Tag Archives: Coming of Age

Lion Christ – Sauhund

Monaco Flori. In seinem Debüt Sauhund schickt Lion Christ den jungen Flori Anfang der 80er Jahre aus Wolfratshausen nach München , wo dieser in die schwule Welt der Landeshauptstadt eintaucht und sich durchs Leben schlägt, immer auf der Suche nach seinem Platz im Leben.


München, das ist Oktoberfest, Englischer Garten, Monaco Franze, Frauenkirche und Biergartenbehaglichkeit. So zumindest, wenn man Klischees über die bayerische Landeshauptstadt und das dortige Lebensgefühl bemüht.

Neben derlei Allgemeinplätzen gab es aber auch immer eine queere Subkultur in dieser sonst so heteronormativen Welt, die sich zwar weltoffen nennt, in der aber kein Regenbogen am weiß-blauen Horizont zu sehen ist und in der eine queere Kinderbuchlesung in einer Stadtbücherei schon einmal zu Shitstorms, Demonstrationen und Drohungen führt.

Will man das queere Leben in der München sucht, dann wird man im Glockenbachviertel fündig. Hier schlägt das Herz einer Stadt, die schwule Künstler wie Rainer Werner Faßbinder ebenso wie internationale Stars wie Freddie Mercury in den 80er Jahren anlockte (worüber, nebenbei bemerkt, dem Münchner Autor Nicola Bardo im vergangenen Jahr ein veritabler Bestsellererfolg gelang). München, das ist auch die Lebenswelt von Flori, den es nach seinem Zivildienst im Wolfratshauser Altenheim und einer anschließend unrühmlich zu Ende gegangenen Episode im Loisachkaufhaus in den Nachbarlandkreis in die große Landeshauptstadt verschlagen hat.

Aus Wolfratshausen nach München

Dort hält er sich mehr schlecht als recht über Wasser, kommt erst bei einer Freundin unter, rutscht dann aber immer weiter auf der sozialen Ebene nach unten. Während er sich im schwulen Nachtleben ausleben möchte, wie es ihm im kleinen Sonnkirchen mit seinen sozialen Kontrollmechanismen und der landläufigen Homophobie nicht möglich war, ist ihm auch beruflich eine „normale“ Rolle suspekt. Lieber schnorrt er sich durch, muss sich in schlechten Phasen selbst prostituieren, um irgendwie durchzukommen. Aber sein Wille zum Glück ist ungebrochen, auch wenn er sich selbst oft genug im Weg steht.

Lion Christ beobachtet seinen Ich-Erzähler dabei, wie er die Flucht aus der Enge der Heimat antritt, die Verheißung Münchens aber auch nicht wirklich in eigenes Glück umzumünzen vermag. Schon früh treibt die Mutter die Sorge um, was aus diesem Jungen einmal werden soll. Nach der Lektüre von Sauhund vermag man es auch noch nicht zu sagen, hat aber einen guten und interessanten Roman über einen Stolperer im Leben gelesen, weil er eben auch sehr hell das ausleuchtet, was im heterosexuellen Kontext sonst weniger Thema ist, sei es auch nur das Geschehen in öffentlichen Toiletten, in denen sich Flori des Öfteren herumtreibt.

Der Sauhund schlägt sich durch

Lion Christ - Sauhund (Cover)

Dieses Debüt ist reichlich explizit, schildert das Treiben in den mit Plüsch ausgekleideten Bars und Kneipen des Glockenbachviertels genauso wie Cruising und schwulen Sex. Was in eine plumpe und voyeuristische Heinz-Strunk-haftigkeit abrutschen könnte, entgleitet dem Autor allerdings dadurch nicht, da er auch großes Talent für die zarten Momente, für die Sehnsüchte und die Unmöglichkeit der Kommunikation eigener Gefühle und Bedürfnisse an den Tag legt.

