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Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Was ist nicht schon alles über die Ewige Stadt geschrieben worden. Als Ziel der Grand Tour, Magnet für Touristen, Bildungsreisende und Künstler*innen seit jeher ist eine schon eine unmöglich zu überblickende Fülle an Büchern über die italienische Hauptstadt geschrieben worden. Braucht es da noch ein weiteres Buch über die Faszination Rom? Unbedingt, wenn der Verfasser des Ganzen Golo Maurer heißt.

Denn er legt mit Rom – Stadt fürs Leben einen persönlichen Blick auf jene Stadt vor, die ihn ebenso begeistert, wie sie ihn mit ihren Eigenheiten manchmal schier den Verstand zu kosten scheint. Aber selbst alle Verzweiflung ist hier doch auch nur eine etwas geartete Form von Rom-Liebe, an der er seine Leserinnen und Lesers enorm vergnüglich und sprachlich burlesk teilhaben lässt und mit der er auf den Spuren von Ferdinand Gregorovius wandelt.


Strenggenommen ist ja schon eigentlich fast alles über die Stadt am Tiber geschrieben worden, mit ihren Nebeneinander von Kirchen, Kunstwerken, dolce vita und sprezzatura. Alleine in diesem Herbst erscheinen dutzende Publikationen, die sich – besonders bedingt durch den Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse – mit dem Zauber Roms befassen. Auch Golo Maurer fügt sich in diese Riege an Titeln ein, ragt aber zugleich mit seinem persönlichen Blick auf die Stadt aus dieser Riege heraus.

Denn ihm gelingt mit Rom – Stadt fürs Leben eine großartige Einführung in das, was es heißt, Römer zu sein in einer Stadt, die mit ihren Eigenheiten von Zeit zu Zeit herausfordert, verzweifeln lässt, aber am Ende immer beglückt. Kundig und mit einem bewundernswerten Sinn für Sprache, Timing und Übertreibung lässt er uns alle an diesen Emotionen teilhaben, die die Ewige Stadt hervorzurufen im Stande ist.

Parolacce, ÖPNV und Marmortische

Golo Maurer - Rom - Stadt fürs Leben (Cover)

Dabei lässt Maurer bei seinem persönlichen Blick so gut wie nichts aus. Einführung ins Parolacce, den Gebrauch von Schimpfwörtern, über die Tücken des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Hauptstadt bis hin zum Lebensgenuss, reichend vom Zauber der Marmortische in Trattorien bis hin zum Barbier.

Acht Kapitel nebst Vor- und Nachrede bilden den Korpus dieses Buchs, das beginnend mit dem Historie Roms und ihren Hügeln über Themen wie die römische Politik bis hin zu den „Römischen Idyllen“ führt. Darin beschreibt Maurer seinen eigenen Blick auf das Leben in Rom in einem sprachlich höchst eleganten und mit Humor punktenden Erzählstil.

Mal ist es die Verzweiflung, wenn der Bus Assoziationen zu Herman Melvilles Moby Dick weckt, gleicht schließlich das Ausharren nach dem legendären Wal an Bord der Pequod dem Warten auf der Haltestelle, wenn sich keine Sichtung des begehrten Fahrzeugs einstellen mag. Mal lässt er sich über die unerschütterliche Liebe der Italiener zum Plastik und dessen Nicht-Entsorgung aus. Sein Groll über das Land, in dem nicht nur die Zitronen blühen, sondern ebendiese gleich in Plastik eingestretcht werden, ist nicht nur durch den Blick des Deutschen auf die Eigenheiten der Römer höchst komisch.

Abrechnung und Hommage

Rom – Stadt fürs Leben ist so nicht nur eine Abrechnung und Hommage an das Leben in der Ewigen Stadt, es ist auch ein schönes Mittel, sollte man von einem akuten Anfall von Sehnsucht auf das Dolce Vita in der italienischen Hauptstadt heimgesucht werden. Man schlendert mit dem Autor durch die Trattorien oder wird bei einer wagemutigen Wanderung von Rom nach Neapel (die in Ton und Gestus an die großen Abenteuer der Grand Tour vergangener Zeiten gemahnt) sogar gefährlichen Raubtieren ansichtig.

