmutter nach Ostia abgeschoben, wo er sich radikalisiert und von der Familie abwendet. Denn auch er hat für sich erkannt, dass die Klasse ein Thema ist, dem man radikal entgegentreten muss und bei dem die herkömmlichen politischen Programme für ihn keine große Hilfe sind.

Auf den Spuren Elena Ferrantes

Mit ihrem Roman wandelt Giulia Caminito auch klar auf den Spuren Elena Ferrantes, spielen doch beide Romane im proletarischen Milieu und zeigen junge Frauen bei ihrer Entwicklung in der italienischen Gesellschaft, bei der sie immer wieder an Grenzen stoßen. Nicht ganz so episch ausufernd wie Ferrante aber dennoch auch so präzise zeigt Caminito innerfamiliäre Selbstzerfleischung, die Hilflosigkeit ihrer Heldin, der Vorbilder fehlen, und den Versuch, dem eigenen Milieu zu entkommen – und die Ausweglosigkeit, die ein solches Unterfangen bedeutet.

Damit verhaftet sich Das Wasser des Sees ist niemals süß in der gegenwärtigen Tradition von klassistischer Aufklärungsliteratur, orientiert sich aber auch an der Gattung des naturalistischen Romans.

Dieser große Realismus bezüglich der sozialen Herkunft von Gaias Familie und der mangelnden Aufstiegschancen machen aus dem Buch ab und an auch eine schwer verdauliche, düstere und gravitätische Angelegenheit, die schwer an ihrer eigenen Bedeutung trägt. Denn viel Hoffnung gibt es hier nicht, selbst wenn einzelne Lichtblicke das Dunkel ab und an durchschneiden.

Auch passend für Weihnachten

Nicht zuletzt passt der zweite Roman von Giulia Caminito auch in diese vorweihnachtliche Zeit, wenngleich nicht unbedingt auf kritische Art und Weise. Denn neben einer angeblich im See versenkten Krippe spielt hier auch das Weihnachtsfest eine nicht unwesentliche Rolle, bei der es zum Clash der Familienmitglieder kommt. Ausführlich inszeniert Caminito hier ein karges Weihnachtsfest, das zwar nur eine halbe Stunde dauert, im Buch aber eine große Passage einnimmt. Statt Ruhe und Besinnlichkeit kommt es zum Aufprall verschiedener Ansichten und Temperamente, wobei selbst der Puderzucker bestäubte Pandoro dann nichts mehr ausrichten kann.

Damit steht Caminito dem tradierten Weihnachtskitsch natürlich diametral gegenüber. Es zeigt sich hier aber auch im Kleinen, was das Buch im Ganzen prägt. Statt guter Laune, der Reproduktion von eingeübten Klischees und falschem Lächeln (wie eben klassischerweise beim Weihnachtsfest) setzt die Autorin auf einen sozialrealistischen Blick, der auch zeigt, wie man sich an Weihnachten streitet oder in der Gesellschaft kaum nach oben kommt und sich oftmals vergeblich abstrampelt, obwohl die Aufstiegsversprechen doch für alle gelten sollten.

Das befriedigt natürlich nicht das Bedürfnis nach harmonischer guten Laune, ist dafür aber aufgrund des Blicks, der frei von Verklärung und Romantisierung ist, durchaus überzeugend.

Fazit

Wie Caminito im Nachwort des Romans erklärt, waren für ihre Schilderungen drei Frauenschicksale entscheidend, um ihre Geschichte zu erzählen, die sich auch aus eigenem Erleben speist.

Dies ist keine Biografie, keine Autobiografie und auch keine Autofiktion, es ist eine Geschichte, die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt hat in dem Versuch, aus ihnen eine Erzählung zu machen, die Erzählung jener Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, der Schmerzen, die ich nur umschifft habe, und denen, die ich durchlebt habe.

Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß, S. 313

Dieser Versuch ist in meinen Augen wirklich gelungen, auch wenn Caminitos Roman alles andere als ein Roman der guten Laune geworden ist. Alles ist hier dunkel, eng, ohne allzu viel Hoffnung – und eben dadurch überzeugend, da sie nicht der Versuchung von Nostalgie oder Harmonie erliegt. Gutes sozialrealistisches Erzählen, das die Verknüpfung von Herkunft und Klasse im Italien der Jahrtausendwende ergründet.


  • Giulia Caminito – Das Wasser des Sees ist niemals süß
  • Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
  • ISBN 978-3-8031-3349-6 (Wagenbach)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €
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Esther Kinsky – Rombo

Grollend, rumpelnd, bedrohlich, so klingt das Wort Rombo, das den Titel des neuen Romans von Esther Kinsky ziert.

