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Sarah Winman – Das Fenster zur Welt

Von den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs bis in die Nachkriegszeit hinein zeichnet Sarah Winman in ihrem Roman Das Fenster zur Welt die Wege einer Gruppe von Menschen nach, für die Florenz zum Lebensmittelpunkt wird. Lektüre, die die Freundschaft feiert – und einem Papagei den großen Auftritt gönnt.


Schon in ihrem ersten auf Deutsch veröffentlichten Roman Lichte Tage erwies sich das Ausland für einen Engländer als der Ort, an demer hätte wirklich glücklich werden können. Damals war es die Provence, in der einer von Winmans Figuren zumindest kurzzeitig das Glück fand.

In ihrem neuen, ebenfalls wieder von Elina Baumbach ins Deutsche übertragenen Roman ist es nun erneut die Fremde, in der diesmal eine ganze Gruppe von Engländer*innen glücklich wird.

Doch bis es soweit ist, nimmt uns Sarah Winman erst einmal mit in die Endphase des Zweiten Weltkriegs, wo sich zwei ganz unterschiedliche Menschen vor den Toren von Florenz begegnen. Da ist die „englische Jungfer“ Evelyn, die sich als Kunsthistorikerin den Alliierten andienen will, um vor Ort die Kunstschätze von Florenz zu sichern und zu retten. Und da ist der junge Soldat Ulysses, der in den chaotischen Tagen rund um die Befreiung von Florenz zum ersten Mal einen Eindruck davon erhält, was diese Stadt mitsamt ihrer Bewohner und der reichlichen Kunstschätzen seit der Renaissance auszeichnet.

Der Zauber von Florenz

Sarah Winman - Das Fenster zur Welt (Cover)

Ein Intermezzo in London währt dann auch nicht lange, ehe Ulysses dem Zauber von Florenz erneut erliegt. Denn in den ersten Tagen in der befreiten Stadt hat er die Bekanntschaft mit einem Florentiner gemacht, der ihm nun nach seinem Tod dort gleich zwei große Wohnungen in einem Stadthaus vermacht. Und so beschließt Ulysses, zusammen mit der Tochter seiner Gattin nach Italien aufzubrechen. Die Gattin selbst bleibt in England zurück, die Ehe der beiden glich aber sowieso einem Zufallsprodukt. Gesellschaft an seiner Seite leistet ihm an ihrer statt Cressy, ein Freund der Familie.

Über die Jahre hinweg beobachtet Sarah Winman nun das Treiben dort in der Renaissancestadt, das ähnlich bunt ist wie die außergewöhnliche Gruppe um Ulysses. Sogar Claude, ein Papagei aus einem Londoner Pub, erhält in der neuen Wohnung seinen Platz.

Wie Ulysses dort ankommt, Freundschaften schließt und sich in seinem neuen Leben einrichtet, das beschreibt Winman anschaulich und anrührend. Immer wieder erhält Ulysses dort in Florenz auch Besuch von einer Gruppe aus London um seine Frau Ex-Peg. Dem Zauber Italiens und insbesondere dem von Florenz kann man sich eben doch nicht entziehen, selbst wenn man im fernen England lebt.

Die Feier von Freundschaft und Verbundenheit

Das Fenster zur Welt ist die Feier von Freundschaft und von tiefem Verständnis, das die Figuren untereinander entwickeln. Denn obschon die Beziehung zu seiner Ex-Frau schwierig ist, mancherlei Katastrophen wie die Überschwemmung von Florenz durch den Arno 1966 auf die zugezogenen Florentiner warten – im freundschaftlichen Verbund mit Bekannten, Freunden und Papagei übersteht man selbst die schlimmsten Unglücke, wie Sarah Winman in ihrem Buch zeigt.

Liebe, Romanzen, Verlust und Tod sind Themen, die in diesem Buch behandelt werden. Schwer ist Das Fenster zur Welt aber nie, sondern ist immer vom Gefühl von la dolce vita getragen. Der Hotelbetrieb mitsamt seiner illustren Gäste und die omnipräsente Kunst zwischen Pontormos Kreuzabnahme und Michelangelos David versprüht viel Leichtigkeit und Freude. Diese Freude und die Erinnerungen an die wechselvolle Beziehung mit Florrenz sind es dann auch, die Evelyn wieder nach Florenz locken und sie schließlich auch mit der Freundesgruppe um Ulysses zusammenführen wird. Hier findet alles in einer großen Feier der Verbundenheit und Freundschaft zusammen.