So ist Sauhund ein Buch, das die in den 80ern weit verbreitete Tabuisierung homosexuellen Lebens in der Stadt und besonders auf dem Dorf in treffenden Bildern zeigt. Zu den berührendsten Szenen des Romans zählt, wie Christ das absehbare Coming Out des Jungen beschreibt, zu dem es in Floris Elternhaus in Wolfratshausen allerdings nicht kommt. Der zuoberst auf dem Lesestapel der Mutter liegende Spiegel, der mit der AIDS-Krise aufmacht, ist da noch die größte Andeutung des Wissens um die Queerness ihres Sohnes – wirklich ausgesprochen werden die Wünsche und Sorgen allerdings erst reichlich spät in diesem Roman.

Coming of Age – aber in gut

Lion Christs Debüt reiht sich ein die Riege dutzender Coming of Age-Romane, die seit einiger Zeit den Buchmarkt überfluten. Aber ähnlich wie zuletzt Charlotte Gneuß mit ihrem Debüt Gittersee gelingt es auch Christ dem eigentlich schon recht auserzählten Genre eine interessante und lesenswerte Facette abzuringen, indem er ein schwules Coming of Age erzählt, das der sonst sehr heteronormativ geprägten Gattung zuwiderläuft.

Und ähnlich wie Charlotte Gneuß muss man auch Lion Christ großen Respekt zollen, wie er es schafft, eine Milieu zu einer Zeit zu beschreiben, die er selber so gar nicht miterlebt haben kann. Christ, der nach Angaben seines Verlags Ende der 90er Jahre geboren wurde, kam damit erst zwanzig Jahre nach den im Buch beschriebenen Ereignissen zur Welt, legt aber großes literarisches Geschick in Sachen milieu- und zeitgeschichtlicher Präzision an den Tag, eingekleidet in eine klar bayerische Diktion, die sich gut in die Geschichte einfügt, ohne zu künstlich oder aufgesetzt zu wirken.

Dabei rückt er den Roman sogar in die Tradition oder viel mehr Gegentradition des Monaco Franze, jenes legendären Schürzenjägers aus Helmut Dietls Fernsehserie, der ebenfalls Anfang der 80er Jahre allerdings die Damenwelt Münchens unsicher machte. Hier ist es nun Monaco Flori, der sich durch das Nachtleben der Stadt treiben lässt, bei verschiedenen Männern sein Glück versucht und der auf dem Gärtnerplatz schon einmal eine Dialoghommage belauscht, die das Provinzielle, den rechten Scheißdreck der Darbietung im nebenan gelegenen Theater verdammt, wenn man sich mal nicht als „Spatzl“ tituliert.

Fazit

Ein prima Debüt, das sich mit einer Coming of Age-Geschichte im schwulen München einem Milieu verschreibt, das sonst nicht allzu häufig erzählerisch beleuchtet wird. Explizit, bayerisch, hoffnungslos und hoffnungsvoll, berührend und komisch ist diese Geschichte Floris, die Lion Christ in Sauhund präsentiert.


  • Lion Christ – Sauhund
  • ISBN 978-3-446-27747-2 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Charlotte Gneuß – Gittersee

Darf sie das? Um den Debütroman der 1992 geborenen Autorin Charlotte Gneuß ist ein kleines Debattenstrohfeuer entbrannt, das nun schon wieder in sich zusammengefallen ist. Darf eine westdeutsche Autorin über die DDR schreiben, die sie nur aus Erzählungen kennt? Natürlich, schließlich erlaubt die Literatur zuvorderst alles. Statt also Phantomdebatten über vermeintliche Echtheit und die Lizenz zur Fiktion zu fechten, sollte man lieber über die Qualitäten ihres Textes Gittersee sprechen.


Mit ihrem Roman Gittersee bedient sich die junge Autorin Gneuß eines erzählerischen Rahmens, wie ihn beispielsweise in diesem Frühjahr auch Caroline Wahl für ihr Debüt 22 Bahnen verwendet hat. Eine junge Frau, die sich wegen Defiziten im familiären Verbund um ihre kleine Schwester kümmern muss, gerät durch die Liebe zu einem Mann in Wirrnisse. Wo Caroline Wahl ihre Heldin an der Kasse arbeiten und in der übrigen Zeit neben dem Studium ihre kleine Schwester betreuen ließ, ist bei Charlotte Gneuß die Setzung aber eine andere. Sie verlegt diese Rahmenerzählung um die junge Ich-Erzählerin Karin in die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Dort lebt die Sechzehnjährige im Dresdner Vorort Gittersee und kümmert sich neben ihrer sozialistischen Ausbildung in der Schule um „Die Kleine“. Karin übernimmt hauptsächlich die Betreuung ihrer jüngeren Schwester und verbringt die übrige Zeit am liebsten mit Paul, ihrem Freund. Dieser begeistert sich ebenso wie ihr gemeinsamer Bekannter Rühle fürs Klettern, gemeinsam haben sie auch schon die sogenannte „Lokomotive“, eines Felsformation in der Nähe der Elbe erklommen.

