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Wenn die Mitmenschlichkeit Schiffbruch erleidet

Davide Enia – Schiffbruch vor Lampedusa

Im Zuge des Europawahlkampfs 2019 wollte vor zwei Wochen die Satirepartei Die PARTEI einen Wahlwerbespot im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk platzieren. Eine Ausstrahlung dieses Spots wurde aber zunächst verweigert. Der Grund hierfür: die PARTEI hatte ihre Sendezeit der privaten Seenotrettung „Sea Watch“ zur Verfügung gestellt. Dass ZDF argumentierte folglich, dass es sich hier nicht um Wahlwerbung, sondern um einen Aufruf zur Unterstützung der Organisation „Sea Watch“ handele. In geänderter Form war der Film dann aber doch zu sehen. Im Einerlei aus Stockphoto-Wohlfühl-Mainstream-Clips und absurd-dilettantischen Beiträgen ragt dieser Beitrag krass heraus – und ist mehr als notwendig, wie ich finde.

Wahlwerbung der Partei „Die PARTEI“

Einen ähnlichen Effekt verspürt man, wenn man Davide Enias Buch Schiffbruch vor Lampedusa liest (Deutsch von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth, erschienen im Wallstein-Verlag).

Denn genauso wie dieser Spot richtet auch Enias Buch unseren Blick auf dieses Thema, das wir so bequem verdrängen. Das Mittelmeer ist zu einem riesigen Friedhof geworden. Jeden Tag sterben im Schnitt sechs Menschen auf dem Mittelmeer beim Versuch, dieses zu überqueren. In rechten Kreisen und sozialen Medien ist gerne von Asyltourismus und Wassertaxis die Rede, als sei die Überquerung des Mittelmeer ein Spaziergang.

Private Seenotrettern wird der Zugang zum Mittelmeer immer weiter erschwert und sogar die die Wochenzeitung Die Zeit sah sich im letzten Jahr genötigt, in ihrem Editorial ein Pro und Contra für private Seenotrettung zu veröffentlichen. „Oder soll man es lassen“, so die zynischen Contra-Überschrift, die auf das Argument abhob, dass solche private Rettungsmissionen den Schleppern ja nur die Arbeit erleichtern würden und noch mehr Menschen nach Europa lockten.

Leben und Sterben vor und auf Lampedusa

Lässt man die Politik und dass dumpfe rechte Gebrüll einmal außen vor und schaut sich an, was da im Mittelmeer so passiert, dann wird man schnell sehr still und betroffen. Davide Enia hat das für uns Leser*innen getan und hat sich nach Lampedusa begeben, jene vorgelagerte italienische Insel, auf der viele der Flüchtlingsboote anlanden. Er hat sich umgesehen auf der Insel, mit den Bewohner*innen gesprochen, war bei dem Eintreffen von Flüchtlingsbooten Zeugen und schildert das alles nüchtern – und deshalb umso ergreifender.

Auf Lampedusa sagte ein Fischer zu mir: »Weißt du, was für Fische wir hier neuerdings wieder haben? Seebarsche.«

Er zündete sich eine Zigarette an und verfiel in ein tiefes Schweigen. »Und weißt du, warum die Seebarsche zurückgekommen sind? Weißt du, wovon sie sich ernähren? Genau.«
Er drückte seine Zigarette aus und ging.
Es gab nichts, aber auch wirklich nichts hinzuzufügen.

Enia, Davide: Schiffbruch vor Lampedusa, S. 2

Man kann Schiffbruch vor Lampedusa nicht lesen, ohne ergriffen und beschämt zu sein. Es zeigt sich, wie stark unsere Mitmenschlichkeit schon Schiffbruch erlitten hat. Die Geschichten, die Rettungstaucher, Kapitäne und Inselbewohner erzählen, sind verstörend. Doch allzu bequem ist es für uns, diese Geschehnisse an den Außenposten Europas zu verdrängen und uns mit wohlfeilen Worthülsen wie etwa „man müsste die Fluchtursachen bekämpfen“ abspeisen zu lassen. Doch Davide Enia tut dies eben nicht – wofür ich ihm wirklich dankbar bin.

