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Charlotte Gneuß – Gittersee

Darf sie das? Um den Debütroman der 1992 geborenen Autorin Charlotte Gneuß ist ein kleines Debattenstrohfeuer entbrannt, das nun schon wieder in sich zusammengefallen ist. Darf eine westdeutsche Autorin über die DDR schreiben, die sie nur aus Erzählungen kennt? Natürlich, schließlich erlaubt die Literatur zuvorderst alles. Statt also Phantomdebatten über vermeintliche Echtheit und die Lizenz zur Fiktion zu fechten, sollte man lieber über die Qualitäten ihres Textes Gittersee sprechen.


Mit ihrem Roman Gittersee bedient sich die junge Autorin Gneuß eines erzählerischen Rahmens, wie ihn beispielsweise in diesem Frühjahr auch Caroline Wahl für ihr Debüt 22 Bahnen verwendet hat. Eine junge Frau, die sich wegen Defiziten im familiären Verbund um ihre kleine Schwester kümmern muss, gerät durch die Liebe zu einem Mann in Wirrnisse. Wo Caroline Wahl ihre Heldin an der Kasse arbeiten und in der übrigen Zeit neben dem Studium ihre kleine Schwester betreuen ließ, ist bei Charlotte Gneuß die Setzung aber eine andere. Sie verlegt diese Rahmenerzählung um die junge Ich-Erzählerin Karin in die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Dort lebt die Sechzehnjährige im Dresdner Vorort Gittersee und kümmert sich neben ihrer sozialistischen Ausbildung in der Schule um „Die Kleine“. Karin übernimmt hauptsächlich die Betreuung ihrer jüngeren Schwester und verbringt die übrige Zeit am liebsten mit Paul, ihrem Freund. Dieser begeistert sich ebenso wie ihr gemeinsamer Bekannter Rühle fürs Klettern, gemeinsam haben sie auch schon die sogenannte „Lokomotive“, eines Felsformation in der Nähe der Elbe erklommen.

Zwischen Schule und Stasi

Doch nun ist Paul verschwunden, einfach so. „Republikflucht“ sagt Rühle – und Karin kann es nicht glauben. Warum ist ihre Liebe von einem Tag auf den anderen verschwunden, wie geht es ihm und was ihn zu seinem Schritt motiviert? Das sind Fragen, die nicht nur Karin, sondern auch die Staatssicherheit interessieren. In Form des Ministeriumsmitarbeiters Wickwalz tritt diese auf und versucht, aus Karin Informationen herauszuholen und diese zu einer Informantin über andere anti-sozialistische Umtriebe in ihrem Umfeld zu formen.

Den inneren Zwiespalt zwischen Sorge und Nicht-Verständnis für den abrupten Schritt Pauls, ihre Suche nach Antworten und den gleichzeitigen Druck der Stasi, der sich durch das immer wieder unvermutete Auftauchen des Stasi-Rekrutierers Wickwalz entwickelt, fängt Charlotte Gneuß durch die kluge Wahl der Ich-Erzählperspektive treffend ein. Während in der Schule die Schüler*innen mit den richtigen Weltsichten auf den guten Sozialismus und Kommunismus indoktriniert werden, versucht Karin eigene Antworten und Wege zu finden, was durch die Umwelt und die eigenen Gefühle alles andere als leicht ist.

Coming of Age in der DDR

Im Gewand eines Coming-of-Ages-Romans erzählt Charlotte Gneuß vom Innenleben Karins und dem eines Staates, der seinen eigenen Bürger*innen misstraute und selbst vor der perfiden Nötigung Minderjähriger nicht zurückschreckte.

Charlotte Gneuß - Gittersee (Cover)

Dabei setzt Charlotte Gneuß auf ein kleines Ensemble von Figuren, das sich im Lauf der Zeit noch weiter durch Flucht verringert. Statt ein großes Panorama des Lebens junger Schüler*innen in der DDR zu erzählen, geht Gneuß den umgekehrten Weg und setzt auf Reduktion. So wird die Stasi beispielsweise hauptsächlich durch die ambivalente Figur Wickwalz personifiziert, außer Marie und Rühle treten kaum Mitschüler*innen hervor. Auch die Familie Köhler selbst bleibt reduziert, Oma, Vater, Mutter, Karin und ihre kleine Schwester. Viel mehr tragende Figuren gibt es kaum – und diese werden auch allesamt eher flüchtig skizziert, denn wirklich aussagekräftigen Zuschreibungen und Gestaltungen zu erhalten.