Zwischen Schule und Stasi

Doch nun ist Paul verschwunden, einfach so. „Republikflucht“ sagt Rühle – und Karin kann es nicht glauben. Warum ist ihre Liebe von einem Tag auf den anderen verschwunden, wie geht es ihm und was ihn zu seinem Schritt motiviert? Das sind Fragen, die nicht nur Karin, sondern auch die Staatssicherheit interessieren. In Form des Ministeriumsmitarbeiters Wickwalz tritt diese auf und versucht, aus Karin Informationen herauszuholen und diese zu einer Informantin über andere anti-sozialistische Umtriebe in ihrem Umfeld zu formen.

Den inneren Zwiespalt zwischen Sorge und Nicht-Verständnis für den abrupten Schritt Pauls, ihre Suche nach Antworten und den gleichzeitigen Druck der Stasi, der sich durch das immer wieder unvermutete Auftauchen des Stasi-Rekrutierers Wickwalz entwickelt, fängt Charlotte Gneuß durch die kluge Wahl der Ich-Erzählperspektive treffend ein. Während in der Schule die Schüler*innen mit den richtigen Weltsichten auf den guten Sozialismus und Kommunismus indoktriniert werden, versucht Karin eigene Antworten und Wege zu finden, was durch die Umwelt und die eigenen Gefühle alles andere als leicht ist.

Coming of Age in der DDR

Im Gewand eines Coming-of-Ages-Romans erzählt Charlotte Gneuß vom Innenleben Karins und dem eines Staates, der seinen eigenen Bürger*innen misstraute und selbst vor der perfiden Nötigung Minderjähriger nicht zurückschreckte.

Charlotte Gneuß - Gittersee (Cover)

Dabei setzt Charlotte Gneuß auf ein kleines Ensemble von Figuren, das sich im Lauf der Zeit noch weiter durch Flucht verringert. Statt ein großes Panorama des Lebens junger Schüler*innen in der DDR zu erzählen, geht Gneuß den umgekehrten Weg und setzt auf Reduktion. So wird die Stasi beispielsweise hauptsächlich durch die ambivalente Figur Wickwalz personifiziert, außer Marie und Rühle treten kaum Mitschüler*innen hervor. Auch die Familie Köhler selbst bleibt reduziert, Oma, Vater, Mutter, Karin und ihre kleine Schwester. Viel mehr tragende Figuren gibt es kaum – und diese werden auch allesamt eher flüchtig skizziert, denn wirklich aussagekräftigen Zuschreibungen und Gestaltungen zu erhalten.

Sie stehen damit ganz in der übrigen Erzähltradition dieses Romans, der eher das Hingetupfte und Flüchtige denn breit Auserzählte bevorzugt. Viele Realia gibt es nicht in dem Roman, der auf eine genauere Verhaftung von Zeit und Raum verzichtet. Vielmehr legt es Charlotte Gneuß (zumindest in meiner Lesart) auf ein übergreifendes Thema an, nämlich die Jugend in der DDR, die hier nicht alleine nur auf ein detailliertes Einzelschicksal festgemacht werden soll.

Die Debatte geht fehl

Damit läuft auch die Debatte, die nur nach einem Artikel der FAZ und etwas Widerhall in den Feuilletons schnell erlahmte, ins Leere. Hintergrund war eine Liste mit Begrifflichkeiten und Unstimmigkeiten, die der ostdeutsche Schriftstellerkollegin Ingo Schulze für den gemeinsamen Verlag S. Fischer anfertigte und die dann zur Jury des Deutschen Buchpreises durchgestochen wurde. Jene Jury, die kurz zuvor Gittersee auf ihre Longlist gesetzt hatte.

