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Wenn die Mitmenschlichkeit Schiffbruch erleidet

Davide Enia – Schiffbruch vor Lampedusa

Im Zuge des Europawahlkampfs 2019 wollte vor zwei Wochen die Satirepartei Die PARTEI einen Wahlwerbespot im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk platzieren. Eine Ausstrahlung dieses Spots wurde aber zunächst verweigert. Der Grund hierfür: die PARTEI hatte ihre Sendezeit der privaten Seenotrettung „Sea Watch“ zur Verfügung gestellt. Dass ZDF argumentierte folglich, dass es sich hier nicht um Wahlwerbung, sondern um einen Aufruf zur Unterstützung der Organisation „Sea Watch“ handele. In geänderter Form war der Film dann aber doch zu sehen. Im Einerlei aus Stockphoto-Wohlfühl-Mainstream-Clips und absurd-dilettantischen Beiträgen ragt dieser Beitrag krass heraus – und ist mehr als notwendig, wie ich finde.

Wahlwerbung der Partei „Die PARTEI“

Einen ähnlichen Effekt verspürt man, wenn man Davide Enias Buch Schiffbruch vor Lampedusa liest (Deutsch von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth, erschienen im Wallstein-Verlag).

Denn genauso wie dieser Spot richtet auch Enias Buch unseren Blick auf dieses Thema, das wir so bequem verdrängen. Das Mittelmeer ist zu einem riesigen Friedhof geworden. Jeden Tag sterben im Schnitt sechs Menschen auf dem Mittelmeer beim Versuch, dieses zu überqueren. In rechten Kreisen und sozialen Medien ist gerne von Asyltourismus und Wassertaxis die Rede, als sei die Überquerung des Mittelmeer ein Spaziergang.

Private Seenotrettern wird der Zugang zum Mittelmeer immer weiter erschwert und sogar die die Wochenzeitung Die Zeit sah sich im letzten Jahr genötigt, in ihrem Editorial ein Pro und Contra für private Seenotrettung zu veröffentlichen. „Oder soll man es lassen“, so die zynischen Contra-Überschrift, die auf das Argument abhob, dass solche private Rettungsmissionen den Schleppern ja nur die Arbeit erleichtern würden und noch mehr Menschen nach Europa lockten.

Leben und Sterben vor und auf Lampedusa

Lässt man die Politik und dass dumpfe rechte Gebrüll einmal außen vor und schaut sich an, was da im Mittelmeer so passiert, dann wird man schnell sehr still und betroffen. Davide Enia hat das für uns Leser*innen getan und hat sich nach Lampedusa begeben, jene vorgelagerte italienische Insel, auf der viele der Flüchtlingsboote anlanden. Er hat sich umgesehen auf der Insel, mit den Bewohner*innen gesprochen, war bei dem Eintreffen von Flüchtlingsbooten Zeugen und schildert das alles nüchtern – und deshalb umso ergreifender.

Auf Lampedusa sagte ein Fischer zu mir: »Weißt du, was für Fische wir hier neuerdings wieder haben? Seebarsche.«

Er zündete sich eine Zigarette an und verfiel in ein tiefes Schweigen. »Und weißt du, warum die Seebarsche zurückgekommen sind? Weißt du, wovon sie sich ernähren? Genau.«
Er drückte seine Zigarette aus und ging.
Es gab nichts, aber auch wirklich nichts hinzuzufügen.

Enia, Davide: Schiffbruch vor Lampedusa, S. 2

Man kann Schiffbruch vor Lampedusa nicht lesen, ohne ergriffen und beschämt zu sein. Es zeigt sich, wie stark unsere Mitmenschlichkeit schon Schiffbruch erlitten hat. Die Geschichten, die Rettungstaucher, Kapitäne und Inselbewohner erzählen, sind verstörend. Doch allzu bequem ist es für uns, diese Geschehnisse an den Außenposten Europas zu verdrängen und uns mit wohlfeilen Worthülsen wie etwa „man müsste die Fluchtursachen bekämpfen“ abspeisen zu lassen. Doch Davide Enia tut dies eben nicht – wofür ich ihm wirklich dankbar bin.