Zudem ist das Buch nicht nur ein Buch über den Verlust von Mitmenschlichkeit und den omnipräsenten Tod im Mittelmeer – auch auf persönlicher Ebene sind diese Themen bei Enia präsent. Denn über seinen Aufenthalt auf der Insel versucht er auch eine Annäherung an seinen Vater und seinen krebskranken Onkel, der den Tod ebenfalls vor Augen hat. Hier zeigt sich eine andere Spielart des Humanismus, den wir leider zu sehr aus dem Blick verloren haben.

Ein Appell an unsere Mitmenschlichkeit

Mit den beiden erzählerischen Fäden webt Davide Enia ein Buch, das man so schnell sicher nicht vergisst. Man kann sich natürlich in unserer privilegierten Wohlstandsblase einschließen und die Augen vor der Realität verschließen. Man kann aber auch Davide Enias Buch lesen und sich der so erodierenden Mitmenschlichkeit entsinnen. Denn ich finde, dass Nächstenliebe, Hilfe und Unterstützung von Schwachen keine Frage von Rechts oder Links sind, sondern Grundpflichten eines jeden Menschen sein sollten. Davide Enia erinnert uns in Zeiten von Abschottung und Mauerbau wieder daran – und das ist mehr als notwendig!

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Lawrence Osborne – Welch schöne Tiere wir sind

Jeunesse dorée: zu dieser Klasse könnte man unzweifelhaft Naomi und ihre Freundin Samantha zählen. Als Tochter eines Millionärs kennt die junge Britin Naomi so etwas wie Sorgen eigentlich nicht. Zusammen mit ihrem Vater und der Stiefmutter verbringen sie die Sommer auf der griechischen Insel Hydra. Dort besitzt ihr Vater eine luxuriöse Immobilie, zu deren Vorbesitzern Leonard Cohen gehörte.

Auf der Insel Hydra schließt sie mit Samantha Freundschaft, die aus den Vereinigten Staaten stammt und deren Vater zur Rekonvaleszenz auf Hydra weilt. Schließlich gibt es auf der Insel weder Fahrräder noch Autos – und somit wenig Ablenkung und potentielle Gefahrenquellen, die einer Gesundung entgegenstehen.

Sommer auf Griechenland, das bedeutet Sonne, weißer Strand, Drogen, Schwimmausflüge – aber damit hat es sich dann aber auch schon wieder. Die Tage tropfen so zähflüssig wie der autochthone Honig vom Löffel, der im Buch immer wieder konsumiert wird. Ein schönes Symbolbild für den Stillstand, der auf der autofreien Insel herrscht. Zwar mangelt es an nichts, aber es entwickelt sich eben auch eine Langweile inmitten der ewigen Routine.

In dieses Einerlei aus Müßiggang platzt schon bald eine Begegnung, die für willkommene Abwechslung im Leben der beiden jungen Frauen sorgt. Sie entdecken auf der Insel Faoud, einen Geflüchteten, dessen Herkunft und Geschichte etwas unklar sind. Als Projekt gegen die Langeweile beschließen die beiden Frauen, sich des Mannes anzunehmen. Sie versorgen ihn mit Kleidung, organisieren eine Unterkunft für den Flüchtling – und schmieden schon bald einen verhängnisvollen Plan, der tödliche Konsequenzen nach sich zieht. Mehr sollte an dieser Stelle nicht verraten werden.

Sommerhelle und tiefe Finsternis

Lawrence Osborne gelingt es in seinem zweiten Roman (zuletzt Denen man vergibt, erschienen bei Wagenbach) eine faszinierende Mischung aus Sommerhelle und dunkelster Finsternis zu kreieren. So fängt er die Stimmung auf der Insel Hydra mit tollen Bildern und großen Sprachgirlanden ein. Beispiel gefällig?

Vom Bootssteg des kleinen Örtchens Palamidas stiegen sie eine Stunde lang nach Episkopi auf, bis sie Schluchten und unebene Felder umgaben, auf denen Alpenveilchen überdauerten. Sie setzten sich auf eine Steinmauer und blickten aufs Meer hinunter, auf die massiven, kahlen Inseln, den Schatten von Dokos und die bleiche Masse der Peleponnes dahinter. Berghänge fielen zu einer zerklüfteten Küste ab, die auf kupfergrünes Wasser traf, die steil aufgerichteten Oberflächen mit grauen Felsen und zitterndem Salbei befleckt. Einsame, gotisch geformte Agaven schossen unerwartet auf, die Häupter vom Wind zur Seite gefegt, und um sie herum lagen alte Eselzäune aus Draht wie angespültes Wrackgut, verknotet mit fortgeworfenen Bettgestellen und alten Haustüren. Es sah aus wie ein Land, das sich Zeit ließ mit dem Sterben, mit der Rückkehr ins Prähistorische.