Über das im Artikel angebotene Debattenstöckchen – ob Gneuß überhaupt authentisch von Dingen erzählen könne, die sie nicht aus eigener Anschauung und somit nur aus zweiter Hand kenne – wollte kaum einer springen. Schließlich darf und soll ja Literatur erst einmal alles und man darf ja über alles schreiben (wer könnte mit solch einer Auslegung da überhaupt noch historische Romane schreiben?). Einzig und allein die Qualität des Erzählten, die Stimmigkeit der entworfenen Welt und die literarische Tiefe sollten ja stehts im Mittelpunkt stehen. Und so zielen solcherlei Quisquilien auch breit am eigenen Kern der Sache vorbei. Denn Charlotte Gneuß will in Gittersee ja erkennbar keine – Plastik hin, Plaste her – fotorealistische Dokumentation des DDR-Lebens von Schülerinnen vorlegen.

Ein stimmiges Erzählkonzept

Vielmehr zieht ihr Erzählen zielt auf etwas anderes ab. Auf Gefühlswelten einer jungen Schülerin in einem übergriffigen und indoktrinierenden Staat, die Erschütterung des eigenen Koordinatensystems nach dem Verschwinden ihres Freundes und die Instabilität eines Systems, die sich der Heranwachsenden mehr und mehr zeigt.

Das gelingt Charlotte Gneuß ausnehmen gut, auch deswegen, weil sie neben der passenden Perspektive auch einen stimmigen Erzählton für das Erleben und Hinterfragen ihrer jungen Protagonistin findet.

Magst du keine Rumkugeln, fragte sie. Ich öffnete den Mund und spürte, wie Marie die Kugel hineinplumpsen ließ und wie ihr Fingernagel meine Lippen berührte. Du bist eingeschlafen, und dann hast du gequietscht, sagte Marie. Sie verdrehte den Kopf und machte zuckende Bewegungen. So, sagte sie, weißt du, so, Sie wiederholte das Ganze. Dann sah sie mich nachdenklich an und fragte, warum ich gestern nicht in der Schule gewesen sei.

Musste auf die Kleine aufpassen, die war krank.

Deine Mutter ist eine Krähe, stellte Marie fest. Ist doch ihr Kind, nicht deins. Und überhaupt darf sie das gar nicht. Wenn das rauskommt, dass du wegen deiner kleinen Schwestern nicht zur Schule gehst, sagte Marie. Schulpflicht und so.

Ich behauptete, dass ich gern auf die Kleine aufpassen würde, dass das gestern nur eine Ausnahme gewesen sie. Und außerdem, fiel mir ein, ist es auch Vatis Kind.

Charlotte Gneuß – Gittersee, S. 41

Fazit

Charlotte Gneuß gelingt ein Debüt mit einem stimmigen Erzählkonzept, das sich in meinen Augen mit der leicht kargen Erzählinstrumentierung an DDR-Schriftstellerinnen wie Brigitte Reimann oder Christine Wolter orientiert. Trotz meines Überdrusses der Gattung Coming of Age-Roman habe ich Charlotte Gneuß‘ Debütaufgrund der frischen historischen DDR-Setzung des Ganzen sehr gerne gelesen. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis ist mehr als gerechtfertigt, die alberne Debatte um „authentisches“ Schreiben über die DDR aber nicht.


  • Charlotte Gneuß – Gittersee
  • ISBN 978-3-10-397088-3 (S. Fischer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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Vendela Vida – Die Gezeiten gehören uns

Zwei Strände an der Küste San Franciscos, getrennt durch vorspringende Klippen. Zwei unterschiedliche Mädchen, die diese geschickt überwinden. Und zwei ganz verschiedene Leben zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Realität. Sie stehen im Mittelpunkt des Romans Die Gezeiten gehören uns der amerikanischen Autorin Vendela Vida.