Vielleicht manchmal etwas eine Spur zu locker und mit dem Sentenzen absondernden, hochintelligenten Papagei Claude manchmal etwas nah an der Karikatur ist Sarah Winmans Roman am Ende einfach buchgewordener Urlaub in Italien. Die Lektüre von Das Fenster zur Welt weckt während der Lektüre Lust, selbst baldmöglichst über die Ponte Veccio und durch die Gassen der Stadt am Arno zu strawanzen.

Fazit

Bevor im Oktober Italien vollends in den Fokus der literarischen Aufmerksamkeit rückt, kann man hier schon einmal vorab eine Reise nach Italien unternehmen und zusammen mit Sarah Winman die Schönheit und Anziehungskraft von Florenz erkunden.

Das Fenster zur Welt ist die Feier von Freundschaft und zeigt Menschen, die fernab von konventionellen Lebensmodellen und Rollenbildern miteinander im Einvernehmen miteinander stehen. Getragen von einem tiefen Verständnis füreinander ist dieser Roman – obschon von einer Engländerin verfasst – von italienischer Leichtigkeit durchzogen. Leicht zu lesen, aber keineswegs banal mit großen Bögen über die Jahre hinweg stellt Sarah Winmans Buch eine ideale Einstimmung auf den Sommer und auf den nächsten Urlaub jenseits des Brenners dar.


  • Sarah Winman – Das Fenster zur Welt
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-96606-0 (Klett Cotta)
  • 528 Seiten. Preis: 26,00 €
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Elsa Morante - La Storia (Cover)

Elsa Morante – La Storia

Mit La Storia wagt der Wagenbach-Verlag die Neuausgabe des antifaschistischen Monumentalromans von Elsa Morante aus dem Jahr 1974. In der Übersetzung von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski gibt es die Geschichte von Ida und ihren beiden gegensätzlichen Kindern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs nun (wieder) neu zu entdecken. Ein Buch, das zur im wahrsten Sinne des Wortes zur rechten Zeit kommt.


Es ist eine augenfällige Diskrepanz zwischen dieser Neuausgabe des Wagenbachverlags und der Originalausgabe von La Storia im italienischen Verlag Einaudi im Jahr 1974. Denn einst bestand die Autorin Elsa Morante auf einer preisgünstigen Taschenbuchausgabe, um eine möglichst hohe Verbreitung ihres Romans zu erzielen. Nun, genau fünfzig Jahre und einige Preissteigerungen später, gibt es den Roman für stolze 38 Euro als Hardcover bei Wagenbach neu zu erwerben. Einer möglichst großen Verbreitung leistet ein derartiger Preis in Zeiten eh schon zurückhaltenden Konsumstimmung wahrscheinlich keinen großen Vorschub.

Nachvollziehbar, klug und notwendig ist diese Neuedition aber unbedingt. Schließlich gibt es hier einen Roman (wieder) zu entdecken, der psychologisch genau, historisch akkurat und eindringlich von den Kriegsgräueln, vom Leben unter dem Faschismus und vom Durchschlagen dreier unterschiedlicher Figuren erzählt. Ein Meilenstein der italienischen Nachkriegsliteratur, dem man sein Altern nahezu nicht anmerkt und der in der psychologischen Durchleuchtung und dem Sinn für widerständiges, manchmal erratisches und sprunghaftes Verhalten seiner Figuren zeitgenössischen italienischen Autor*innen wie Elena Ferrante vorangegangen ist.

Der Zweite Weltkrieg in Rom

Hauptsächlich chronologisch angeordnet läuft dieser Roman, obschon 1900 ansetzend, schnell auf das Jahr 1941 zu, in dem die Haupthandlung von La Storia einsetzt. Sechs Jahre umfasst die Handlung, die auch die einzelnen Kapitel des Romans bilden. Im Telegrammstil vorangestellte Zusammenfassung des politischen Geschehens, das im Menetekel des 2. Weltkriegs enden sollte, zeichnen diese kurzen Geschichtssplitter nach, ehe Morante in den folgenden Kapitel die Auswirkungen des großen Weltgeschehens auf die „kleinen“ Menschen in der Romanhandlung selbst beschreibt.