Osborne, Lawrence: Welch schöne Tiere wir sind, S. 76

Die Landschaftsbeschreibungen und die Settings, die Osborne geradezu altmodisch schildert, gefielen mir richtig gut; vor allem, da in ihnen auch stets das Morbide als Prophetie mitschwingt. An dieser Stelle muss auch der Übersetzer Stephan Kleiner erwähnt werden. Dieser überträgt ansonsten unter anderem auch Hanya Yanagihara und Michel Houllebecq ins Deutsche. Ihm gelingt es, die bildsatte Sprache und die manchmal geradezu klinisch kalten Dialoge gut ins Deutsche zu übertragen.

Kammerspiel, Shakespeare, Sommer, Insel – alles drin!

Auch wenn der Anfang des Buchs noch gemächlich sein mag, so ändert sich das Tempo und der Tonfall des Buchs dann in der zweiten Hälfte enorm. Vieles im Buch erinnerte mich zu Beginn manchmal an Tennesse Williams Die Katze auf dem heißen Blechdach. Auch habe ich deutliche Anleihen bei den Dramen William Shakespeares ausgemacht. Der zweite Teil kippt dann in einen waschechten Thriller (bei dem man die ein oder andere Unwahrscheinlichkeit in Kauf nehmen sollte). Die Registerwechsel im Buch werden von Osborne aber gut vollzogen. Ihm gelingt es immer, die sonnendurchflutete aber sehr untergründige Stimmung beizubehalten.

Dafür nimmt man es dann auch in Kauf, dass Osborne die Oberflächlichkeit im Buch eben auch an Klischees bzw. abgenutzten Erzählfiguren aufhängt. Denn die Oberflächlichkeit der Jeunesse dorée wird dadurch besonders transparent. Mag der Kontostand auch nie Thema von bangen Überlegungen sein – am Ende des Buchs werden auch Samantha oder Naomi nicht glücklicher sein. Im Gegenteil. Und diese Erkenntnis ist zwar nicht neu, in Welch schöne Tiere wir sind liest sich das Ganze aber wirklich weg wie ein ein Eiswürfel, der unter der griechischen Sonne schmilzt.

Und so fällt dann auch mein Fazit aus. Man erhält mit Welch schöne Tiere wir sind ein vielfältiges Buch. Ein Blick ins Leben der Oberen Zehntausend (wenngleich nicht ganz klischeefrei). Ein Buch über die Frage, wie wir mit Geflüchteten umgehen. Eine spannenden griechischen (und italienischen) Thriller. Ein Kammerspiel. Oder um es kurz zu machen: sehr gute und stilsichere Literatur!


Auch andere Blogger haben das Buch gelesen und besprochen – mit teils unterschiedlichen Endergebnissen. Eine Rezension findet sich unter anderem bei Alexandra im Bücherkaffee und eine andere Besprechung hat Petra vom Blog LiteraturReich verfasst.

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Kurz und Gut

Heute gibt es wieder eine Fuhre von Büchern, die ich in der letzte Zeit gelesen habe. Kurze Besprechungen neuer Titel – los gehts!

Jacqueline Woodson – Ein anderes Brooklyn

Es sind oftmals die kleinen und unscheinbaren Bücher, die aufgrund ihrer Konzentration dann den größten Eindruck hinterlassen. Jacqueline Woodsons Ein anderes Brooklyn zählt zu genau diesen Büchern. Bislang trat Woodson als Autorin von Büchern für Kinder und Jugendliche in Erscheinung – nun also ihr Debüt im Erwachsenengenre. Kurz nachdem das Buch im Deutschen erschienen war (Übersetzt von Brigitte Jakobeit), wurde die Autorin mit dem Astrid-Lindgren-Preis geehrt – nach der Lektüre dieses Buchs weiß man warum. Die Held*innen in Woodsons Buch sind August und Clyde, ein Geschwisterpaar, das mit ihrem Vater aus Tennessee nach Brooklyn gezogen ist. In der flirrenden Atmosphäre der Großstadt im Jahr 1973 sitzen die beiden zunächst noch beständig am Fenster, um das Treiben auf den Straßen zu beobachten. Doch bald öffnet sich die Welt der beiden und sie finden Anschluss auf den Straßen Brooklyns.

