Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens

Italienisches Tagebuch 1939/40

Beginnt er oder beginnt er nicht? In Iris Origos Tagebuch der Jahre 1939 und 1940 lässt sich die gespannte Lage kurz vor Kriegseintritt und die Konsequenzen nach der Mobilmachung aus Sicht der italienischen Landbevölkerung nachspüren. Nun hat der Berenberg-Verlag das Buch in der Übersetzung von Anne Emmert unter dem Titel Eine seltsame Zeit des Wartens auf Deutsch publiziert. Lektüre, die die Bedeutung des Kriegs unmittelbar erfahrbar macht.


Schreibe ich in der Einleitung von der Sicht der italienischen Landbevölkerung, dann ist das nur zum Teil richtig. Denn die Tagebuchschreiberin Iris Origo war zwar italienische Staatsangehörige, stammte aber ursprünglich aus Großbritannien und war mit einem begüterten Italiener verheiratet. Gemeinsam investierten sie ihre in die Ehe eingebrachten finanziellen Mittel in den Erwerb eines Landguts namens La Foce. Dieses in der Südtoskana gelegene Gut zeichnete sich vor allem durch die karge Umgebung aus, in der es sich befand. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung wollten die Origos das Land wieder urbar machen.

Aus diesem Hintergrund heraus erklärt sich auch die Sympathie, die Iris Origo anfänglich noch für den Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hegte. Dieser trieb unter dem Motto „Kampf für den Weizen“ die agrikulturelle Rückeroberung des kargen Landes voran. So profitierten auch die Origos von der Zuwendung der faschistischen Partei. Im Lauf der Zeit ist allerdings ein Wandel in der Wahrnehmung und Einstellung von Iris Origo feststellbar. Denn je näher der Krieg rückt, umso konkreter wird auch die Gefahr und die Bedrohung, was Origo zum Umdenken bewegt. Auch die Freundschaft mit einer antifaschistischen Familie sorgt für eine zunehmende Abkehr ihrer ursprünglichen Position.

Krieg zieht auf

Ihr Tagebuch widmet sich aus Sicht der Landbevölkerung dem aufkeimenden Zweiten Weltkrieg. Als begüterte, gebildete Frau mit besten Verbindungen hat sie dabei eine durchaus kosmopolitische Sicht auf die Dinge, die sich nicht nur in einer reinen Nabelschau der italienischen Verhältnisse erschöpft. Denn ihr Schwiegervater war nicht nur Bildhauer, sondern Freund des Dichter Gabriele D’Annunzio, der dem Faschismus unter Mussolini entscheidend den Boden bereitete. Ihr Patenonkel ist der US-amerikanische Botschafter in Rom, stets verkehrt Iris Origo unter Mächtigen der Republik.

Iris Origo - Eine seltsame Zeit des Wartens (Cover)

Insofern ist ihr Blick ein vielschichtiger. Sie erzählt von den Spannungen, die sich langsam auch unter der Bevölkerung breitmachen. Die Radioansprachen, die sich verdichtenden Zeichen, die auf Krieg stehen. Anschließend der Einmarsch Hitlers in Polen, der zum Auslöser des Zweiten Weltkriegs wird. Der Durchbruch an der Maginot-Linie, der Rückzu der Alliierten und die Eroberung Belgiens und Frankreichs, all diese zeitgeschichtlichen Themen bilden sich auch in Origos Eine seltsame Zeit des Wartens ab.

Dabei legt das Tagebuch davon Zeugnis ab, wie zwei Herzen in Origos Brust schlagen. Während ihr aktuelles Land Italien langsam aber sicher dem Kriegsbeginn entgegenschreitet oder taumelt, ist ihr Kopf auch stets bei den Entwicklungen in ihrem Heimatland England. Die aufkeimende anti-englische Stimmung, die verzweifelten Versuche der Diplomaten, den Krieg doch noch abzuwenden und die landläufige Meinung und Ressentiments der Landbevölkerung, ihr Tagebuch ist ganz nah dran an den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Der genaue Blick der Iris Origo

Origo erzählt von Presse, Propaganda und der großen Politik, die sich doch noch Hoffnung auf ein glimpfliches Ende des Konflikts macht, genauso von den expansionistischen Bestrebungen Deutschlands und dem sich verstärkenden Antisemtismus, der auf den Straßen offenbar wird. Aber auch die Vorzeichen des Kriegs im Privaten sind in ihrem Tagebuch immer wieder Thema.

Sie weiß aus erster Hand zu berichten, wie die Anzeichen des Kriegs nicht nur auf höchster politischer Ebene mehren, auch im letzten Winkel der Südtoskana liegt etwas in der Luft. So erweist sich die lange geplante Einfuhr eines Traktors, den Antonio für La Foce aus den USA importieren möchte, plötzlich als nicht zu überwindendes Hindernis. Auch sind es kleine Szenen wie die Notiz am 15. Mai, die einen Eindruck von der Geschwindigkeit und Macht jener Lawine gibt, die über der Welt niedergeht und die Menschen bis ins Innterste erschüttert.

15. Mai

Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens, S. 93

Es ist vielmehr Welthaltiges und dezidiert Politisches, das Iris Origo in ihren Tagebüchern der Jahre 1939 und 1940 umtreibt, denn persönliche Einblicke. So handelt sie nahezu im Vorbeigehen die Geburt ihres zweiten Kindes ab, erlaubt sich keinen Raum für Sentimentalitäten und erweist sich als genaue Beobachterin mit wachem Blick und offenen Ohren, die alle Schwingungen von den Regierungspalästen bis zu den Ackerschollen aufnimmt und beschreibt.

Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis

Zwei (in manchen Teilen fast etwas redundanten) Begleittexte in Form eines Nachworts von Iris Origos Enkelin Katia Lysy sowie einem Vorwort der Herausgeberin Lucy Hughes-Hallett begleiten das Werk, in dem auch die Übersetzerin Anne Emmert immer wieder hilreiche Verweise zu auftretenden Personen oder Ausrufen einfügt.

Hier lässt sich unmittelbar erlesen und erfahren, wie es gewesen sein muss, als plötzlich der Krieg vor der Tür stand und der ganze Kontinent in den Abgrund „schlafwandelte“, wie es Origo an einer Stelle formuliert. Dem Berenberg-Verlag gelingt hiermit die Entdeckung eines Werks der Zeitgeschichte, dessen Verfasserin mit feinem Sensorium auf die Druckunterschiede auf dem Kontinent reagiert. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis und ein Tagebuch, das besonders durch die kleinen und ruhigen Momente besticht

So schlicht wie nahegehend ihr Befund vom 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsbeginn:

Nach wie vor keine neuen Nachrichten, daher fuhren wir gestern Abend aufs Land zurück. Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens. S. 55

  • Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-949203-07-7 (Berenberg)
  • 136 Seiten. Preis: 22,00 €
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