Sie stehen damit ganz in der übrigen Erzähltradition dieses Romans, der eher das Hingetupfte und Flüchtige denn breit Auserzählte bevorzugt. Viele Realia gibt es nicht in dem Roman, der auf eine genauere Verhaftung von Zeit und Raum verzichtet. Vielmehr legt es Charlotte Gneuß (zumindest in meiner Lesart) auf ein übergreifendes Thema an, nämlich die Jugend in der DDR, die hier nicht alleine nur auf ein detailliertes Einzelschicksal festgemacht werden soll.

Die Debatte geht fehl

Damit läuft auch die Debatte, die nur nach einem Artikel der FAZ und etwas Widerhall in den Feuilletons schnell erlahmte, ins Leere. Hintergrund war eine Liste mit Begrifflichkeiten und Unstimmigkeiten, die der ostdeutsche Schriftstellerkollegin Ingo Schulze für den gemeinsamen Verlag S. Fischer anfertigte und die dann zur Jury des Deutschen Buchpreises durchgestochen wurde. Jene Jury, die kurz zuvor Gittersee auf ihre Longlist gesetzt hatte.

Über das im Artikel angebotene Debattenstöckchen – ob Gneuß überhaupt authentisch von Dingen erzählen könne, die sie nicht aus eigener Anschauung und somit nur aus zweiter Hand kenne – wollte kaum einer springen. Schließlich darf und soll ja Literatur erst einmal alles und man darf ja über alles schreiben (wer könnte mit solch einer Auslegung da überhaupt noch historische Romane schreiben?). Einzig und allein die Qualität des Erzählten, die Stimmigkeit der entworfenen Welt und die literarische Tiefe sollten ja stehts im Mittelpunkt stehen. Und so zielen solcherlei Quisquilien auch breit am eigenen Kern der Sache vorbei. Denn Charlotte Gneuß will in Gittersee ja erkennbar keine – Plastik hin, Plaste her – fotorealistische Dokumentation des DDR-Lebens von Schülerinnen vorlegen.

Ein stimmiges Erzählkonzept

Vielmehr zieht ihr Erzählen zielt auf etwas anderes ab. Auf Gefühlswelten einer jungen Schülerin in einem übergriffigen und indoktrinierenden Staat, die Erschütterung des eigenen Koordinatensystems nach dem Verschwinden ihres Freundes und die Instabilität eines Systems, die sich der Heranwachsenden mehr und mehr zeigt.

Das gelingt Charlotte Gneuß ausnehmen gut, auch deswegen, weil sie neben der passenden Perspektive auch einen stimmigen Erzählton für das Erleben und Hinterfragen ihrer jungen Protagonistin findet.

Magst du keine Rumkugeln, fragte sie. Ich öffnete den Mund und spürte, wie Marie die Kugel hineinplumpsen ließ und wie ihr Fingernagel meine Lippen berührte. Du bist eingeschlafen, und dann hast du gequietscht, sagte Marie. Sie verdrehte den Kopf und machte zuckende Bewegungen. So, sagte sie, weißt du, so, Sie wiederholte das Ganze. Dann sah sie mich nachdenklich an und fragte, warum ich gestern nicht in der Schule gewesen sei.

Musste auf die Kleine aufpassen, die war krank.

Deine Mutter ist eine Krähe, stellte Marie fest. Ist doch ihr Kind, nicht deins. Und überhaupt darf sie das gar nicht. Wenn das rauskommt, dass du wegen deiner kleinen Schwestern nicht zur Schule gehst, sagte Marie. Schulpflicht und so.

Ich behauptete, dass ich gern auf die Kleine aufpassen würde, dass das gestern nur eine Ausnahme gewesen sie. Und außerdem, fiel mir ein, ist es auch Vatis Kind.