Liest man Maurers Buch, mag man zwar von manchen Aspekten des Lebens dort auf den Hügeln Roms abgeschreckt sein – umso größer ist aber die Begeisterung für die Stadt, hat man dieses Buch beendet. Es weckt Sehnsucht und zeigt uns Deutschen auf, wie es gehen kann, mit der Kunst des schönen Lebens.

Unterhaltsam, sprachlich elegant, hochkomisch, ehrlich sind die Betrachtungen von Leben und Leben Lassen, vom Wandel in der Stadt und der Faszination für sie, die sich doch seit jeher erhalten hat und dies gewiss noch lange tun wird. Nicht nur im Zuge des Gastlandauftritts als Einführung in das römische Leben dieses modernen Gregorovius ist dieses Buch höchst lesenswert!


  • Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben
  • ISBN 978-3-498-00380-7 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald

Der Wald als Ort der Zuflucht, die italienische Autorin Maddalena Vaglio Tanet greift in ihrem Debüt In den Wald auf dieses Motiv zurück, um von der psychischen Erschütterung einer Lehrerin und der Reaktion ihres Umfelds darauf zu erzählen.


Schon seit der Romantik ist der Wald das Motiv, das für Zuflucht, Geborgenheit, aber auch Gefahr und Entgrenzung steht. Immer wieder haben Autor*innen diesen Ort in seiner Vielschichtigkeit inszeniert. Martin Suter ließ beispielsweise vor über zwanzig Jahren in seinem Bestseller Die dunkle Seite des Mondes den Schweizer Banker Urs Blank halluzinogene Pilze probieren. Daraufhin floh der soignierte und erfolgreiche Anwalt in den Wald, wo er das Überleben lernte. Oder auch der Schriftsteller Rye Curtis war es, der vor Kurzem seine Heldin Cloris nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der nordamerikanischen Wälder zum Überleben verdammte.

Immer wieder greifen Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf die Möglichkeit zurück, ortsfremde Figuren in der Umgebung des Waldes auszusetzen, damit sie überleben, sich ihrer eigenen Geschichte stellen oder einen neuen Blick aufs Leben gewinnen.

Flucht in den Wald von Piemont

Im Falle im Falle von Maddalena Vaglio Tanets Debüt ist es eine Lehrerin, die im Wald überleben muss, auch wenn sie das eigentlich gar nicht will.

Statt in die Schule ging die Lehrerin in den Wald.

In einer Hand hielt sie die Zeitung, die sie gerade gekauft hatte, in der anderen die lederne Aktentasche mit den Heften, den korrigierten Aufgaben, den Kugelschreibern und sorgfältig angespitzten Bleistiften. Ohne zu zögern, verließ sie die Straße, als wäre der Wald von Anfang an ihr Ziel gewesen. Ihre flachen Schuhe traten auf einen Teppich aus braunen, glänzenden Blättern, die ihr wie ein Feld aus rohen Innereien erschienen.

Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald, S. 11

Zugegeben keine wirklich gute Ausrüstung, um im Wald zu überleben, selbst bei sommerlichen Temperaturen. Der Auslöser für diesen scheinbar so irrationalen Schritt oder besser Gang besteht in einem Ereignis, von dem sie aus der Zeitung erfahren hat. Denn eine Schülerin Silvias, so der Name der Lehrerin, hat Selbstmord begangen. Aus einem Fenster hat sich das elfjährige Mädchen in den darunter fließenden Wildbach Cervo stürzt.

Silvia gibt sich die Schuld an dieser Tragödie, hatte sie doch noch zuvor die mangelnde Präsenz der Schülerin im Unterricht bei den Eltern angemahnt. Doch nun, da das Mädchen tot ist, wird Silvia von schwersten Schuldgefühlen geplagt und will eigentlich nicht mehr sein.

Eine Tragödie und ihre Folgen

Maddalena Vaglio Tanet - In den Wald (Cover)

Im nahegelegenen bergigen Waldgebiet, der sich an das kleine piemontesische Dorf anschließt, sucht sie die Einsamkeit, die sie in einer zerfallenen Waldhütte findet. Derweil wird das Dorf nach der Hiobsbotschaft des Freitods der Schülerin nun auch vom Verschwinden der Lehrerin aufgewühlt. Silvias Cousin Anselmo macht sich ebenso wie der von asthmageplagte Schüler Martino auf die Suche nach der zweiundvierzigjährigen Frau.