Vendela Vida wurde 1971 geboren und hat bislang sechs Romane veröffentlicht, darunter zuletzt den 2016 im Aufbau-Verlag erschienen Flucht- und Identitätsroman Des Tauchers leere Kleider. Mit Die Gezeiten gehören uns liegt nun der erste Roman im Hanser Berlin-Verlag vor, der von Monika Baark ins Deutsche übertragen wurde.

Während Vida bei uns noch keine allzu große Bekanntheit erlangt hat, ist es bislang eher der Name ihres Mannes, der aufhorchen lässt. Vida ist die Partnerin von Dave Eggers, der spätestens seit seinem Bestseller Der Circle auch hierzulande zu den großen amerikanischen Autorennamen zählt. Doch sollte man nicht den Fehler machen, Vida als schreibendes Anhängsel von Eggers zu betrachten. Denn Vida schreibt eine ganz eigenständige Prosa, die deutlich nuancierter und tiefgreifender ist, als die doch oftmals etwas unterkomplexen und auf Effekt zielenden Romane ihres Mannes.

Familien in Sea Cliff

Vendela Vida - Die Zeiten gehören uns (Cover)

Zusammen mit ihm und den Kindern lebt Vendela Vida in der San Francisco Bay Area, in der auch ihr neuer Roman angesiedelt ist, genauer gesamt im Stadtviertel Sea Cliff. Dort geht die Erzählerin Eulabee zusammen mit anderen aus wohlbehüteten und privilegierten Haushalten stammenden Mädchen auf die Privatschule Spragg. Ihre beste Freundin ist Maria Fabiola, die Eulabee bewundert und mit der sie sich am nahegelegenen China Beach in der Kunst des Klippenrennens übt.

Denn die beiden Mädchen sind Meisterin in dieser Kunst. Genau abgestimmt mit den Gezeiten und gefährlichen Wellen überwinden sie die rutschigen Klippen, um von einem Strand an den nächsten zu wechseln, ohne Umwege in Kauf nehmen zu müssen. Maria Fabiola und Eulabee sind genau aufeinander abgestimmt und ergänzen sich so gut miteinander, dass sie sogar all den Nachbar*innen in Sea View weismachen, dass Maria Fabiola ein neues Familienmitglied von Eulabee ist.

Doch die Freundschaft und Harmonie erleidet schon bald tiefe Risse. Denn als Maria Fabiola und weitere Spragg-Schülerinnen behaupten, von einem Exhibitionisten angesprochen worden zu sein, stützt Eulabee diese These nicht, da sich ihre Wahrnehmung von der ihrer Freundin unterscheidet. Es setzen die typischen sozialen Ausgrenzungen in Schule und Freizeit ein, die man seit den 80ern, in denen das Buch angesiedelt ist, bis heute kennt. Kleine Botschaften im Spind, Ausladungen bei Feten – so weit, so bekannt.

Dieses hinlänglich bekannte Teenagerdrama steigert sich allerdings, nachdem Maria Fabiola dann tatsächlich verschwindet und eine öffentliche Suche einsetzt. Zwar taucht sie nach ein paar Tagen wieder auf, sie erzählt aber von einer Entführung, die sie durchlebt habe. Eulabee will ihr so recht nicht glauben, findet sich dann aber auch bald in einer ähnlichen Situation wieder.

Freundschaften und Neid, Lügen und Inszenierungen

Die Zeiten gehören uns ist ein Buch, das von einer Teenagerfreundschaft am Rande zum Erwachsenenwerden erzählt, angesiedelt in den 80er Jahren. Der typische Coming of Age-Stoff wird bei Vendela Vida aber dankenswerterweise um weitere Fragen und Themen ergänzt. So spielt ihr Buch immer wieder mit der Dualität und Dichotomien. Maria Fabiola mit ihrer reichen Herkunft und ihrem Willen zum Drama, Eulabee mit ihrer Mittelschichtfamilie und dem Neid auf Maria. Die kleinen und großen Lügen, die offenen und verdeckten Kämpfe um Gunst und Anerkennung, sie werden von Vida immer wieder durchdekliniert und tauchen in verschiedenen Abwandlungen auf, sogar auf dem abstrakt gehaltenen Cover, das die zwei getrennten Strände zeigt.