Charlotte Gneuß – Gittersee, S. 41

Fazit

Charlotte Gneuß gelingt ein Debüt mit einem stimmigen Erzählkonzept, das sich in meinen Augen mit der leicht kargen Erzählinstrumentierung an DDR-Schriftstellerinnen wie Brigitte Reimann oder Christine Wolter orientiert. Trotz meines Überdrusses der Gattung Coming of Age-Roman habe ich Charlotte Gneuß‘ Debütaufgrund der frischen historischen DDR-Setzung des Ganzen sehr gerne gelesen. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis ist mehr als gerechtfertigt, die alberne Debatte um „authentisches“ Schreiben über die DDR aber nicht.


  • Charlotte Gneuß – Gittersee
  • ISBN 978-3-10-397088-3 (S. Fischer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maxim Voland – Die Republik

Die alternative Geschichtsschreibung boomt. Losgetreten einst von Fiktionen wie etwa Philip K. Dicks Das Orakel vom Berge oder Robert Harris´ Vaterland, hat sich die alternative Geschichtsschreibung in den letzten Jahren zu einer häufig aufgegriffenen Erzählform entwickelt. Die Frage „Was wäre, wenn?“ bietet zweifelsohne aber auch viel Potential. Gerade die wechselvolle deutsche Historie bietet viele Möglichkeiten, sich über einen anderen Ausgang des Geschichtsverlaufs Gedanken zu machen.

Andreas Eschbach gelang mit seiner Überwachungs-Fiktion NSA 2018 ein großer Bestseller. Doch nicht nur das Dritte Reich ist ein viel verwendete Folie für alternative Geschichten. Auch die DDR ist ein Feld, das von Autor*innen gerne beacktert wird. So entwickelten Harald Martenstein und Tom Peuckert in Schwarzes Gold aus Warnemünde die Idee einer prosperierenden DDR, deren sagenhafter Reichtum und Wohlstand auf einem 1989 in der Ostsee entdeckten Erdölvorkommen beruht. Auch Simon Urban entwickelte in seiner Fiktion Plan D eine DDR, die über 1989 fortbesteht, und in der ein Verbrechen die Kader der darbenden DDR aufschreckt.

Ganz taufrisch ist die Idee Maxim Volands also nicht. Eine DDR voller Wohlstand und ein verarmter Berliner Stadtstaat bilden das Gefälle in seiner Fiktion. Die DDR umfasst bei ihm das Gebiet unserer heutigen DDR, misstrauisch von Amerikanern, Engländern und neidvoll von den West-Berlinern beäugt. Wohlstand, Technologie, Jobs – die DDR boomt und wird von den Genoss*innen an der Spitze des Staats und der Volkskammer eher wie ein Startup denn ein sozialistisches Land per 5-Jahresplan gemanagt.

Ein Giftgasanschlag in der DDR

In das Bild der erfolgreichen und beneideten DDR passt allerdings ein Giftgasanschlag denkbar schlecht. Dieser ereignet sich mitten im DDR-Gebiet in Berlin. Die Führung vertutscht den Anschlag und hinter den Kulissen versucht der Topspion Gustav Kuhn, die Hintergründe der Tat zu klären.

Maxim Voland - Die Republik (Cover)

Derweil reist der Übersetzer Christoph Jean Mueller aus Frankreich in die DDR ein. Zur Beerdigung eines Familienmitglieds wagt er sich auf das ihm unbekannte Staatsgebiet – und wird bald in eine turbulente Jagd verwickelt.

Der dritte Erzählstrang, der sich im Lauf des Romans langsam mit den beiden anderen verfugt, ist der der MI6-Agentin Harper Parker-Moreau, die in der DDR ebenfalls die Hintergründe des Giftgasanschlags recherchiert. Gehetzt und auf den Spuren einer groß angelegten Verschwörung kommen sich die drei Figuren immer näher, ehe sie sich – so will es Genre-Gesetz – für das Finale zusammentun müssen, um die Pläne der Schurken zu vereiteln.