Tatsächlich ist Rombo der kalabrische Name jenes Klangs, der einem Erdbeben vorausgeht, der „aus dem rollenden Tone einer aneinander hängenden Reihe von kleinen Explosionen [besteht]“, den man „mit dem Rollen des Donners [vergleicht], wo es in geringerer Stärke statt findet, mit dem Rasseln vieler Wagen, welche hastig über ein holpriges Steinpflaster fahren.“, so Friedrich Hoffmann in seiner „Geschichte der Geognosie und Schilderung der vulkanischen Erscheinungen“ von 1838.

In Kinskys neuem Roman wird dieser Rombo zur Ankündigung von Ereignissen, die Menschen und Region am Fuße des Monte Canin im wahrsten Sinne des Wortes erschüttern.


Wie war das damals, das Erdbeben, hier im Tal? Wie war es überhaupt hier, im Tal? Das fragt mich ja sonst niemand, dabei muss man das ja mal loswerden, diese Erinnerung. Auch wenn jetzt nicht so viele reden wollen, aber seine Erinnerungen, die hat ja jeder. An dieses Grollen. Und überhaupt alles.“

Esther Kinsky – Rombo, S. 251

Das lässt Esther Kinsky Olga sagen, eine von vielen Stimmen, die in ihrem Buch zu Wort kommen. Immer wieder berichten die Dorfbewohner, die im Tal am Fuße des Monte Canin wohnen, vom Erdbeben, das sie zutiefst erschüttert hat.

Ein Riss im Dorf, ein Riss im Leben

Esther Kinsky - Rombo (Cover)

Dort, im von Karstgebirge geprägten Tal an der Grenze zu Jugoslawien, dem heutigen Slowenien, erschreckte der Rombo und das damit einhergehende Erdbeben am Abend des 6. Mais die Dorfbewohner zutiefst. Spalten, Risse in Häusern, umgekippte Grabsteine auf dem lokalen Friedhof sind nur ein paar der sichtbaren Folgen, die in den vielen mündlichen Berichten der Dorfbewohner*innen offenbar werden. Ziegenhirte, junges Mädchen – alle erleben durch das Ereignis der sich verschiebenden tektonischen Platten einen Einschnitt, der Kinskys ganzes Buch durchzieht.

Der Bruch, er ist in Rombo stets präsent und tritt in ganz verschiedenen Formen auf. Mopeds zerbrechen, Katzenschädel werden gespalten, Häuserwände und Straßen werden rissig, Heimstätte unbewohnbar – und die Biografien der Menschen erleiden ebenfalls eine Zäsur, da sich dieser Verlust von Sicherheit und fest geglaubtem Stand tief in das Gedächtnis der Talbewohner*innen einschreibt, wie auf das Zitat von Olga zeigt.

Die Suche nach sprachlicher Verarbeitung

Neben der Beschreibung der vielgestaltigen Risse im Leben, die mit dem Beben einhergehen, ist Rombo auch das Dokument eines Suchens nach dem richtigen Ausdruck. Die Einhegung und Verarbeitung eines unfasslichen Phänomens durch eine Sprache, die das Erlebte in Worte zu packen vermag. Das wird an vielen Stellen offenbar. Es lässt sich dabei konstatieren, dass der Stoff mit Esther Kinsky die passende Autorin gefunden hat, der Sprachmacht, Naturfühligkeit und das notwendige ästhetische Sensorium zueigen sind, um den erfolgreichen Versuch einer sprachlichen Erfassung und Verarbeitung des Phänomens zu unternehmen.

Die Luft ist voller Geräusche, vom fernen Donnern aus den Bergwänden bis zum Ächzen von Bäumen in den Gärten, dem Bersten von Holz in den Dächern, dem Splittern von Glas und dem grollenden trockenen Poltern von Stein. Menschenstimmen in grellster Aufregung, um Obdach gebracht, nach Nächsten suchend, aus Verschütterungen schreiend, Trümmer packend, wälzend, rufend, heulend, ein Jammern in der Dunkelheit.

Esther Kinsky – Rombo, S. 42

Es sind starke Passagen wie diese, in denen Kinsky mit ihren tastenden Beschreibungen in die Vollen geht und das Unglück der Menschen anschaulich zu schildern weiß. Sie dekliniert das Unglück der Dorfbewohner durch, findet aber zwischen all dem Unglück und Leid auch Zeit für Nature Writing-Passagen, in denen sie die Grenzen zwischen der Betrachtung der Natur und Lyrik fast vollkommen zum Verschwinden bringt.