Auf nicht einmal 160 Seiten gelingt es Jacqueline Woodson, das komplexe Heranwachsen Augusts in einer schwierigen Umgebung zu skizzieren. Das komplexe Innen- und Außenleben der Held*innen wird von der Autorin gut eingefangen und glaubhaft vermittelt. Ein unglaublich präsentes, klares und unsentimentales Buch über die Kindheit. Auch meine geschätzte Mitbloggerin Birgit Böllinger war sehr angetan.

 

Nicolás Obregón – Schatten der schwarzen Sonne

Von Amerika aus geht es mit dem nächsten Buch auf einen ganz anderen Kontinent, nämlich Asien. Diesen bespielt der Debütautor Nicolás Obregón mit seinem Thriller Schatten der Schwarzen Sonne. Das Buch ist der Autakt zu einer geplanten Reihe um den Ermittler Kosuke Iwata. Dieser wurde zur Mordkommission in Tokio versetzt und bekommt es gleich mit einem gerissenen Täter zu tun. Dieser ermordete eine ganze Familie und hinterließ am Tatort eine gezeichnete Schwarze Sonne. Dieses Symbol wird dem Polizeibeamten noch öfter an Tatorten begegnen und führt ihn bis nach Hongkong. Doch die wahren Hintergründe bereiten Iwata  Kopfzerbrechen. Handelt es sich um Taten der Triaden, gibt es im privaten Umfeld der Ermordeten Motive oder steckt etwas ganz anderes hinter den Taten? Um den Täter zu stellen, muss Iwata ein hohes Tempo an den Tag legen – denn der Täter ist mit so ziemlich allen Wassern gewaschen.

Mit Schatten der Schwarzen Sonne hat Nicolás Obregón einen wirklich multikulturellen Thriller geschrieben. Obrégon selbst hat eine französische Mutter und einen spanischen Vater. Sein Buch hingegen wurde in Englisch verfasst, ins Deutsche von Thomas Stegers übertragen und in spielt in Japan und China. Wäre dieses Buch ein Fluggast, es hätte wohl so einige Bonusmeilen gesammelt. Obregón erfindet zwar das Rad nicht neu, bietet dafür aber einige spannende Lesestunden.

 

Horst Eckert – Der Preis des Todes

Horst Eckert schaut dahin, wo wir unseren Blick lieber abwenden. Mit seinen Kriminalromanen spürt er gesellschaftlichen Entwicklungen nach und bringt auch Themen aufs Tapet, die sonst eher unpopulär sind. Zuletzt untersuchte er in Wolfsspinne die Verflechtungen von NSU und den aktuellen rechten Bewegungen. In Der Preis des Todes richtet er seinen Blick von Deutschland aus nach Afrika. Genauer gesagt spielt eine große Stadt Afrikas im Buch eine tragende Rolle – die offiziell nicht einmal eine Stadt ist. Die Rede ist von Dadaab, einem der größten Flüchtlingslager der Welt. Dorthin führen die Spuren, denen die TV-Talkerin Sarah Wolf nachgeht.

Diese moderiert eigentlich im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen eine Talkshow. Privat ist sie mit einem parlamentarischen Staatssekretär liiert, was beide zu einem Versteckspiel zwingt. Dramatisch wird es, als ihr Geliebter tot in seiner Berliner Wohnung aufgefunden wird. Sarah zweifelt am offiziellen Tathergang und beschließt, auf eigene Faust die Hintergründe des Todes aufzuklären. Schließlich versteht sie sich ja qua Job aufs kritisches Nachhaken und Analysen. Und so führen sie die Spuren schon bald ins Flüchtlingslager nach Dadaab, wo sie einem Skandal auf die Spur kommt.

Im Gewand des Kriminalromans bietet Horst Eckert eine ungewohnte und betrachtenswerte Perspektive auf die internationalen Fluchtbewegungen. Ist hierzulande die Debatte über Flüchtlinge durch starre Lagerbildung, Meinungskämpfe und viel Geschrei aufgeladen, so bietet dieser Krimi die Gelegenheit, noch einmal einen Schritt zurückzutreten. Eckert bietet Einblicke in das Geschäft mit der Flucht, Lobbyismus und das Treiben hinter den Kulissen einer Talkshow. Relevant und auf Höhe der Zeit!