Elsa Morante - La Storia (Cover)

Dies gelingt ihr, indem sie die Römerin Ida in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Zum Zeitpunkt der Handlung zwar erst 37, dennoch bereits verwitwet, lebt die Grundschullehrerin mit ihrem Sohn Nino im römischen Stadtviertel San Lorenzo.

Als ob die Erziehung ihres Wildfangs von Sohn nicht schon herausfordernd genug wäre, wird Ida im Zuge der Vergewaltigung durch einen deutschen Soldaten im Jahr 1941 schwanger und gebärt den kleinen Giuseppe, genannt Useppe. Während nun der Zweite Weltkrieg auch in Rom unter Benito Mussolini auf seinen grausamen Höhepunkt zusteuert, wird die Lage für die drei Figuren immer komplizierter.

Aufgrund einer möglichen jüdischen Familienkomponente kippt die Nervosität von Ida zunehmend ins Panische. Die Lebensmittel werden immer weniger, die Not immer größer. Der kleine Useppe leidet ebenso wie seine Mutter Mangel – und der halbstarke Nino hat sich den Partisanen angeschlossen, um die Deutschen zu bekämpfen, die Rom kontrollieren. Für ihn kommt diese Zeit einem großen Abenteuerspielplatz gleich, der auch das Austesten der eigenen Grenzen und Männlichkeit erlaubt, während sich seine Mutter immer enger in ihr soziales und psychologisches Schneckenhaus zurückzieht.

Dann wird im Zuge des Kriegsgeschehens auch noch das Zuhause der Familie ausgebombt. Immer enger zieht sich die Schlinge des Leids und Elends um die Kehlen von Morantes Figuren.

Die Auswirkungen des Kriegs, unmittelbar erfahrbar

La Storia erzählt anschaulich von den Auswirkungen des Krieges. Unbarmherzig und mit genauem Blick schreitet Elsa Morante den Weg ab, den der Faschismus unter Adolf Hitler und Benito Mussolini für Italien bereitet hat. Die Not und das Elend der Zivilbevölkerung steht in Morantes Roman ebenso im Blick, wie sie auch tief in die Seelen von Ida und ihrer beiden so gegensätzlichen Kindern blickt.

Den täglichen Kampf um eine Handvoll Brot, die Entbehrungen, die Stimmungen und Verfasstheit des proletarischen Roms zur Zeit des Weltkriegs und in der Nachkriegszeit, das zeigt La Storia in starken Bildern. Auch gelingt der 1912 im römischen Stadtteil Testaccio geborenen Autorin das Kunststück, schwierige, da kantige und nicht unbedingt zur Identifikation einladende Figuren zu zeichnen, die im Mittelpunkt ihres Romans stehen.

Der aufsässige Nino, seine überforderte und in ihrer Überspanntheit manches Mal kaum zu ertragende Ida, dazu noch der kindliche Nino, der zwischen liebenswerten Kleinkind und Simpel pendelt: es ist allesamt schwieriges und nicht unbedingt sympathisches, aber genau dadurch markantes Romanpersonal, mit dem Elsa Morante glaubhaft ihre antifaschistische Botschaft transportieren kann.

Über 750 Seiten lang begleitet sie akribisch ihre Figuren und deren Schicksale. Das vielfache Leid und familiäre Unglück, das Faschismus in seinen Konsequenzen bedeutet, wird hier eindringlich erfahrbar, ohne dass der moralische Zeigefinger in irgendeiner Form überdehnt wird.

Antifaschistische Lektüre in Zeiten von italienischem Postfaschismus

In Zeiten, in denen in Italien Postfaschisten regieren und auch hierzulande rechte Antidemokraten erstarken, die ebendiese Zeit des Faschismus bagatellisieren und verklären wollen, gewinnt die vom Wagenbach-Verlag angestoßene Neuausgabe noch einmal an Bedeutung. Dass hier wieder eine Zugänglichkeit zu Elsa Morantes Text geschaffen wurde, ist mehr als nur zu begrüßen.