Das geht nur unter einem hohen Bodycount, fast dauerglühenden Läufen von Scharfschützengewehren und einer großen Beschreibungsfreude Volands, was die Auswirkungen der Schießereien und Metzelorgien auf dem Staatsgebiet der DDR betrifft.

Die Späher lagen zerfetzt und in Stücke gerissen auf dem Dach. Keiner von ihnen hatte den Beschuss überstanden. Die leblosen Körper der Männer und Frauen dampften in der Winterkühle, Blut sickerte über den Boden; zerplatzte Gedärme lagen wie bizarre Girlanden zwischen den Toten.

Voland, Maxim: Die Republik, S. 314

Hier wären etwas weniger Plastizität und deskriptive Zurückhaltung durchaus mehr gewesen.

Nicht ausgeschöpftes Potenzial der Republik

Der Plot drängt vorwärts und zeigt einen routinierten Autoren, der die Erzählfäden sicher in der Hand hält und langsam zusammenführt. Das Tempo im Buch ist hoch, Die Republik treibt zusehends auf ihr großes Finale zu. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, als Thriller ist das gut gemacht. Allerdings hätte es dafür nicht unbedingt den vorher so umfangreichen Vorklapp gebraucht, der die alternative DDR und ihre Entstehung erklärt.

Hätte Voland hier die alte Branchenweisheit „Show, don’t tell“ mehr beachtet, hätte dies den ersten Seiten des Romans merklich gut getan, ehe es dann wirklich los geht. Statt in einem Vorklapp über die Genese seiner DDR und die weiteren Umständen zu dozieren und das Szenario des Buchs zu beschreiben, hätte er diesen theoretischen Überbau lieber erzählerisch in seinen Roman eingearbeitet. Denn die Idee erklärt sich eigentlich wie von selbst, da hätte es der Erklärungen nicht bedurft.

Fazit

Generell ist es auch dieser Überbau der DDR 2.0, aus dem Voland dann schlussendlich zu wenig macht. Zwar ist seine Ideenfülle durchaus bestrickend, im Lauf des Buchs verwandelt sich die verheißungsvolle Grundidee dann rasch in ein austauschbares James-Bond-Szenario. Seine moderne Überwachungs-DDR voller Technologie und Wohlstand wird aus einem genau modellierten Modell zusehends zu einer recht flachen Hintergrundkulisse. Wäre Voland hier eher bei der Idee der alternativen DDR und ihrer Bedeutung für unterschiedliche Individuen geblieben, hätte mich sein Buch mehr überzeugt. Anstatt jede Menge bleihaltigen Budenzauber abzufeuern und am Ende einen ziemlich schematischen Gut-Böse-Thriller zu erzählen, hätte dieses Buch durch das Interesse an seiner Grundprämisse mehr gewonnen. Als Unterhaltungsroman ist Die Republik alles andere als schlecht und weiß gut zu unterhalten. Figuren, Sprache und Rede sind zweckdienlich und passen sich gut in das passable Gesamtbild ein.

Dennoch wäre mit dieser Grundidee mehr drin gewesen. Vielleicht gibt es ja eine Fortsetzung der Geschichte Der Republik? Dann würde es mich freuen, wenn Voland die Versprechen einlöst, die er mit seiner Idee in diesem Roman gegeben hat.


Nachtrag: inzwischen wurde das Pseudonym Maxim Voland gelüftet. Es handelt sich beim Maxim Voland um den Schriftsteller Markus Heitz.


  • Maxim Voland – Die Republik
  • ISBN: 978-3-492-07071-3 (Piper)
  • 528 Seiten. Preis: 22,00 €
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Libertatia in der DDR

Mondschein liegt um Meer und Land 
dämmerig gebreitet, 
in den weißen Dünensand 
Well‘ auf Welle gleitet.

Unaufhörlich bläst das Meer 
eherne Posaunen; 
Roggenfelder, segenschwer, 
leise wogend raunen.