 

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Hans Pleschinski – Wiesenstein

Da liegt es also, dieses Haus namens Wiesenstein: tief im Riesengebirge verborgen, die Schneekoppe in Sichtweite, abgelegen an einem Berghang befindlich. Erker, Türmchen, im Keller sogar ein Schwimmbad – und der Bewohner dieser mondänen Villa im Schlesischen ist kein Geringerer als Gerhart Hauptmann. Jener Gerhart Hauptmann, der 1912 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, Erschaffer von Dramen wie Vor Sonnenaufgang, Die Weber oder Bahnwärter Thiel. Seine letzten Jahre wird er umgeben von seiner Entourage in diesem Häuschen leben, das ihm zum Refugium vor Krieg und Bedrohung wird. Wie er diese Jahre verbringt, das zeigt Hans Pleschinski eindringlich in seinem neuesten Roman, der nach des Dichters Wohnstätte benannt ist.

Schon hochbetagt weilt Gerhart Hauptmann mit seiner Frau Margarete 1945 in einem Sanatorium in Dresden, als das Bombardement der Alliierten die Stadt in Schutt und Asche legt. Unter größten Mühen wird der Dichter mitsamt seiner Frau, Sekretärin und dem fahnenflüchtigen Masseur Metzkow aus der Stadt evakuiert und zurück in sein Haus in Agnetendorf gebracht. Fortan harrt ganz Wiesenstein der Dinge, die da kommen. Könnte man anfänglich Hauptmanns Haus für das Paradebeispiel eines weltfernen Gelehrten in seinem Elfenbeinturm halten (der Dichter pflegte sich nächtens zum Dichten und Philosophieren in sein Turmzimmer zurückzuziehen, gewandet in eine Mönchskutte), so lässt Pleschinski aber sehr schnell die grausame Realität in Wiesenstein einbrechen. Die Alliierten erobern langsam die deutschen Gebiete im Westen, der Volkssturm wirft mit Kindern und Greisen dem Feind sein letztes Aufgebot entgegen. Die Rote Armee nähert sich von Osten und schiebt panisch flüchtende Menschenströme vor sich her. Inmitten dieses Orkans liegt Wiesenstein zunächst noch relativ geschützt. Doch schon bald dringen die fatalen Nachrichten von der Kapitulation der Deutschen und den nahenden Truppen auch bis ins Haus zu Hauptmann und seinem Gefolge. Ängste und Panik erfassen auch Wiesenstein.

Wie werden die russischen Besatzer mit Hauptmann verfahren? Während die Rote Armee brandschatzt, vergewaltigt, Deutsche aus ihren Häusern vertreibt und ihre Besitztümer akquiriert, bangt man in Wiesenstein um das Leben und wirft alles in die Wagschale. Hat man doch an des Dichters Tafel Kommunisten genauso wie Gauleiter beherbergt, sich einst für Frieden mit Russland eingesetzt und unauffällig die von Hauptmann kommentierte Ausgabe von Mein Kampf verschwinden lassen. Pleschinski zeigt über dieses Bangen und Warten sehr geschickt die schwankende moralische Haltung Hauptmanns selbst. Er zeichnet einen widersprüchlichen Menschen, dessen Sympathien und Unterstützung nicht weniger verworfen sind, als es die Frontlinien vor der Haustür in Agnetendorf sind. Mal ganz stolz-national, dann aber wieder mit dem kommunistischen Dichter Johannes R. Becher befreundet und in Austausch stehend – Hauptmanns Leben ist kompliziert und findet in Wiesenstein ein angemessenes literarisches Abbild.

Immer schwankend lässt Pleschinski seinen greisen Dichter räsonieren, umgeben von seiner zweiten Ehefrau und einem Ensemble von Figuren mit ganz eigenen Schicksalen. Neben der angemessen-ambivalenten Annäherung an Hauptmann gelingt Pleschinski über diese Figuren auch eine höchst eindrückliche Schilderung der Schrecken und des Terrors, der durch den Begriff der Vertreibung noch viel zu harmlos umschrieben ist. Das unermessliche Leid der Menschen, aber auch das Mitläufertum und die Verehrung der Nationalsozialisten in der breiten Bevölkerung – Pleschinski bringt hier ein ebenso glaubhaftes wie detailliertes Zeit- und Sittengemälde aufs Tapet.