Zudem ist das Buch nicht nur ein Buch über den Verlust von Mitmenschlichkeit und den omnipräsenten Tod im Mittelmeer – auch auf persönlicher Ebene sind diese Themen bei Enia präsent. Denn über seinen Aufenthalt auf der Insel versucht er auch eine Annäherung an seinen Vater und seinen krebskranken Onkel, der den Tod ebenfalls vor Augen hat. Hier zeigt sich eine andere Spielart des Humanismus, den wir leider zu sehr aus dem Blick verloren haben.

Ein Appell an unsere Mitmenschlichkeit

Mit den beiden erzählerischen Fäden webt Davide Enia ein Buch, das man so schnell sicher nicht vergisst. Man kann sich natürlich in unserer privilegierten Wohlstandsblase einschließen und die Augen vor der Realität verschließen. Man kann aber auch Davide Enias Buch lesen und sich der so erodierenden Mitmenschlichkeit entsinnen. Denn ich finde, dass Nächstenliebe, Hilfe und Unterstützung von Schwachen keine Frage von Rechts oder Links sind, sondern Grundpflichten eines jeden Menschen sein sollten. Davide Enia erinnert uns in Zeiten von Abschottung und Mauerbau wieder daran – und das ist mehr als notwendig!

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Jens Rehn – Nichts in Sicht

Ein reduzierteres Setting für ein Buch ist kaum denkbar – ein Boot, darin zwei Männer und der große Ozean. Mehr braucht es für Jens Rehns Novelle Nichts in Sicht nicht.

Zutiefst existenzialistisch ist jene 1954 erschienene Erzählung, die leider nie den Ruhm erfahren hat, der ihr eigentlich zustünde. So konstatiert es Ursula März in ihrem Nachwort, das die Geschichte rund um dieses „Solitär“ der deutschen Literatur beleuchtet. Denn Nichts in Sicht erfuhr seit dem Erscheinen 1954 mehrere Neuauflagen (1977, 1993, 2003 und nun 2018). Prominente Fürsprecher wie Gottfried Benn oder Marcel-Reich-Ranicki setzten sich für Rehns Novelle ein. Doch in den Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur hat es das Buch nicht wirklich geschafft. Nichts in Sicht besitzt noch immer den Status eines Geheimtipps.

Doch warum ist das so? Warum war dem Buch kein großer Erfolg beschieden, obwohl das Werk doch eigentlich das Beste im schriftstellerischen Oeuvre Jens Rehns ist (so zumindest ordnet es die Literaturkriterkerin Ursula März in ihrem kompetent formulierten Nachwort ein)?

Drei Gründe möchte ich dafür heranziehen, teilweise auch sehr subjektiv durch meine eigene Leseeindrücke geprägt. Sie erklären aus meiner Sicht, warum dem Buch keine größere Aufmerksamkeit beschieden war. Literaturwissenschaftler dürfen gerne Einspruch erheben und mich verbessern, als Laie stellt sich für mich die Situation wie folgt dar:

Zu unspektakulär

Wie ich schon eingangs schrieb, wird das Setting von Nichts in Sicht mit dem Begriff Karg kaum eingefangen und kategorisiert.

Zwar fasziniert der Schiffbruch als Motiv schon seit Jahrhunderten, aber das Breitwandformat und die Opulenz von anderen Schiffbruchgeschichten wie Robinson Crusoe oder dem Untergang der Flotte Medusa hat Rehns Geschichte nicht. Hier wird der Schiffbruch auf seine Essenz zurückgeführt. Das Ausharren zweier Männer auf dem Ozean im Jahr 1943, die stechende Sonne, der Whisky und Scho-Ka-Kola. Mehr gibts in Rehns Roman nicht, die Außenhandlung ist minimal, auch die Figuren selbst bleiben etwas unkonturiert.
Gerade im Vergleich zu einem Zeigenossen Rehns, mit dem er den biographischen Hintergrund teilt, wird dies besonders offenbar. Sein Name ist Lothar-Günther Buchheim. Er verfasste mit Das Boot eine Hommage an seine Zeit in einem deutschen U-Boot während des Zweiten Weltkriegs. Von dessen Pathos, der Kraftmeierei und der Wucht ist bei Rehn nichts geblieben.
Hier treiben nur zwei grundverschiedene Menschen übers Wasser und versuchen, am Leben zu bleiben. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.