Hauptmann, Gerhart: Mondscheinlerche

Manchmal braucht es etwas länger, bis ich ein Buch aus meinem Regal in die Hand nehme und lese. Ich will es unbedingt zu einer bestimmten Zeit lesen, komme dann nicht dazu, sortiere es erst in den Bücherstapel, irgendwann ins Regal – und die mögliche Lektüre verschiebt sich immer wieder. Auch Lutz Seilers Debütroman Kruso fiel bislang in diese Kategorie. 2014 einmal zur Besprechung erhalten, verharrte es doch bis jetzt ungelesen in meinem Regal. Und das, obwohl Seiler 2014 sogar den Deutschen Buchpreis für seinen Erstling erhielt.

Doch nun war die Zeit gekommen. Vor kurzem las ich das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse gekrönte Stern 111. Nachdem mir die Lektüre gekonnt ein Zeifenster ins Ostberlin des Jahres 1990 auftat, entsann ich mich des Seiler’schen Debüts, das so lange geduldig auf mich gewartet hatte. Würde es dem Buch gelingen, meine hohen Ansprüche, die Stern 111 bei mir geweckt hatte, einzulösen? Ja! Denn Seiler schafft hier schon einmal etwas, was er im zweiten Roman seines Lebens noch vergrößern sollte: ein sprachmächtiges, genau beobachtetes und mit Worten gebanntes Bild einer Welt im Umbruch. Eine starke Milieugeschichte, eine Hiddensee-Hommage und eine Vermessung der DDR in ihren letzten Tagen.

Willkommen auf Hiddensee

Hiddensee. Das birgt schon das Verborgene, Versteckte, das der Welt Enthobene im Namen. Hidden. Das scheint auch für Ed Bendler genau das Richtige zu sein. Denn er will weg. Seine Freundin hat er auf tragische Art und Weise verloren, der Halt in seiner bisherigen Welt ist ebenfalls nicht mehr gegeben. Und so sehnt er sich nach Entgrenzung und dem Ausbrechen aus der bisherigen Welt. Als geeignete Destination für sein Unterfangen erscheint ihm die Insel Hiddensee.

DDR-Reiseführer für die Insel Hiddensee

Diese im Westen von Rügen gelegene Insel faszinierte schon einst Gerhart Hauptmann, der auf ihr ein Domizil bezog. Auch schrieb er bei seinem ersten Aufenthalt auf der Insel jenes eingangs zitierte Gedicht Mondscheinlerchen als Hommage an die Insel. An ihrer dünnsten Stelle nicht einmal 250 Meter messend, liegt sie in der Ostsee wie ein dünner Strich, der sich zum Süden hin verjüngt. Carl Zuckmayr, Asta Nielsen, Hans Fallada, Gottfried Benn – sie alle zog es nach Hiddensee. Doch nicht nur sie.

Auch für Aussteiger – und den Tourismus der DDR war Hiddensee gelobtes Land oder vielmehr gelobte Insel. Beide Gruppen finden im legendären Ausflugslokal Zum Klausner zusammen, auf dessen Terrasse sich im Sommer die Arbeiter*innen der DDR tummeln. Während sie auf der Terrasse die Aussicht genießen und es sich gut gehen lassen, wird drinnen im Klausner unter Hochdruck geschuftet. Zwischen Blauer Würger, Jägerschnitzel und Exlepäng-Duft hasten die Kellner hinter her, brutzelt der Koch und fließt der Schweiß.

Kruso trifft seinen Freitag

Ed wird bald ein Teil der Arbeiterbrigade und verdingt sich als Spüler. Zusammengehalten wird die Mannschaft von ihrem Fixstern Alexander Krusowitsch, genannt Kruso. Ein Hiddenseer Urgestein, das die Inseleinsamkeit schon im Namen trägt. Doch dieser Kruso ist so einsam gar nicht, vielmehr sorgt er für den Zusammenhalt der Saisonarbeitskräfte, Esskaas getauft. Er organisiert das alljährliche Fußballturniert und kümmert sich um die Unterbringung der gestrandeten Aussteiger und Gäste, für die Hiddensee nur eine Station ihrer Reise weit weg ist.