Models inszenieren sich in der Öffentlichkeit, Eulabees Vater, ein Auktionator hat Zweifel an der Echtheit eines seiner im Laden ausgestellten Gemälde, Eulabee versucht ihrem nachbarschaftlichen Umfeld falsche Aussagen über Maria unterzujubeln. Und wenn vom familieneigenen Haus die Golden Gate Bridge immer wieder im Nebel verschwunden zu sein scheint, ehe der Nebel dann später wieder aufreißt und ihren Anblick preisgibt, dann ist das nur eine Vorausdeutung des gesamten Erzählkonzeptes dieses Buchs. Es geht in Die Gezeiten gehören uns um Schein und Sein, um Lüge und Wahrheit, Inszenierung des Ichs und Glaubwürdigkeit. Das wird spätestens dann im Epilog klar, der im Jahr 2019 spielt und in dem Maria und Eulabee als erwachsene Frauen ein letztes Mal aufeinandertreffen.

Fazit

In kurzen Kapiteln nimmt schildert Vendela Vida diese Beziehung komplex und ambivalent, nimmt uns mit nach Sea Cliff und und an den Strand von China Beach, lässt uns Lügen lauschen und die Kämpfe der Pubertät noch einmal nacherleben. Sie stellt eine humorbegabte, originelle junge Erzählerin in den Mittelpunkt ihres Buch und beweist mit diesem Buch, dass sie mehr ist als Die Frau von und dass sie über eine genuin eigene Erzählstimme verfügt. Eine Buch voller Nostalgie, das die Jugend und ein heute gar nicht mehr existentes San Francisco heraufbeschwört, fernab von Social Media-Beschleunigung und Tech-Gentrifizierung.

Ein Buch, das aber auch trotz des rückblickenden Settings zeitgemäß und aktuell ist. Da verzeiht man dem Buch und dem Verlag auch die Tatsache, dass Die Gezeiten gehören uns als Titel bei Weitem nicht so stark ist wie das Original: We run the tides.


  • Vendela Vida – Die Gezeiten gehören uns
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27226-2 (Hanser Berlin)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €

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Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen

Noch einmal Coming of Age, noch einmal Rückschau auf die eigene Kindheit und einen entscheidenden Sommer, der alles veränderte. Und auch wenn ich gerade an völliger Übersättigung dieser Art von Romanen leide (siehe hier, hier, hier, hier oder hier) – Licht zwischen den Bäumen ist doch ein prima Roman in High-End-Ausfertigung. Bibliophil gestaltet in der kundigen Übersetzung von Tanja Handels entführt Una Mannions Buch in die Wälder Pennsylvanias in einem Sommer in den 80er Jahren.

Die Ich-Erzählerin Libby Gallagher nimmt uns mit auf den Valley Forge Mountain, auf dem sie zusammen mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter ein abseits gelegenes Haus bewohnt. Der dicht bewaldete Berg ist bekannt für das Lager, das George Washington damals dort während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs aufschlagen ließ, um den Winter zu überstehen. Fast 2500 Soldaten fanden dort den Tod, verhungerten und erfroren. Nicht weit von diesem historischen Ort entfernt liegt das Haus der Familie, dessen umgebender Wald für Libby eine ideale Spielwiese darstellt.

Eine Familie unter Druck

Una Mannion - Licht zwischen den Bäumen (Cover)

Für das junge Mädchen bedeutet der Wald Rückzug und Entspannung von der Familie. Denn Libbys Familie gleicht oftmals einem unter Druck stehenden Kessel. Alle Geschwister sind höchst unterschiedlich, die Mutter verheimlicht ihren neuen Freund vor der Familie und man streitet und debattiert, bis die Fetzen fliegen. In einer solchen angespannten Lage lernen wir auch die Gallaghers zu Beginn des Buchs kennen, als ein Streit im Auto auf der Rückfahrt nach Hause eskaliert. Libbys Mutter setzt daraufhin Ellen am Straßenrand aus, damit diese zu Fuß nach Hause läuft.