Klaudia Ruschkowski und Maja Pflug haben den Text in ein ansprechendes Sprachgewand gekleidet, haben Dialektfetzen und Liedzeilen im Original belassen und tragen deren Inhalt nach – und sorgen mit dieser Arbeit auch maßgeblich dazu, dass La Storia so neu und frisch zugänglich ist, dass es unbedingt wieder (neu) entdeckt werden sollte.

Und wer bei dem Preis des Buchs nachvollziehbarerweise schlucken sollte – an dieser Stelle sei auch wieder einmal der Hinweis auf Bibliotheken und deren Bestand und die Möglichkeit einer E-Leihe bei den angebracht. Auch ein Anschaffungsvorschlag beim Personal kann dafür sorgen, dass solche wichtigen Bücher wieder an möglichst vielen Stellen zu lesen sind, eben ganz so, wie es sich Elsa Morante vor fünfzig Jahren wünschte. Es wäre wichtig und würde sich in diesen Zeiten in vielfacher Hinsicht lohnen!


  • Elsa Morante – La Storia
  • Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
  • ISBN 978-3-8031-3365-6 (Wagenbach)
  • 768 Seiten. Preis: 38,00 €
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Robbie Arnott – Limberlost

Literatur aus Tasmanien findet sich gar nicht so häufig in den hiesigen Buchläden. Richard Flanagan dürfte der bekannteste Vertreter der Literaturszene auf der australischen Insel sein. Doch mit Robbie Arnott hat der Berlin-Verlag nun einen weiteren Vertreter aus Down Under in seinem Portfolio. Dieser macht mit seinem deutschsprachigen Debüt Limberlost gleich einmal auf sich aufmerksam.


Limberlost, so heißt jene Plantage, auf der der junge Ned West aufwächst. Seine beiden großen Brüder Bill und Toby sind verdingen sich als Rekruten irgendwo im Zweiten Weltkrieg. Da zu jung, ist Ned der einzige männliche Spross, der zusammen mit seiner Schwester Maggie bei seinem Vater auf der Plantage zurückgeblieben ist.

Während der schweigsame Vater mit dem Ertrag der Apfelplantage kämpft, durchstreift Ned die paradiesische Natur Tasmaniens, die vor seiner Haustür beginnt. Dabei treibt ihn ein bestimmtes Ziel an. Denn seit er im Alter von fünf Jahren von einem Wal hörte, der im nahegelegenen Fluss für Zerstörung und vor allem viel Gerüchte gesorgt hatte, ist er von der Welt des Wassers fasziniert. Mit einem eigenen Boot könnte er den Fluss vor der Haustür bereisen, selbst auf Fahrt gehen und so dem Trott zuhause entfliehen.

Der Traum vom eigenen Boot

Robbie Arnott - Limberlost (Cover)

Doch für einen Jungen mit keinem nennenswerten Einkommen liegt der Traum eines eigenen Boots natürlich in weiter Ferne. Doch Ned ist erfinderisch und beginnt, die Kaninchen zu jagen, die das Gelände um die heimische Farm zu Hunderten bevölkern. Er wird zu einem geschickten Jäger und Fallensteller, der die Kaninchen erlegt, um ihre Felle dann einem Krämer im nahegelegenen Beaconsfield im Norden der Insel zu verkaufen. Aus den Fellen werden Mützen für die Soldaten im Zweiten Weltkrieg – und Ned erhält für die abgenommenen Felle ein Honorar, das er eisern spart, um seinem Traum so näherzukommen.

Limberlost erzählt die Geschichte eines Sommers, der an einigen Stellen von Rückblenden des Lebens des erwachsenen Ned durchbrochen wird. Es ist ein Sommer, in dem Ned an der Schwelle vom Jungen zum Mann steht, was auch durch die Rückblenden so noch einmal betont wird. Dadurch fällt Arnotts Roman in die Gattung des klassischen Coming of Age Novels.