In den Wald erzählt vom übermächtigen Wunsch des Verschwindens, der Scham und der Reue genauso wie vom Leben, das auch nach solch katastrophalen Ereignissen weitergeht, wie sie das piemontesische Dorf hier gleich zweifach heimsuchen im Sommer des Jahres 1970.

Maddalena Vaglio Tanet nutzt hierfür ein ganzes Ensemble an Figuren, die in kurzen Kapiteln immer wieder im Mittelpunkt stehen. Neben dem familiären und schulischen Umfeld der getöteten Schülerin und der verschwundenen Lehrerin ist es vor allem der junge Martino, der zusammen mit Silvia im Mittelpunkt steht. Denn dieser macht schon bald die zerfallene Hütte mitsamt der neuen Bewohnerin ausfindig. In einem Akt der Verkehrung wird der junge Schüler zum eigentlichen Versorger und Beschützer seiner Lehrerin, die dort in der aufgrund von Hunger und Durst schon bald zu delirieren beginnt.

Schüler und Lehrerin – und die Verkehrung der Rollen

Martino versorgt sie mit Nahrung und Trinken, wird zum häufigen Besucher der älteren Frau in der Hütte und hört ihr zu, die sie sich in Gedanken und Erinnerungen zu verlieren droht, während das Dorf langsam schon gar nicht mehr an das Überleben von Silvia glaubt.

Tanets Debütroman beruht dabei auf biografischen Details aus ihrer eigenen Familie, wie die Autorin im Nachwort ihres Romans schreibt. So gab es auch in Tanets Familie eine kinderlose Cousine, die als Lehrerin arbeitete. Auch sie blieb tagelang verschwunden, um später völlig verdreckt und nahezu verhungert wieder aufzutauchen. Die Frage, was mit der Frau geschehen war und was der Auslöser für ihre Flucht war, beschäftigte Tanet insbesondere, da die Hintergründe der Episode nie wirklich in der Familie thematisiert wurden.

Und so liegt nun mit In den Wald vor eine Art Antwortversuch oder Fantasie über die möglichen Hintergründe des damaligen Ereignisses vor. Der Roman ist düster, zeigt eine raue Natur, die wenig gemein hat mit italienischer Sommer-Idylle und präsentiert Figuren, denen man auch nicht wirklich in die Seele schauen kann und die zumeist so karg sind wie die Umwelt, die sie umgibt. Insofern greift Tanets Debüt tatsächlich jene Stimmung auf, die in ihr vor dem Verfassen des Buchs herrschte, was die Frage des Verschwindens anging.

Fazit

Wer dunklere Geschichten über das Überleben im Wald, die Versehrungen an Seelen und ihre Folgen schätzt, der bekommt mit In den Wald eine eindrückliche Geschichte aus dem Norditalien der 70er-Jahre präsentiert, die sich gut in die Riege der eingangs genannten Titel einfügt. Übersetzt wurde der Roman aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.


  • Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald
  • Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
  • ISBN 978-3-518-43198-6 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer

Bekenntnisliteratur eines Nachwuchs-Killers. In ihrem Debüt Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer lässt die italienische Autorin Francesca Maria Benvenuto einen jugendlichen Gefängnisinsassen zu Beginn der 90er-Jahre einen langen Brief schreiben. Er zeichnet darin das Bild von Gewalt, die immer wieder Gewalt gebiert.


Nisida ist eine kleine im Golf von Neapel gelegene Insel. Auf dieser Insel befindet sich ein Gefängnis für Fälle wie den Jugendlichen Zeno, der einen Brief für seine Lehrerin schreibt – und damit uns Einblicke in ein gewaltgesättigtes Milieu liefert, das keinen Raum für Entkommen lässt.

Benvenuto siedelt ihr Debüt zu Beginn der 90er Jahre an. Damit spielt Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer in einer Phase, als wirtschaftlicher Aufschwung und Tourismus für Neapel noch in weiter Ferne lagen. Während der Norden bereits prosperierte und Anschluss an die EU fand, lag der Süden brach. Gewalt, Korruption und mafiöse Strukturen, allen voran die Camorra, dominierten die Stadt. Liest man Benvenutos Roman, dann steht dem Leser diese Zeit rasch sehr plastisch vor Augen.