Diese Entscheidung ist der Auslöser aller weiteren Ereignisse im Roman. Denn auf dem langen Weg nach Hause will Ellen per Anhalter etwas erträglicher machen und steigt zu einem Mann ins Auto, dem sie später nur mit Mühe und Not entkommen kann. Die Zeiten sind eh beängstigend für Libby und ihre Geschwister, die Morde von Charles Manson und seiner Gruppe liegen gerade einmal ein paar Jahre zurück, der Vietnamkrieg ebenfalls, das Massaker in Amityville ist auch in den 80er Jahren noch sehr präsent und befeuern die kindliche Fantasie. Als nun auch noch Ellen von dem gruseligen Mann erzählt, in dessen Auto sie sich wiedergefunden hat und in dem sie sexuel belästigt wurde, sitzt der Schock vor allem bei Libby tief.

Coming of Age und Familienporträt

Der Bericht von Ellen setzt Entwicklungen in Gang, die sich nicht mehr so leicht einfangen lassen. In jenem Sommer zwischen Lagerfeuer-Parties, Einbruch ins Schwimmbad und erster Liebe entspinnen sich gefährliche Dynamiken, die für Ellen und ihre Geschwister handfeste Gefahr bedeuten.

Licht zwischen den Bäumen ist ein klassischer Coming-of-Age Roman, das Porträt eines Mädchens, das nach einer Richtung im Leben sucht und der Blick in das turbulente Innere einer Familie.

Aus den klassischen Genre-Zutaten (ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein entscheidender Sommer, der Einbruch von Gefahr und Verderben in die vormals heile Welt) vermengt Una Mannion mit einem genauen Porträt der Familie Gallagher, die seit dem Tod des aus Irland stammenden Vaters zunehmend auseinanderdriftet. Sie erzählt bildreich vom Leben der Familie am Berg dort im County Schuylkill, das sich eher am unteren sozialen Rand abspielt.

Auch wenn man die Familie nicht unbedingt als sozial randständig bezeichnen kann – Armut und Vernachlässigung haben sie trotzdem erfahren. Das Gras wird nicht geschnitten, das Haus vernachlässigt, die Mutter schleicht sich zu ihrem Liebhaber davon, Libby muss mit Babysitten das Einkommen aufbessern und so treibt diese Familie unablässig auseinander, ehe sie die Ereignisse um Ellens Anhaltererlebnis schlussendlich wieder zusammenführen.

Fazit

Irgendwo zwischen den popkulturellen Phänomenen „Stand by me“ oder „Stranger Things“ angesiedelt erzählt Una Mannion eine spannende Geschichte aus dem amerikanischen Hinterland und zeigt eine Familie im Auflösungszustand. Ein unterhaltsames Buch, das einen Sommer in den 80er Jahren dort in Pennsylvania noch einmal zurückholt.

Mehr Meinungen zu Licht zwischen den Bäumen gibt es bei Zeichen&Zeiten und im Blog der Buchhandlung Die Insel.


  • Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-95829-973-3
  • 344 Seiten. Preis: 24,00 Euro
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Benedict Wells – Hard Land

Einer der auffallendsten Trends in der Literatur der letzten Jahre ist der des Booms der Coming-of-Age-Erzählungen.

„Nur was verstehen wir unter dem Begriff eigentlich?“

Niemand meldete sich. Er zog eine Augenbraue hoch.

„Nun bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren oder äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.

Benedict Wells – Hard Land, S. 306

So lässt Benedict Wells in seinem Roman einen Lehrer dozieren, der den Schülern dieses Genre nahebringen will. Und schaut man auf die Bucherscheinungen der letzten Zeit bis hin zu den aktuellen Neuerscheinungen, dann muss man konstatieren: Coming of Age boomt wie selten zuvor. Egal ob Sebastian Stuertz, Ronya Othmann, Verena Guentner, Benjamin Myers, Matthias Brandt, Johann Scheerer oder ebenfalls in diesem Monat Callan Wink. Sie alle haben in jüngster Zeit Romane vorgelegt, die um ihre jugendlichen Protagonisten kreisen, deren Reifung in den Büchern nacherzählt wird, das Ganze angesiedelt meist während der Sommermonate. Und auch Benedict Wells fügt diesem langsam immer unübersichtlicher werdenden Berg an Büchern nun ein weiteres Werk hinzu. Es trägt den Namen Hard Land und spielt, wie auch schon Wells dritter Roman Fast genial, in den USA.