Genauso ist sein Roman aber auch eine Feier der überwältigenden Schönheit der Natur Tasmaniens, die Arnott ebenso vorzüglich wie seine Landsmänner Richard Flanagan oder auch Kyle Perry in Prosa zu bannen weiß (die Nikolaus Hansen ins Deutsche übersetzt hat):

ein Wald voll großer Farne und heller Pilze, mit ebenem Boden und dickstämmigen Bäumen, klaren Bächen und kühlem Schatten, ein Wald von unergründlichen, geheimnisvollen Tiefen. Ein Ort mit dunkeläugigen Wallabys und feistgesichtigen Possums und flackernden Zaunkönigen und adlergroßen Raben und vorstellbaren Mengen von Kaninchen. Ein Ort, so gänzlich anders als Weideland, Flusslandschaft und Obstplantagen, dass Ned, als er anfing, sich seinen Weg durch diese Natur zu bahnen, die belaubte Erde hinter sich ließ und jener Version der Welt, wie er sie kannte, entschwebte.

Robbie Arnott – Limberlost, S. 98

Blut und Sonnenschein

Dass dieses Buch allerdings keineswegs die Verklärung einer Kindheit oder einer unberührten, romantischen Naturidylle ist, das macht Arnott auch klar. Wenn es in einer Passage des Buchs heißt, dass Blut und Sonnenschein Neds Tage erfüllten, dann bringt das auch die Programmatik dieses Romans gut auf den Punkt. Denn neben der jugendlichen Begeisterung für das Boot und das Tom Sawyer-artige Durchstreifen der Landschaft erzählt Limberlost auch von den Brüchen, von der Allgegenwart des Todes, etwa in Form des blutigen Handwerks der Kaninchenjagd oder des aus der Ferne grüßenden Geschehens auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs.

So muss Ned im Lauf seines Lebens nicht nur den Traum des eigenen Schiffes beerdigen, ohne an dieser Stelle weitere Volten der Handlung vorwegnehmen zu wollen. Ebenso wie Limberlost von Idealen und Paradiesen erzählt, findet auch eine Zerstörung dieser Paradiese statt. Immer wieder bricht die erwachsene Welt des Abschieds in die kindliche Welt der Idylle dort in Tasmanien ein.

Das verleiht dem Buch Tiefe und kontrastiert die Welt Neds auf hervorragende Art und Weise, sodass dieses Buch für eine wirklich große Leserschaft eine Empfehlung verdient

Fazit

Robbie Arnotts Einstand namens Limberlost ist ein bittersüßes, melancholisches, lebenspralles, ebenso sinnliches wie luzides Werk, mit dem er sich schon jetzt einen Platz auf der literarischen Landkarte Tasmaniens sichert. Eine wirklich Entdeckung, die Lust macht auf weitere Titel aus seiner Feder!


  • Robbie Arnott – Limberlost
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1490-0 (Berlin-Verlag)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens

Italienisches Tagebuch 1939/40

Beginnt er oder beginnt er nicht? In Iris Origos Tagebuch der Jahre 1939 und 1940 lässt sich die gespannte Lage kurz vor Kriegseintritt und die Konsequenzen nach der Mobilmachung aus Sicht der italienischen Landbevölkerung nachspüren. Nun hat der Berenberg-Verlag das Buch in der Übersetzung von Anne Emmert unter dem Titel Eine seltsame Zeit des Wartens auf Deutsch publiziert. Lektüre, die die Bedeutung des Kriegs unmittelbar erfahrbar macht.


Schreibe ich in der Einleitung von der Sicht der italienischen Landbevölkerung, dann ist das nur zum Teil richtig. Denn die Tagebuchschreiberin Iris Origo war zwar italienische Staatsangehörige, stammte aber ursprünglich aus Großbritannien und war mit einem begüterten Italiener verheiratet. Gemeinsam investierten sie ihre in die Ehe eingebrachten finanziellen Mittel in den Erwerb eines Landguts namens La Foce. Dieses in der Südtoskana gelegene Gut zeichnete sich vor allem durch die karge Umgebung aus, in der es sich befand. Zusammen mit der lokalen Bevölkerung wollten die Origos das Land wieder urbar machen.