Das liest sich dann etwa wie hier bei der Beschreibung der Erdbebentrümmer:

Die Betonbrocken sind starr und nachgiebig und stellen sich quer gegen jede Strömung. Sie setzen sich ab von den handfein geschliffenen Steinen mit einschlossenen Zeichen und Linien und Adern aus Andersartigkeiten und suchen den Rand, das Ufer, die strömungsabgelegenen Ausbuchtungen, wo sie in ihrer Trümmerhaftigkeit zur Geltung kommen, ihre Buchstückigkeit aufrechterhalten und weiter Zeugnisse sind, Erdbebenbruch, Reste von Haus und Hof und Obhut, Abgekarrtes, das sich in nichts Neues mehr fügen ließ. Eine junge Zugabe zum alten Fluss: Die Erdbebentrümmer.

Esther Kinsky – Rombo, S. 34

Steinbruch-Literatur

Rombo ist eines jener Bücher auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, für die der Begriff der Steinbruch-Stilistik zutrifft, wie ihn Stephanie von Oppen in ihrer Einschätzung zum Deutschen Buchpreis verwendete. Und das gleich doppelt, steht der Bruch von Steinen ja im eigentlichen Mittelpunkt des Buchs. Aber auch die Erzählweise des Buchs selbst ist so ein Steinbruch, weist er doch keinen nennenswerten erzählerischen Bogen auf, sondern kreist um das Erdbeben, dessen Bild sich aus den verschiedenen Augenzeugenberichten langsam zusammensetzt.

Daneben gibt es immer wieder Naturbeschreibungen der Umgebung, Märchen und Fabeln, Beschreibungen von Fotos, Erinnerungssplitter, Tierschilderungen und vieles mehr, das sich in diesem wilden Buch versteckt. Man muss Geduld aufbringen und sich selbst Orientierung verschaffen in dieser Trümmerwüste, die der Rombo hinterlassen hat. Das literarische Vermögen Esther Kinskys wird aber auf jeder Seite und jeder der kurzen Skizzen offenbar.

Fazit

Alles ist hier zerrissen. Das Dorf am Fuße des Monte Canin nach den Geschehnissen am 6. Mai, die Handlung selbst, die Seelen der erzählenden Figuren. Rombo ist ein Buch, das von den Brüchen lebt und diese eindrucksvoll zu beschreiben weiß. Keine leichte Lektüre, aber in ihrer Mischung aus sprachmächtigem Nature Writing, tastender Beschreibung des Erlebten und vielstimmigen Chor von Erinnerungen ist das Buch doch ein sehr eindrückliches Leseerlebnis, das dem Leser und der Leserin die Arbeit größtenteils selbst überlässt.


  • Esther Kinsky – Rombo
  • ISBN 978-3-518-43057-6 (Suhrkamp)
  • 267 Seiten. Preis: 24,00 €
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Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata

Alles kehrt irgendwann wieder. So tauchen vererbte Merkmale in verschiedenen Generationen immer wieder auf – und auch literarische Themen und Trends folgen den Gesetzen der Vererbungslehre, gerade wenn es um das Erzählmuster von Familiensagas geht. So sollte Leser*innen folgende Grundkonstellation bekannt vorkommen:

Ein abgeschiedenes Dorf in der Weite der Natur, verschiedene Generationen von Dorfeinwohner*innen, magische und übersinnliche Ereignisse, die in verschiedenen Generationen immer wieder auftauchen. Das sind nicht nur die Zutaten, die Gabriel García Márquez‚ für seinen Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit dienten. Auch in der italienischen Po-Ebene funktioniert das Erzählen mit diesen Ingredienzen, wie Daniela Raimondi in ihrem gute fünfzig Jahre nach Marquez‘ Welterfolg erschienenem Familien- und Generationenroman An den Ufern von Stellata zeigt.


Obschon wir uns bei Raimondi nicht im fiktiven Dörchen Macondo im unwegsamen Dschungel Lateinamerikas befinden – auch in der Region der Po-Ebene gibt es Dörfer, die der blühenden Fantasie von Gabriel García Márquez entsprungen sein könnten.

Es war ein Dorf mit wenigen Hundert Einwohnern, das zwischen der Straße und dem Fluss lag; ein armes Dorf, das allerdings einen so schönen Namen hatte, dass man glaubte, er sei erfunden. Denn abgesehen von seinem sternenfunkelnden Namen war an Stellata nur wenig Poetisches: eine Piazza mit Bogegengängen, ein bescheidenes Kirchlein aus dem vierzehnten Jahrhundert, zwei Trinkbrunnen sowie die Ruinen einer alten Festung gleich am Fluss.

Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata, S. 19

Dort, in der Po-Ebene, wo das Veneto, die Lombardei und die Emilia-Romagna aufeinandertreffen, liegt jenes Stellata, dessen Geschichte eng mit der der Familie Casadio verknüpft ist. Außerhalb des Ortes an einem kleinen Kanal befindet sich das Haus dieser Familie, die durch die Ankunft von fahrendem Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinandergewirbelt wird, wie der Prolog des Buchs erzählt.

Generationen von Casadios

Daniela Raimondi - An den Ufern von Stellata (Cover)

Der Sohn Giacomo, ein träumerischer und zugleich schwermütiger Mann, nimmt sich eine zingara namens Viocalla zur Ehefrau. Sie ist so ganz anders als die Frauen, die bislang das Geschick der Familie bestimmten, und bringt das eingefahrene und tradierte Weltbild der Familie Casadio gehörig ins Wanken. Neben ihrer ganz eigenen Weltsicht und ihren Gebräuchen ist auch das Tarot eine von den Casadios kritisch beäugte Methode, mit der Viocalla das Familienleben bereichert. Es dient ihr zur Vorhersage des Schicksals und um den Verlauf des eigenen und fremder Lebens zu deuten.

Dabei sieht Viocalla für die kommenden Generationen Unglück, ebenso wie Freuden und gedeihliches Auskommen voraus. Propehzeiungen, die sich tatsächlich bewahrheiten werden – und stets wird auch das Übersinnliche Begleiter von Generationen der Casadios sein. Mal ist es ein Schwein, das eine überlebenswichtige Rolle spielen wird. Mal können Abkommen der von Giacomo und Viocalla begründeten Dynastie mit den Toten reden. Mal folgen ihnen nach Heilungswundern Bienen.

Das erinnert an den magischen Realismus von Gabriel Garcia Marquez‘, drängt sich aber nicht in den Vordergrund von Daniela Raimondis Erzählung. Das Esoterische ist hier allenfalls schmückendes Beiwerk und sollte niemanden von der Lektüre abschrecken, allzu stimmig binden sich diese Elemente in das Gesamtwerk ein und passen ganz wunderbar zu Milieu und Ton dieses Romans.

Generationen wie Wellen

Mit den Ufern von Stellata hat die Autorin ein schönes titelgebendes Bild gefunden, denn hier sind die verschiedenen Generationen Casadios die Wellen, die ans Ufer von Stellata schlagen. Mögen sie sich auch von der Heimat entfernen, in Kriege ziehen oder auf brasilianischen Plantagen ihr Glück suchen, irgendwann kommen sie alle wieder nach Stellata zurück und finden dort ihr Glück – oder auch nicht.

Fünf Generationen sind es, die den erzählerischen Bogen vom Jahr 1800 bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen. Generationen voller unterschiedlicher Menschen, die mal von ihrem Charakter und Wesen nach der Patriarchin Viocalla kommen, mal sind es die Gene des schwermütigen Giacomo, die sich in einem Familienzweig durchsetzen. Raimondi gelingt es, das alles abwechslungsreich und mitreißend zu schildern. Und auch wenn man bei einer Länge von über 500 Seiten befürchten könnte, dass der Spannungsbogen irgendwann bricht oder sich mit einer weiteren Generation Casadios so etwas wie Langeweile oder Ermattung einstellen könnte – allein: es passiert nicht.

Geschickt variiert Raimondi ihre Generationenporträts, die sich immer wieder überlappen und in den jede Menge Zeitgeschichte steckt. Die einschneidenden Erlebnisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Freiheitskampf Garibaldis oder die Auswanderungsbewegungen, etwa wenn Teile der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Schweiz abwandern, weil auf dem flachen Land kaum mehr ein Auskommen ist. All das vermittelt fügt sich organisch in den erzählerischen Bogen ein und ergibt ein – wenngleich ich das Wort eigentlich nicht mag – absolut süffiges Leseerlebnis.

Fazit

Daniela Raimondi erschafft hier einen ganz großen Bilderbogen, der in der Tradition des Magischen Realismus von Gabriel Garcia MarquezHundert Jahre Einsamkeit steht. Sie erzählt über fünf Generationen hinweg von 170 Jahren Krieg und Frieden, Not und Leid, Glück und Erfüllung. Ihr gelingt eine abwechslungsreiche Familiensaga, die über die gesamte Länge von 500 Seiten trägt und die ebenso stimmig von Zeitgeschichte, wie von Übersinnlichem, von Liebe und familiären Zusammenhalt erzählt. Ein großer Schmöker aus Italien, der hier zu entdecken ist.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20176-9 (Ullstein)
  • 512 Seiten. Preis: 23,99 €
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