Lutz Seiler - Kruso (Cover)

Mit Ed trifft Kruso seinen ganz eigenen Freitag. Dieser Mann, der mit Geschick und Präzision den Klausner am Laufen hält, verstopfte Ausflüsse geschickt zu reinigen weiß und immer vom Nimbus des Geheimnisvollen umgeben ist, er fasziniert Ed. Und auch umgekehrt scheint zwischen beiden Figuren die Chemie zu stimmen. Wie bei einer der dutzendfach im Buch verspeisten Zwiebeln öffnen sich allmählich die Schichten der beiden Charaktere. Kruso und Ed fassen Zutrauen zueinander und erzählen sich die Geschichten des Lebens.

Wobei die deutlich interessantere Figur die des Kruso ist, nicht nur aufgrund der Mehrzahl an gelebten Jahren. Die Brüche in seiner Biographie, die untergründigen Geheimnisse, sein Wirken auf der Insel. Mit diesem Kruso hat Seiler eine faszinierende Figur geschaffen, die aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit auch nach der Lektüre bei mir als Leser blieb.

Drei Komponenten guter Literatur

Die Figur Kruso ist eine der Komponenten, die aus diesem Buch ein starkes Stück Literatur machen. Die zweite Komponente ist die Insel Hiddensee selbst und die Sprachmacht, mit der Seiler diese schildert. Ihre Vergangenheit, ihr soziales Gefüge, ihre Schönheit. Kruso ist auch eine Verneigung vor diesem flächenmäßig nicht großen, dafür aber umso geschichtsträchtigeren Eiland

Geschichtsträchtiges Hiddensee

Und die dritte Komponente, die aus Kruso ein so starkes Stück macht, ist die Doppelbödigkeit der Erzählung. Denn natürlich ist die Insel und der Klausner nur ein Symbol für die Deutsche Demokratische Republik. Während am Beginn des Romans noch alles verlockend und idyllisch erscheint, bröckelt die Steilküste, der Zusammenhalt und das System Klausner immer mehr. Bis hin zum reichlich enervierend und gestreckten Ende, bei dem dann nur noch Ed als letzter Inselbewohner im Klausner verharrt, ist der Roman immer eine Blaupause des Niedergangs der DDR. Auch wenn mich dieses gestreckte Ende und die immer stärker werdende Einöde und Monotonie gegen Ende zusehends anstrengten, ist das natürlich auch literarisch gut gefügt.

Eine Ende mit Twist

Mir gefällt auch die Idee, im Epilog noch eine ganz andere (oder eher einen anderen Aspekt der) Geschichte mitzuerzählen. So bekommt das Buch nochmals ein Mehr an Tiefe und lässt Vorwürfe, hier würde nur eine vergangene Geschichte erzählt, ins Leere laufen.

Auf eine schöne Ergänzung der Lektüre sei an dieser Stelle noch hingewiesen. Der Suhrkamp-Verlag hat zusammen mit Lutz Seiler dieses Video produziert, das an die Schauplätze des Romans nach Hiddensee entführt und in dem Seiler Einblick in seine Poetologie gewährt:

Bildquellen. Cover By BK1950 – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81813975

Video: Suhrkamp-Verlag

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Auf anderen Wegen

Jackie Thomae – Brüder

Ist es Schicksal oder sind nur wir allein für unser Leben verantwortlich? Wie prägen uns unsere Wurzeln? Was beeinflusst unser Leben? Was macht uns zu den Menschen, die wir sind? Die Fragen stellt sich wohl jeder Mensch an bestimmten Scheidepunkten seines Lebens. Die Antworten, die daraus erwachsen, reichen von banalen Feststellungen bis hin zu tiefgehenden philosophischen Gedankengängen, die man sich machen kann.

Auch Jackie Thomae hat sich diesen Fragen gestellt und liefert in Brüder den Versuch einer Antwort, die einen guten Mittelweg zwischen den beiden obigen Polen findet. Vor allem der Aufbau ihrer Versuchsantwort ist spannend.