Aus diesem Hintergrund heraus erklärt sich auch die Sympathie, die Iris Origo anfänglich noch für den Faschismus unter dem Duce Benito Mussolini hegte. Dieser trieb unter dem Motto „Kampf für den Weizen“ die agrikulturelle Rückeroberung des kargen Landes voran. So profitierten auch die Origos von der Zuwendung der faschistischen Partei. Im Lauf der Zeit ist allerdings ein Wandel in der Wahrnehmung und Einstellung von Iris Origo feststellbar. Denn je näher der Krieg rückt, umso konkreter wird auch die Gefahr und die Bedrohung, was Origo zum Umdenken bewegt. Auch die Freundschaft mit einer antifaschistischen Familie sorgt für eine zunehmende Abkehr ihrer ursprünglichen Position.

Krieg zieht auf

Ihr Tagebuch widmet sich aus Sicht der Landbevölkerung dem aufkeimenden Zweiten Weltkrieg. Als begüterte, gebildete Frau mit besten Verbindungen hat sie dabei eine durchaus kosmopolitische Sicht auf die Dinge, die sich nicht nur in einer reinen Nabelschau der italienischen Verhältnisse erschöpft. Denn ihr Schwiegervater war nicht nur Bildhauer, sondern Freund des Dichter Gabriele D’Annunzio, der dem Faschismus unter Mussolini entscheidend den Boden bereitete. Ihr Patenonkel ist der US-amerikanische Botschafter in Rom, stets verkehrt Iris Origo unter Mächtigen der Republik.

Iris Origo - Eine seltsame Zeit des Wartens (Cover)

Insofern ist ihr Blick ein vielschichtiger. Sie erzählt von den Spannungen, die sich langsam auch unter der Bevölkerung breitmachen. Die Radioansprachen, die sich verdichtenden Zeichen, die auf Krieg stehen. Anschließend der Einmarsch Hitlers in Polen, der zum Auslöser des Zweiten Weltkriegs wird. Der Durchbruch an der Maginot-Linie, der Rückzu der Alliierten und die Eroberung Belgiens und Frankreichs, all diese zeitgeschichtlichen Themen bilden sich auch in Origos Eine seltsame Zeit des Wartens ab.

Dabei legt das Tagebuch davon Zeugnis ab, wie zwei Herzen in Origos Brust schlagen. Während ihr aktuelles Land Italien langsam aber sicher dem Kriegsbeginn entgegenschreitet oder taumelt, ist ihr Kopf auch stets bei den Entwicklungen in ihrem Heimatland England. Die aufkeimende anti-englische Stimmung, die verzweifelten Versuche der Diplomaten, den Krieg doch noch abzuwenden und die landläufige Meinung und Ressentiments der Landbevölkerung, ihr Tagebuch ist ganz nah dran an den verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Der genaue Blick der Iris Origo

Origo erzählt von Presse, Propaganda und der großen Politik, die sich doch noch Hoffnung auf ein glimpfliches Ende des Konflikts macht, genauso von den expansionistischen Bestrebungen Deutschlands und dem sich verstärkenden Antisemtismus, der auf den Straßen offenbar wird. Aber auch die Vorzeichen des Kriegs im Privaten sind in ihrem Tagebuch immer wieder Thema.

Sie weiß aus erster Hand zu berichten, wie die Anzeichen des Kriegs nicht nur auf höchster politischer Ebene mehren, auch im letzten Winkel der Südtoskana liegt etwas in der Luft. So erweist sich die lange geplante Einfuhr eines Traktors, den Antonio für La Foce aus den USA importieren möchte, plötzlich als nicht zu überwindendes Hindernis. Auch sind es kleine Szenen wie die Notiz am 15. Mai, die einen Eindruck von der Geschwindigkeit und Macht jener Lawine gibt, die über der Welt niedergeht und die Menschen bis ins Innterste erschüttert.

15. Mai

Die Kapitulation Hollands wird mit beträchtlicher Schadenfreude vermeldet. Noch am gleichen Tag bekommt ein Lebensmittelhändler in Florenz einen Brief von einer deutschen Firma, die ihm bereits holländische Käsesorten anbietet.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens, S. 93

Es ist vielmehr Welthaltiges und dezidiert Politisches, das Iris Origo in ihren Tagebüchern der Jahre 1939 und 1940 umtreibt, denn persönliche Einblicke. So handelt sie nahezu im Vorbeigehen die Geburt ihres zweiten Kindes ab, erlaubt sich keinen Raum für Sentimentalitäten und erweist sich als genaue Beobachterin mit wachem Blick und offenen Ohren, die alle Schwingungen von den Regierungspalästen bis zu den Ackerschollen aufnimmt und beschreibt.

Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis

Zwei (in manchen Teilen fast etwas redundanten) Begleittexte in Form eines Nachworts von Iris Origos Enkelin Katia Lysy sowie einem Vorwort der Herausgeberin Lucy Hughes-Hallett begleiten das Werk, in dem auch die Übersetzerin Anne Emmert immer wieder hilreiche Verweise zu auftretenden Personen oder Ausrufen einfügt.

Hier lässt sich unmittelbar erlesen und erfahren, wie es gewesen sein muss, als plötzlich der Krieg vor der Tür stand und der ganze Kontinent in den Abgrund „schlafwandelte“, wie es Origo an einer Stelle formuliert. Dem Berenberg-Verlag gelingt hiermit die Entdeckung eines Werks der Zeitgeschichte, dessen Verfasserin mit feinem Sensorium auf die Druckunterschiede auf dem Kontinent reagiert. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis und ein Tagebuch, das besonders durch die kleinen und ruhigen Momente besticht

So schlicht wie nahegehend ihr Befund vom 30. August 1939, zwei Tage vor Kriegsbeginn:

Nach wie vor keine neuen Nachrichten, daher fuhren wir gestern Abend aufs Land zurück. Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.

Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens. S. 55

  • Iris Origo – Eine seltsame Zeit des Wartens
  • Aus dem Englischen von Anne Emmert
  • ISBN 978-3-949203-07-7 (Berenberg)
  • 136 Seiten. Preis: 22,00 €
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Steffen Schroeder – Planck

oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor

Max Planck dürfte man vielleicht noch aus dem Physikunterricht oder als Namenspate der gleichnamigen Gesellschaft kennen, die Institute für physikalische Forschungen betreibt. Welche Dramatik sein Leben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs barg, unter anderem davon erzählt Steffen Schroeder in seiner Geschichtsstunde Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor eindrucksvoll.


An der Musik kann man sich aufrichten, hat er seinen Kindern immer erklärt. Und an der Physik. Das mit der Musik haben sie sofort verstanden. Aber was er so liebt an der Physik, hat ihn Erwin als Kind einmal gefragt.

„Die Physik“, hat er geantwortet, „versucht, uns die Welt zu erklären. Was kann es Schöneres und Beruhigenderes geben?“

Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor, S. 308

Doch was ist, wenn die unumstößlichen Grundsätze und Regeln der Physik plötzlich nicht mehr zu gelten scheinen? Wenn sich sicher geglaubte Gewissheiten auflösen, die Rationalität nicht mehr zu greifen scheint und ein ganzes Land verrückt geworden zu sein scheint? Dem spürt Steffen Schroeder in seinem Roman nach, in dem er eine ganze Reihe von Naturwissenschaftler*innen zur Zeit des Nationalsozialismus porträtiert und zeigt, wie sich der Verlust von Sicherheit und Gewissheiten auf sie auswirkt.

Die Physiker

Dabei bildet Max Planck als Titelheld den Hauptpart in Schroeders Geschichtsstunde. Beginnend im Oktober 1944 zeigt er den Nobelpreisträger im Exil. Nach den Bombenangriffen ist er zusammen mit seiner Frau Marga aufs Land nach Rogätz an der Elbe geflohen. Die Nazis erwarten sich von ihm als herausragenden Forscher ein öffentliches Bekenntnis zum Führer, doch Planck kann und will ihnen dieses Bekenntnis nicht geben.

Steffen Schroeder - Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor (Cover)

Ihn treibt der Gedanke um seinen Sohn Erwin um, der im Gefängnis in Berlin Tegel sitzt und seiner Hinrichtung harrt. Dieser hatte sich im Kreis der Verschwörer rund um Carl Friedrich Goerdeler engagiert und schon früh vor den Kriegsplänen Hitlers gewarnt. Als Intimus des früheren Reichskanzlers Kurt von Schleicher war Planck bei den Nazis eh schon nicht wohlgelitten und wurde unter Vorsitz von Roland Freisler vor dem „Volksgerichtshof“ schließlich zum Tode verurteilt.