Zu anspruchsvoll geschrieben

Das Ganze könnte natürlich packen, dieses reduzierte Setting, die Spannung, was aus den Schicksalsgenossen wird. Doch eine innere Spannkraft besitzt Nichts in Sicht in meinen Augen kaum.

Was ist eigentlich passiert? Die Novelle erklärt wenig, wirft dem Leser immer wieder Fetzen hin. Schon in der Bezeichnung der beiden Protagonisten wird dies offenbar. Sie heißen nur der Einarmige und der Andere. Ihre Biographien muss sich der Leser in Kleinarbeit zusammenpuzzlen. Erst langsam schält sich heraus, wie die Kette des Schicksals geschmiedet wurde, die sie aneinander bindet.

Das Treiben auf dem Ozean und das phlegmatische Ausharren unterbricht Rehn immer wieder mit assoziativen Einschüben, Erinnerungsfetzen und dem als Motiv auftauchenden Nichts in Sicht. Das mag zwar authentisch die Erfahrungen der geistigen Seelenlandschaft nach einem Schiffbruch wiedergeben, besonders zugänglich oder gut zu lesen macht es die Geschichte nicht. So braucht man viel Wachheit und Aufmerksamkeit, um die Hintergründe und die Rahmenhandlung sauber zu erschließen – für eine Lektüre en passant ist Rehns Novelle trotz der Kürze kaum geeignet.

Ungünstige Umstände

1954: Adenauer-Zeit, Wunder von Bern, Restauration. In diese Zeit passte ein Büchlein, wie es Rehn geschrieben hatte, kaum. Die Wunden des Zweiten Weltkriegs waren notdürftig verbunden, das Wirtschaftswunder nahm seinen Lauf – da kam Nichts in Sicht zur Unzeit. Der Wille zur Beschäftigung mit den Gräuel des Krieges war nicht vorhanden, lieber wollte man den Mantel des Schweigens über das Geschehene breiten.

Und dann war ja da auch jener Lothar-Günther Buchheim, der dann 1973 Das Boot veröffentlichte. Wenn schon Zweiter Weltkrieg, U-Boote und Überlebenskämpfe, dann lieber auf diese Art und Weise – so schien das öffentliche Interesse zu bekunden. Nicht unerheblich auch die Verfilmung des Buchs durch Wolfgang Petersen 1981 – ein echter Kassenschlager, der die Aufmerksamkeit abermals auf Buchheims Roman zog. Neben diesem Roman und der umgebenden Berichterstattung wirkte Rehns Novelle wie ein Singer-Songwriter, der mit seiner Akustikgitarre auf einer Bühne mit einer Rockband bestehen sollte. Ein schwieriges Unterfangen.

Und jetzt ist es das Jahr 2018. Die Neuauflage des Romans steht in den Buchläden – und steht und steht. Zwei Rezensionen auf Amazon, kaum öffentliche Berichterstattung über das Buch. Und schon gibt es die nächste Adaption von Buchheims Das Boot in Form einer Serie, über die allenorten berichtet wird. Es scheint, als sei es das Schicksal von Nichts in Sicht, dauerhaft im Schatten dieses Werks zu stehen und dagegen unterzugehen.

Es soll nicht sein

Manchmal soll es einfach nicht sein. Die Verlage mühen sich, das Produkt ist eigentlich in Ordnung – doch die Öffentlichkeit will einfach nicht. Rowohlt musste dies beispielsweise mit Jochen Missfeldts Neuauflage von Solsbüll erfahren – und auch Schöffling ist nun um diese Erfahrung reicher. Das ist schade, doch manchmal kommt man gegen die ungünstigen Umstände nicht an. Es bleibt nur dieses wenig analytische Fazit – aber manchmal ist das einfach Schicksal.

Wenigstens an mir soll es aber nicht gelegen haben, das Jens Rehns Novelle dem Vergessen anheimfällt. Auf Buch-Haltung hat sie hiermit einen Platz gefunden und findet hoffentlich doch noch den ein oder anderen interessierten Leser ….

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