Ein Brief aus dem Gefängnis

Denn um ihren Roman zu erzählen, wählt die Italienerin den Kniff eines schriftlichen Geständnisses, das der junge Zeno auch vor uns ablegt. Gerade einmal fünfzehn Jahre und vier Monate alt ist er, und doch sitzt er schon mit vielen anderen Jugendlichen im Gefängnis – die Strafe für einen Mord, den er begangen hat.

Francesca Maria Benvenuto - Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer (Cover)

Um an Weihnachten wenigstens für zwei Tage Ausgang zu bekommen, schreibt er einen Brief, in dem er sein ganzes Leben darlegt. Seine Lehrerin im Gefängnis hat ihm dies als Bedingung abgerungen, damit sie beim Gefängnisdirektor ein gutes Wort für den Jungen einlegt, der über sich selbst sagt, dass er „geklaut, gedealt und sogar gemordet, aber nie gelogen habe“.

Und so berichtet er von seinem Werdegang, seinem Aufwachsen im Stadtteil Forcella in Neapel, wo die Hoffnungslosigkeit zuhause ist. Der Vater ebenfalls in einem Gefängnis einsitzend, die Mutter Prostituierte, die Schwester auch mit einer kurzen Zeit als Prostituierte, ein kärgliches Zuhause im beengten Souterrain eines Hauses. So sieht das Milieu aus, das dann auch Zenos Lebensweg bestimmt.

Ein jugendlicher Mörder

Zum Mord ist es in der Konsequenz des Lebens dort nur ein kleiner Schritt – und so sitzt er nun ein und hat Zeit, das Leben vor seiner Zeit im Gefängnis ebenso wie das Leben hinter Gittern zu schildern. Dies tut er in einem durchaus fehlerbehafteten und mündlichen Stil, da er eigentlich nur Neapolitanisch spricht und das Hochitalienisch seine Sache nicht ist. Übersetzerin Christine Ammann hat diesen besonderen Tonfall gut auch ins Deutsche hinübergerettet.

Jedenfalls heiß ich Zeno, was ein komischer Name ist.

Erstens, weil er mit Z anfängt, dem letzten Buchstaben im Alfabet.

Ich hätt mir nen andern gegeben, der einem Angst einjagt, wie Rambo oder was Amerikanisches.

Oder einen, der mit A anfängt, dem ersten Buchstaben, der sich im Alfabet für den allertollsten hält.

Aber ihr habt gesgt, Professoressa, Zena ist ein schöner Name.

So heißt ein berühmter Typ in einem Buch, habt ihr gesagat. Der ununterbrochen raucht, genau wie ich, und einfach nicht aufhörn kann, obwohl er eigentlich will.

Der arme Typ ist ja noch schlimmer dran als ich.

Ich versuchs nicht mal, weil mit ner Zigarette ist man wer, sonst wüsst ich gar nicht, wo ich die Hände hintun soll. Ich rauch, seit ich elf bin.

Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer,. S. 11

Die Sprache

So entsteht durch dieses Geständnis das Bild eines verletzlichen Jungen zwischen großer Mackerpose, Gewaltneigung, Angst, Orientierungslosigkeit und der Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Ein Bild der Hoffnungslosigkeit

Nicht einmal Bildung oder religiöse Zuwendung können aber an den Umständen und der Hoffnungslosigkeit der Jugendlichen in Neapel und hinter Gitter etwas ändern. Weder der Unterricht, der ihnen auf Nisida erteilt wird, noch der öffentlichkeitswirksame Besuch des Papstes bringen Besserung, im Gegenteil.

Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ein fast hoffnungsloser Roman, der insbesondere mit seinen letzten Seiten noch einmal eine ganz eigene Wucht entfaltet und die Hoffnungslosigkeit des kompletten Systems, in dem Zeno aufgewachsen ist, zeigt.

Dass es mit Neapel nach den im Roman beschriebenen Ereignissen wieder aufwärts ging, ist der Trost der Geschichte. Für Zeno kommt dieses Trost allerdings zu spät, wie Benvenuto mit dieser bitteren Geschichte eindrucksvoll zeigt.


  • Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer
  • Aus dem Italienischen von Christine Ammann
  • ISBN 978-3-95614-601-5 (Kunstmann)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht

Das Kino als Fluchtpunkt und als Errettung aus aller Trübnis und Not – Florian L. Arnold erkundet das in seinem neuen Roman Das flüchtige Licht und findet für die Welt des Films überzeugende literarische Bilder. So gelingt ihm eine Hommage an das Kino, die Stadt Rom und die Freundschaft der Kindertage, deren unterschiedlicher Facetten er in seinem Roman nachspürt.


Viel ist schon über Rom geschrieben worden und immer wieder ist der Ewigen Stadt auch in Filmen ein Denkmal gesetzt worden. Das reicht von den Kinoarbeiten Fellinis und Viscontis bis hin zu Paolo Sorrentino, der in La grande bellezza der römischen Hauptstadt ein Oscar-gekröntes Filmwerk widmete.

Der Ulmer Autor Florian L. Arnold erschafft aus der Arbeit all dieser Regisseure nun eine literarische Synthese über den Mythos Rom. Das Ganze verbindet er mit einer Hommage an das Kino und dessen lebensrettende Kraft.

La grande infanzia

Zunächst fühlt sich dabei alles wie in einem surrealen Gemälde von Giorgio de Chirico an. Eine Gruppe von Kindern wächst in einem rätselhaften Viertel einer nicht näher benannten Stadt auf, deren verwinkelte Gassen und Häuser die Kinder durchstreifen. Arnolds selbst gestaltetes Cover greift diese eigentümliche Stimmung jener Stadt auf, in der Spucino, Elio, Gianni und Aurelio eine verschworene Freundesgruppe bilden.

Florian L. Arnold - Das flüchtige Licht (Cover)

Auch der auch der rothaarige Enzo hätte gerne Zugang zu dieser Bande. Doch der „Junge mit dem Faunsgesicht“ ruft bei den anderen Kindern nur Ablehnung und Spott hervor. Nicht nur aufgrund seines Halbwaisen-Status wird er von den anderen Kindern gehänselt und mit abschätzigen Bezeichnungen wie „Das Gerippe“ oder „Der Zwerg“ versehen. Sogar bis hin zu Wünschen nach dem Tod Enzos reicht die Palette kindlicher Bosheit und Niedertracht.

Eines Tages verschwindet Enzo dann tatsächlich aus diesem Teil der Stadt, um durch Zufall in die Dreharbeiten eines Films des „Monsignore“, eines berühmten Regisseurs, zu stolpern. Dieser erkennt in Enzo das fehlende Puzzlestück für seinen Kinofilm Legenda, für den er den Jungen kurzerhand besetzt. Nicht nur für den Regisseur eine Fügung, sondern auch für Enzo ein Erweckungserlebnis, ist er doch von dieser magischen Welt des Films und seiner Erschaffer wie verzaubert.

Cinema paradiso

Aber nicht nur Enzo ist von der Welt des Films wie verzaubert. Auch für Gianni wird im Erwachsenenalter die Welt der Lichtspielhäuser zu dem Ort, an dem er sich am lebendigsten fühlt. Dort in der Welt der Filme findet er das, das ihm in der realen Welt nicht bieten kann.

Jeder ging ins Kino, das war nichts Außergewöhnliches, jedoch: Keiner kam so zerbrochen, verformt, mit Träumen angefüllt wieder heraus wie er. Im Kino war alles ohne Vorsicht und ohne Scham, dort war er der Liebende, auf der Leinwand sah er die eigenen Gefühle, erkundete er erschüttert und oft erstaunt seine Untiefen, seine Empfindungen, die er draußen, im zweidimensionalen Raum seines Lebens, nicht kannte. Manchmal kam er beruhigt aus dem Kino, weil er dort eine flüchtige Zärtlichkeit für andere Menschen empfunden hatte, während er draußen, im Ernst des Lebens, noch nicht einmal eine echte erste Liebe gefunden hatte, nun, da er vierunddreißig war.

Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht, S. 70

Der Cineast wird zum Filmjunkie, abhängigen von der Welt des Zelluloids. Manisch sucht er die unterschiedlichsten Kinos auf, wo er dann zufällig auf die Spur seiner eigenen Vergangenheit gerät, als er eines Tages auf der Leinwand einen rothaarigen Schauspieler erkennt, den er aus seiner eigenen Kindheit noch so gut kennt.