Planck will seine Kontakte nutzen, um das Todesurteil gegen seinen Sohn in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Währenddessen ist es Erwin Plancks Frau Nelly, die in der Charité unter Wilhelm Sauerbruch unermüdlich Kranke und Verletzte operiert und versorgt. Und auch in der neutralen Schweiz im sogenannten Burghölzli kümmert man sich in diesen letzten Tagen des Jahres 1944 um Versehrte – hierbei handelt es sich aber am psychisch beeinträchtigte Patient*innen, die dort in der heute unter dem Namen Psychiatrische Universitätsklinik Zürich bekannten Klinik mit teils drastischen Methoden „therapiert“ werden. Einer der Patienten: Eduard Einstein, Sohn des weltberühmten Physikers und Vater der Relativitätstheorie, der derweil in Princeton im Exil lebt und einst von Max Planck entdeckt wurde.

Widersprüche und der Verlust von Gewissheit

Um dieses Figurenensemble herum gruppiert Steffen Schroeder seine Erzählung, die die teils widersprüchlichen Figuren eindrucksvoll in Szene setzt. Einstein, der sich von seinen Frauen schnell eingeengt fühlt und in Affären stürzt und trotz aller physikalischen Hellsichtigkeit privat doch bemerkenswert verblendet ist, Sauerbruch, der als hochdekorierter Arzt von Berlin aus ins unterfränkische Amorbach reist und dabei die SS-Schergen am Wegesrand stehen lässt, Planck, dem aller Ruhm nicht nützt, um seinen Sohn aus der Haft der Nazis zu befreien und der sich zudem weigert, an der Entwicklung der „Deutschen Physik“ mitzuwirken.

Steffen Schroeders Buch ist pointiert in seiner Darstellung dieser Physiker, obschon sein Buch nicht davor gefeit ist, in manchen Erklärpassagen etwas zu theoretisch zu werden, etwa wenn er die Hintergründe zur Entdeckung der Röntgenstrahlen oder den Ebert’schen Badehosenskandal noch einmal nacherzählt.

Solche Wikipedia-artigen Exkurse bleiben aber in der Minderheit, weil sich Schroeder neben seinem Panoptikum der Physiker*innen von Lise Meitner bis zu Otto Hahn eben auch auf die Brüche im Leben seiner Hauptfiguren konzentriert. Die Verluste sämtlicher Gewissheiten und den krassen Widerspruch der Verlässlichkeit physischer Regeln und dem erratischen Treiben in den letzten Monaten des Kriegs, Steffen Schroeder arbeitet all das wunderbar heraus – vielleicht auch bedingt durch die eigene biografische Nähe zum Objekt seines Schreibens. Denn der Autor ist entfernt mit Max Planck verwandt und hat für seinen Roman viele zum Teil unbekannte Korrespondenzen und Schriftstücke des Physiknobelpreisträger gehoben und gesichtet.

So entsteht ein Buch, das neben viel Geschichtsstunde und Naturkunde eben auch Raum für die Dramen des Lebens lässt. Wie sich Erwin Planck noch einmal hinausträumt in die Welt, wie Einstein die Verfehlungen seines Lebens räsoniert oder Planck senior Rückschau auf Erreichtes und Verpasstes hält, das ist ausnehmend gut gemacht und geht nahe, ohne auf die emotionale Tränendrüse zu drücken.

Fazit

Steffen Schröder erzählt souverän und hochinteressant vom Verlust der Gewissheiten, vom Widerspruch physikalischer Sicherheiten und erlebtem Chaos und von Fehlern, vor denen nicht einmal ein Nobelpreis bewahren kann. All das verdichtet er auf die letzten Monate des Kriegs, wobei durch die Fokussierung auf sein Ensemble aus Figuren zu keinem Zeitpunkt Langeweile entsteht. Eine packende Geschichtsstunde, die die Zeit von Oktober 1944 bis zum Sieg der Alliierten in den persönlichen Biografien und Schicksalschlägen von Schroeders Naturwissenschaftler*innen noch einmal nacherlebbar werden lässt.


  • Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 174367
  • 320 Seiten. Preis: 21,00 €
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