Margarete und Gerhart Hauptmann

Er findet hierfür genauso wie für das alltägliche Leben in Wiesenstein eindrückliche Bilder und inszeniert seine Erzählung meisterhaft. Immer wieder fließen bisher unveröffentlichte Stücke aus dem Tagebuch Margarete Hauptmanns in die Erzählung ein, die das fiktionale Werk stringent ergänzen. Auch fügt Pleschinski immer wieder Auszüge aus dem reichhaltigen und teilweise schon wieder vergessenen Ouevre des Dichters ein (das in seiner Qualität und Stilistik nicht minder schwankend wie Hauptmanns Haltung und Einstellung ist). Dem normalen Leser mögen naturalistische Werke wie Der Biberpelz oder das eingangs erwähnte Sozialdrama Die Weber wenn schon nicht aus dem Schulunterricht, dann zumindest dem Namen nach bekannt sein. Andere Werke aus dem Schaffen des schlesischen Dichters hingegen sind schon lange dem Vergessen anheimgefallen und dürften wirklich nur noch in Germanistenkreisen bekannt sein. Ein Beispiel hierfür ist das mehrmals im Buch zitierte dichterische Werk Till Eulenspiegel. Hier lässt sich vieles entdecken, was auch Pleschinski in seinem Nachwort noch einmal betont. Wiesenstein steckt voller Wiederentdeckungen und lädt zum erneuten Kennenlernen dieses Dichters ein, den einige Protagonisten im Buch auch als Sprachmagier rühmen.

Der Fairness halber sollte man aber auch erwähnen, dass die Bezeichnung des Sprachmagiers nicht nur auf Hauptmann zutrifft, sondern auch auf Hans Pleschinski selbst. Denn die Sprache, in die er seine Annäherung an Gerhart Hauptmann kleidet, ist von größter Brillanz und Eindringlichkeit. Wiesenstein bietet Sprachkino auf höchstem Niveau. Wie fein der Münchner seine Sätze, Sprachbilder und Szenen webt, das ist mehr als meisterlich. Auf jeder Seite versteckt sich eine Fülle an Anspielungen und Metaphern, sodass man diesen 520 Seiten starken Roman wirklich langsam und aufmerksam genießen sollte, um die ganze Detailfülle an Eindrücken aufnehmen zu können.

Wiesenstein ist so vieles: Dokumentation des Kriegsjahres 1945 und der Vertreibung im Osten, Hauptmann-Biografie, Sprachfest – schon jetzt ein Anwärter für den Roman des Jahres (mit einer Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse oder den Deutschen Buchpreis sollte man auf alle Fälle rechnen) – und ein Geschenk für jeden Germanisten und für alle Liebhaber guter Literatur!

 

 

 

[Quelle Foto Margarete und Gerhart Hauptmann: Bundesarchiv, Bild 102-14016 / CC-BY-SA 3.0]

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Imbolo Mbue – Das geträumte Land

Willkommenskultur, Migration, Asyl- wer bei diesen Schlagwörtern jetzt schon genervt abwinkt, dem entgeht mit Das geträumte Land von Imobolo Mbue ein wunderbares Buch, das diese Themen sehr lesenswert behandelt (Deutsch von Maria Hummitzsch).

Ausgangspunkt ist die Familie von Jende Jonga, die aus Kamerun in die USA übergesiedelt sind. Sie haben in den USA Asyl beantragt, das Verfahren schwebt – und um die Familienkasse aufzubessern, beschließt sich Jende als Fahrer bei dem Banker Clark Edwards als Fahrer zu bewerben. Jener ist im Jahr 2008 als Banker bei Lehmann Brothers angestellt (der geneigte und informierte Leser weiß hier natürlich schon, welche Entwicklungen das zur Folge haben wird) und engagiert tatsächlich Jende. Durch die Tätigkeit als Fahrer kommen sich die beiden Männer näher – und auch die beiden Frauen freunden sich an. So verschränken sich die Schicksale der Edwards und der Jongas, auch wenn sie natürlich auf ganz anderen gesellschaftlichen Stufen stehen. Continue reading

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