Lichtspiel

Nicht nur hier fallen Illusion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Mit harten Schnitten und einer collageartigen Erzählweise montiert Arnold die Leben und Themen seiner Figuren zusammen. Der Monsignore als großer Bilderdenker und noch vielmehr als Menschenlenker. Enzo als Ruheloser, der für die Welt des Kinos und des Films alles gibt, um dem Monsignore und vor allem Luisa nahezusein, die er bei den Dreharbeiten kennenlernte. Gianni und dessen farbloses Leben, das erst im Kinosaal wieder an Farbe und Tiefe gewinnt. Vor allem aber sind es auch die Träume der Kindheitstage, die seit dem Aufwachsen in den verwunschenen Gassen des Stadtviertels zerstört wurden und die nur noch in Filmen auf der Leinwand Bestand haben.

Überhaupt, die Läufe des Lebens, sie sind auch ein Motiv dieses Romans. Von der Verschworenheit der Kinderbande bis hin zur Entfremdung im Erwachsenalter, als man sich aus den Augen verloren und sich die Lebenswege gabelten, die hin zu so unterschiedlichen Karrieren als Angestellter, Filmstar, Clown oder Autohändler führten, Arnold zeichnet all das in seinem Roman manchmal skizzenhaft, dann wieder in präzisen Nahaufnahmen nach.

Das flüchtige Licht ist ein Gesamtkunstwerk, das in seinen unterschiedlichen Erzählsträngen, lyrischen Kurzaufnahmen und Spots, Zeichnungen des Autors, der verbindenden Sprachmacht und den unterschiedlichen Perspektivwechseln viele Elemente zu einem stimmigen Ganzen findet.

Fazit

Arnolds Roman funktioniert als Verneigung vor einem Rom, das sich als Kunstmotiv schon lange von der Wirklichkeit entkoppelt hat, wie auch vor dem Leben und dessen Überraschungen, das es für uns alle bereithält. Das flüchtige Licht spürt der Verzauberung der Welt nach, gibt der Entzauberung der Welt aber ebenso Raum. Denn so wie das Licht auf der Leinwand tanzen und uns in anderen Welten entführen kann, ebenso flüchtig ist dieses Licht doch auch. Es kann verschwinden und Menschen im Dunkeln zurücklassen.

Das zeigt dieser Roman gekonnt und gleicht damit einem guten Arthaus-Film. Nicht alles erschließt sich sofort, manches wird man auch erst bei einer zweiten Lektüre entdecken. Aber so schenkt dieser Roman neue Perspektiven und erzählt von der Kraft der Träume und der Fantasie, vom Kino und Kindheit – und nichts weniger als von dem Zauber, der von Filmen ausgehen kann. So gelingt Arnold der eine gelungene stilistische und inhaltliche Synthese, die Lust macht, nach der Lektüre schnellstmöglich Rom oder mindestens ein gutes Kino in der Nähe aufzusuchen.

Eine weitere Meinung zu Das flüchtige Licht gibt es auf dem Blog Begleitschreiben.


  • Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht
  • ISBN 978-3-947857-20-3 (Mirabilis)
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €
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Daniela Raimondi – Das erste Licht des Sommers

Mit ihrem zweiten Roman Das erste Licht des Sommers kehrt Daniela Raimondi zumindest in Teilen zurück in ihr fiktives Dorf Stellata, das schon in ihrem ersten Roman im Mittelpunkt stand. Diesmal variiert die italienische Schriftstellerin ihre erzählerischen Mittel allerdings etwas und erzählt vom Sterben und Erinnerungen.


Wenn es ums Sterben geht, dann macht der italienischen Literatur so schnell niemand etwas vor. So zählt die Szene des Todes des alten Don Fabrizio in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard zu den ergreifendsten Schilderungen der Weltliteratur. Di Lampedusas Landsfrau Daniela Raimondi widmet dem Sterben in ihrem Roman nun nicht nur ein Kapitel, sondern montiert ihren ganzen Roman um das den langsamen Tod einer Figur herum.

Es handelt sich um Elsa, die im Jahr 2015 das Ende ihres Lebenswegs erreicht hat. Umsorgt von ihrer Tochter Norma, erinnert sich diese immer wieder an ihr eigenes Leben und das ihrer Mutter. Am Krankenbett wachend geht sie den Erinnerungen nach, die die zweite Hälfte dieses Romans bilden.