Zwei Brüder, zwei Leben, zwei Welten

Wie wäre es, wenn man einen Bruder hat, von dem man gar nichts ahnt? Woraus der durchschnittliche ARD-Degeto/ZDF-Fernsehredakteur eine Schmonzette gestrickt hätte, die gerne in fotogener skandinavischer oder alpiner Welt abgedreht worden wäre, so wählt Jackie Thomae einen anderen Weg. Sie erzählt zunächst von Michael, genannt Mick, der mit seiner Mutter in Ost- und dann Westberlin aufwächst. Beginnend 1985 schaut Jackie Thomae auf Micks Leben, der sich in Slacker-Manier durch sein Leben schummelt. Mal schmuggelt er als Muli Drogen nach Berlin, dann betreibt er mit Freunden eine Bar/Disco/Club, die ordentlich Profit abwirft. Aber einen wirklichen Plan für sein Leben, den hat Mick nicht.

Ganz anders da Gabriel, den wir im zweiten Teil des Buchs kennenlernen. Er arbeitet als Architekt, entwirft sowohl für arme Slum-Bewohner als auch für reiche Autokratien Gebäude und Wohnstätten. Zusammen mit seiner Frau Fleur lebt er in London eigentlich ein Bilderbuchleben. Kind, Villa, Erfolg – alles da. Doch auch Gabriels Leben ist nicht so glatt wie das nach außen gepflegte Bild. Glatt und reibungslos, das sind allenfalls die Baupläne, die er entwirft.

Von ihrer Verwandtschaft ahnen beide Männer lange Zeit gar nichts. Der eine versucht sich in London zu assimilieren, der andere taumelt durch ein schmutziges Berlin, ohne viel zuwege zu bringen. Ihren Vater Idris, gemeinsamer familiärer Nenner der beiden, lernen wir als Leser*innen dann im Mittelteil des Buchs kennen. Dieser kam als junger Student aus dem Senegal in die DDR. In Leipzig durfte er mit anderen Afrikanern ein Studium absolvieren, der sozialistische Bruderstaat wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Aus seiner Studienzeit in der Deutschen Demokratischen Republik gingen zwei Kinder mit zwei Frauen hervor. Ebenjener Gabriel und Mick, zu denen er dann aber in der der Folge keinen Kontakt mehr pflegte, sondern zurück nach Afrika ging.

Ein Triptychon

Wie gestaltet Jackie Thomae ihre Geschichte nun aus? Sie wählt als Bauplan ihrer Erzählung die Form eines klassischen Triptychons. Zunächst erzählt Thomae im Kapitel Der Mitreisende von Mick, ehe sie sich im Mittelteil Intermezzo Idris zuwendet. Im Anschluss bildet Gabriel im Teil Der Fremde den letzten Teil der Familienaufstellung, ehe ein Epilog im Jahr 2017 Brüder vollendet.

Auch wenn die Form eines Triptychons eine große Achsensymmetrie und Harmonie in der Erzählung naheliegt – abgesehen von der Seitenaufteilung ist diese Harmonie nicht gegeben. Im Falle von Mick erzählt sich Jackie Thomae in personaler Erzählperspektive grob chronologisch durch dessen Leben.

Bei Gabriel hingegen wählt sie eine völlig andere Erzählweise. Immer abwechselnd berichten Gabriel und seine Frau Fleur aus Ich-Perspektive aus ihrem (Ehe)Leben und machen so gegenläufige Betrachtungsweisen offenbar. Das ist in meinen Augen deutlich besser gelungen und besitzt mehr Tiefenschärfe, was aber zugleich eine gewisse Unwucht ins Buch hineinbringt. Gegen den starken Gabriel-Teil fällt der Mick-Teil doch ab (was auch damit zu tun haben könnte, dass ich Gabriel mit der gewählten Erzähltechnik deutlich näher komme).

Abgesehen von dieser gestalterischen Unwucht ist Brüder ein Roman, der jene eingangs erwähnten Fragen elegant und en passant abhandelt. Immer bleibt Jackie Thomaes Buch gut lesbar und treibt die Handlung voran. Auch die Fragen von schwarzer Identität behandelt Brüder, ohne groß aus dem erzählerischen Tritt zu kommen (was auch kongenial auf dem Cover wieder aufgegriffen wird). Alles fügt sich gut ein. Die Entscheidung, das Buch für den Deutschen Buchpreis 2019 zu nominieren, ist durchaus nachvollziehbar.