Willkommen in Grady

Aber im Gegensatz zu diesem Roadnovel siedelt Wells diesmal seine Erzählung in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Grady an. Dort lebt Wells Held und Ich-Erzähler Sam mit seinen Eltern. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter betreibt eine Buchhandlung in der lokalen Mall und ist schwer krank. Sams ältere Schwester Jean hat der Familie schon lang den Rücken gekehrt, um als Drehbuchautorin in Los Angeles zu leben.

Wir schreiben das Jahr 1985. VHS-Kassetten boomen, das Internet ist noch weit weg, die Simple Minds liefern mit Don’t you einen der größten Hits des Jahrzehnts ab und Marty McFly wird mit Zurück in die Zukunft zum Vorbild einer ganzen Generation. In diesem Jahr passiert das, was Sam schon im ersten Satz des Buchs beschreibt.

In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Benedict Wells – Hard Land, S. 11

Damit ist die Rahmenhandlung des Buchs umrissen. Während Sam auf seinen 16. Geburtstag zusteuert und sich auf dem Höhepunkt der Pubertät befindet, kommt das familiäre Gefüge daheim langsam ins Rutschen. Die Mutter ist von ihrer Erkrankung schwer gezeichnet und Sam flüchtet sich zu seinem Job im Kino Metropolis. Dort lernt er eine Clique von Freunden kennen und exerziert mit ihnen all das durch, was man in einem Coming of Age-Roman eben so erleben muss: erste Liebe, Hauspartys, Mutproben, Musik machen und Baden im See.

Die 49 Geheimnisse

Wells Roman zieht seine Struktur dabei aus der erdachten Kleinstadt Grady. Diese besitzt nämlich laut der urbanen Legende 49 Geheimnisse. Folglich teilt sich das Buch auch in 49 Kapitel, deren Rahmenhandlung ja tatsächlich schon mit dem ersten Satz abgedeckt wird.

Und ja, man nimmt Benedict Wells nach der Lektüre sofort die Faszination für die „geliebten Eighties-Filme“ (so der Autor im Nachwort) ab. Breakfast Club, Zurück in die Zukunft, Stand by me. All das sind Namen, die beim Lesen des Buchs unwillkürlich auftauchen. Denn Hard Land ist Paraphrase und Pastiche dieser Filme zugleich. Eine Kleinstadt, eine Gruppe Jugendlicher, Abhängen in Kinos und Diners, ds nervige Schulleben, erste Liebe, Pubertät und unverhoffte Abenteuer. Diese Zutatenmischung verwendet Wells auch in seinem Roman – und schafft damit einen gut konsumierbaren Unterhaltungsroman, der auch als Jugendroman durchgeht.

Wells huldigt einer längst vergangenen Welt. Sein Amerika endet an den Stadtgrenzen von Grady, von einer gesellschaftlichen Spaltung ist hier noch nichts zu sehen. Auch wenn Sams Freunde aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung in der Kleinstadt beäugt werden – irgendwie fügt sich in Grady alles und bleibt weitestgehend harmonisch. Und selbst wenn die Themen Tod und Trauer plötzlich für Sam aktuell werden – irgendwie findet sich dann doch wieder alles. Das ist manchmal dann doch etwas banal, genauso wie der ein oder andere Dialog im Buch.

Fazit

Ein melancholisch-kindliche Ton ist kennzeichnend für Hard Land. Benedict Wells gibt dem boomenden Coming of Age-Affen Zucker und beschwört einen doppelt nostalgischen Roman herauf. Eine längst vergangene (bzw. sehr verklärte) Epoche der amerikanischen Geschichte trifft auf einen Erzähler, der seine Jugend noch einmal durchlebt. Das ist solide erzählt, weiß als Roman zu unterhalten, fügt dieser ohnehin schon übersättigen Romangattung aber keine wesentlich neuen Facetten hinzu.


  • Benedict Wells – Hard Land
  • ISBN: 978-3-257-07148-1 (Diogenes)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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