Leben und Sterben in Stellata

Einsetzend nach dem Krieg schildert Daniela Raimondi das Leben von Elsa und ihrer Freundin Zena, die gemeinsam in Stellata aufwachsen, jenem Dorf, dessen Entstehung Raimondi bereits ihren ersten Roman widmete. Trotz dieser engenen Verbindung sind es unterschiedliche Richtungen, in denen sich ihre deren Lebenswege nach der gemeinsamen Zeit in diesem fiktiven italienischen Dörfchen entwickeln. Zwar heiraten beide Zwillingsbrüder und bekommen beide im Altern von 20 Jahren ihre Kinder, doch immer weiter entfernen sich die beiden Frauen voneinander, und das nicht nur geografisch.

Daniela Raimondi - Das erste Licht des Sommers (Cover)

Von 1947 bis in das Todesjahr 2015 hinein zeichnet Raimondi die voltenvollen Leben ihrer Figuren und die ihrer Kinder nach. Treue und außereheliches Begehren spielen dabei genauso eine Rolle wie die Verhältnisse von Kindern zu ihren Eltern. Raimondi garniert das mit Ausflügen in die Zeitgeschichte und lässt auch einige Figuren aus dem ersten Roman über den Stellata-Kosmos wieder auftreten.

So gibt es auch hier einen entscheidende Begegnung mit Nachkommen der ersten Stellata-Familien, die sich in Brasilien niedergelassen haben oder die wie im Fall von Neve, die nach einer Wunderheilung von Bienen umschwärmt wird. Aber auch ohne die Kenntnis des ersten Romans mit seiner Fülle an Figuren bleibt die Lektüre von Das erste Licht des Sommers verständlich.

Neu ist, dass Raimondi ihre Erzählen über mehrere Generationen hinweg im vorliegenden Roman etwas einhegt. Erinnerte ihr Ton und der Umfang von An den Ufern von Stellata an Gabriel García Marquez‚ Klassiker Hundert Jahre Einsamkeit und dessen Entwicklungsbogen des fiktiven Dörfchens Macondo, so ist hier nun alles etwas konzentriert.

Konzentration auf zwei Erzählstränge

Es sind nur zwei Generationen, zwei Erzählstränge und zwei Frauen, auf die sich Raimondi in ihrem Buch kapriziert. Zwar ist der erzählerische Rahmen somit enger als der des drei Jahrhunderte umspannenden Debüts, dennoch weiß Raimondi auch diesen Rahmen mit viel Dramen, Beziehungschaos und Zeitgeschichte zu füllen.

Der Kalte Krieg oder die islamische Revolution im Iran finden sich mal direkter, mal indirekter im Roman wieder. Die immensen Veränderungen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Welt und auch für die Figuren des Romans brachte, schildert Raimondi nachvollziehbar und mit dem Blick für das Große im Kleinen.

Gewiss: es mag in der Konzentration auf Dramen und Gefühle, Liebeschaos und Herzschmerz Einiges fehlen zur Weltliteratur eines Gabriel García Marquez. Auch erreicht sie in ihrem Blick auf die unterschiedlichen Frauen und ihre Schicksale nicht die Intensität, wie sie beispielsweise ihre Landsfrau Elena Ferrante in ihrem Neapolitanischen Quartett entfaltete.

Aber dennoch gelingt es Daniela Raimondi mit Das erste Licht des Sommers, ihren Kosmos um das Dorf Stellata und das Leben ihrer Figuren, das dort seinen Ausgang nahm, unterhaltsam und nie langweilig zu schildern. Hier entsteht fast so etwas wie ein literarischer Ort, den Raimondi mit ihren bisher erschienen Romanen in der Landkarte der italienischen Literatur einschreibt und für dessen Beschreibung sie schon jetzt eine stimmige Mischung aus Historie, Gefühlen, familiärer Verbundenheit mitsamt einer Prise Mystik gefunden hat.

Es bleibt spannend zu sehen, ob sie wieder nach Stellata zurückkehren wird, um die hier aufgegriffenen Fäden fortzuführen und welche Form sie für dieser literarischen Orts- und Menschenchronik im nächsten Roman wählen wird.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20289-6 (Ullstein)
  • 432 Seiten. Preis: 24,99 €
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