Mit Brüder gelingt Jackie Thomae ein wirklich unterhaltsamer, phasenweise wirklich einsichtsreicher und bestechender Familienroman der etwas anderen Sorte. Das Buch ist nicht unbedingt die Antwort, aber eine lesenswerte Ergänzung zu Paul Austers Lebensstudie 4,3,2,1.


Andere Meinungen und Eindrücke zu Jackie Thomae gibt es unter anderem auch hier bei Gérard von Sounds&Books, bei Deutschlandfunk Kultur und bei SWR 2 Kultur.

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Juli Zeh – Unterleuten

„Unterleuten ist ein Gefängnis“ (Kathrin Kron-Hübschke)

„Unterleuten bedeutet Freiheit“ (Gerhard Fließ)

Zwischen diesen zwei Zitaten von Bewohnern des fiktiven Örtchens Unterleuten spielt sich im neuen Buch von Juli Zeh alles ab. Unterleuten liegt irgendwo in Brandenburg, eine Autostunde aber auch eine ganze Welt von Berlin entfernt. Das Dorf ist eigentlich recht pittoresk und wirkt aus der Zeit gefallen (keine Gehsteige, kein gemeinsames Abwassersystem, Lohn und Brot durch die Agrarwirtschaft) – doch wehe man blickt hinter die Fassade.

Unterleuten von Juli Zeh

Unterleuten von Juli Zeh

Der doppeldeutige Titel Unterleuten gibt in diesem Buch eindeutig die Schlagrichtung vor. Juli Zeh lässt vor den Augen des Lesers ein Dorf mit einem Personaltableau entstehen, das so disparat wie funktional ist. Jedes Kapitel wird aus der Sicht eines anderen Dorfbewohners erzählt und so beobachtet man das wunderliche Geschehen, dass sich sukzessive durch immer wieder neue Augen betrachtet ergibt, mit einer Mischung aus Befremden und Faszination,

Das auslösende Momentum für alle Dynamiken, die sich auf über 640 Seiten im Dorf entfalten werden, ist der geplante Bau einer Windkraftanlage. Die Heidelandschaft rund um Unterleuten wurde als Bebauungsgebiet ausgewiesen – diese Pläne lassen nun das ganze Dorf förmlich explodieren. Während die einen um die aus der DDR hinübergerettete Agrargemeinschaft fürchten, sieht ein Vogelschützer die ornithologische Vielfalt in Unterleuten bedroht. Dabei könnte das Geld, das der Bau der Windräder staatlich subventioniert einbrächte, das ganze Dorf auf Vordermann bringen.

Mit großer Lust stößt Juli Zeh den ersten Dominostein in diesem Roman um, dem viele weitere Steine folgen werden. Sie lässt die unterschiedlichen Lebensmodelle aufeinander prallen, lässt Westler an Ostler geraten, lässt Resignierende auf Veränderer stoßen und beobachtet aus den wechselnden Perspektiven, wie sich die ganzen kleinen schlummernden Glutnester langsam zu einem Großfeuer entzünden. Sie arbeitet hierbei auch stark mit den Mitteln der Komödie, denn immer wieder reden die Unterleutner Bewohner aneinander vorbei, wittern Konflikte, wo eigentlich nur Missverständnisse herrschen und manövrieren sich in Situationen, die eigentlich niemand wollte.

Ihr Figuren legt Juli Zeh dabei auch mit einer ordentlichen Lust an der Karikatur an. Im Haus der Vogelschützers (der eigentlich ein gescheiterter Berliner Soziologieprofessor ist) gibt es Hirseauflauf, der Großgrundbesitzer ist feist und versteht es seine Pfründe zu bewahren. Dies ist zwar nicht allzu subtil, macht aber Freude zu lesen. Dieses Dorf könnte man sich auch in einer Serienverfilmung gut vorstellen – hinziehen möchte man aber auf keinen Fall!

 

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