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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Mme. Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch gelungen vor.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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Sarah Winman – Das Fenster zur Welt

Von den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs bis in die Nachkriegszeit hinein zeichnet Sarah Winman in ihrem Roman Das Fenster zur Welt die Wege einer Gruppe von Menschen nach, für die Florenz zum Lebensmittelpunkt wird. Lektüre, die die Freundschaft feiert – und einem Papagei den großen Auftritt gönnt.


Schon in ihrem ersten auf Deutsch veröffentlichten Roman Lichte Tage erwies sich das Ausland für einen Engländer als der Ort, an demer hätte wirklich glücklich werden können. Damals war es die Provence, in der einer von Winmans Figuren zumindest kurzzeitig das Glück fand.

In ihrem neuen, ebenfalls wieder von Elina Baumbach ins Deutsche übertragenen Roman ist es nun erneut die Fremde, in der diesmal eine ganze Gruppe von Engländer*innen glücklich wird.

Doch bis es soweit ist, nimmt uns Sarah Winman erst einmal mit in die Endphase des Zweiten Weltkriegs, wo sich zwei ganz unterschiedliche Menschen vor den Toren von Florenz begegnen. Da ist die „englische Jungfer“ Evelyn, die sich als Kunsthistorikerin den Alliierten andienen will, um vor Ort die Kunstschätze von Florenz zu sichern und zu retten. Und da ist der junge Soldat Ulysses, der in den chaotischen Tagen rund um die Befreiung von Florenz zum ersten Mal einen Eindruck davon erhält, was diese Stadt mitsamt ihrer Bewohner und der reichlichen Kunstschätzen seit der Renaissance auszeichnet.

Der Zauber von Florenz

Sarah Winman - Das Fenster zur Welt (Cover)

Ein Intermezzo in London währt dann auch nicht lange, ehe Ulysses dem Zauber von Florenz erneut erliegt. Denn in den ersten Tagen in der befreiten Stadt hat er die Bekanntschaft mit einem Florentiner gemacht, der ihm nun nach seinem Tod dort gleich zwei große Wohnungen in einem Stadthaus vermacht. Und so beschließt Ulysses, zusammen mit der Tochter seiner Gattin nach Italien aufzubrechen. Die Gattin selbst bleibt in England zurück, die Ehe der beiden glich aber sowieso einem Zufallsprodukt. Gesellschaft an seiner Seite leistet ihm an ihrer statt Cressy, ein Freund der Familie.

Über die Jahre hinweg beobachtet Sarah Winman nun das Treiben dort in der Renaissancestadt, das ähnlich bunt ist wie die außergewöhnliche Gruppe um Ulysses. Sogar Claude, ein Papagei aus einem Londoner Pub, erhält in der neuen Wohnung seinen Platz.

Wie Ulysses dort ankommt, Freundschaften schließt und sich in seinem neuen Leben einrichtet, das beschreibt Winman anschaulich und anrührend. Immer wieder erhält Ulysses dort in Florenz auch Besuch von einer Gruppe aus London um seine Frau Ex-Peg. Dem Zauber Italiens und insbesondere dem von Florenz kann man sich eben doch nicht entziehen, selbst wenn man im fernen England lebt.

Die Feier von Freundschaft und Verbundenheit

Das Fenster zur Welt ist die Feier von Freundschaft und von tiefem Verständnis, das die Figuren untereinander entwickeln. Denn obschon die Beziehung zu seiner Ex-Frau schwierig ist, mancherlei Katastrophen wie die Überschwemmung von Florenz durch den Arno 1966 auf die zugezogenen Florentiner warten – im freundschaftlichen Verbund mit Bekannten, Freunden und Papagei übersteht man selbst die schlimmsten Unglücke, wie Sarah Winman in ihrem Buch zeigt.

Liebe, Romanzen, Verlust und Tod sind Themen, die in diesem Buch behandelt werden. Schwer ist Das Fenster zur Welt aber nie, sondern ist immer vom Gefühl von la dolce vita getragen. Der Hotelbetrieb mitsamt seiner illustren Gäste und die omnipräsente Kunst zwischen Pontormos Kreuzabnahme und Michelangelos David versprüht viel Leichtigkeit und Freude. Diese Freude und die Erinnerungen an die wechselvolle Beziehung mit Florrenz sind es dann auch, die Evelyn wieder nach Florenz locken und sie schließlich auch mit der Freundesgruppe um Ulysses zusammenführen wird. Hier findet alles in einer großen Feier der Verbundenheit und Freundschaft zusammen.

Vielleicht manchmal etwas eine Spur zu locker und mit dem Sentenzen absondernden, hochintelligenten Papagei Claude manchmal etwas nah an der Karikatur ist Sarah Winmans Roman am Ende einfach buchgewordener Urlaub in Italien. Die Lektüre von Das Fenster zur Welt weckt während der Lektüre Lust, selbst baldmöglichst über die Ponte Veccio und durch die Gassen der Stadt am Arno zu strawanzen.

Fazit

Bevor im Oktober Italien vollends in den Fokus der literarischen Aufmerksamkeit rückt, kann man hier schon einmal vorab eine Reise nach Italien unternehmen und zusammen mit Sarah Winman die Schönheit und Anziehungskraft von Florenz erkunden.

Das Fenster zur Welt ist die Feier von Freundschaft und zeigt Menschen, die fernab von konventionellen Lebensmodellen und Rollenbildern miteinander im Einvernehmen miteinander stehen. Getragen von einem tiefen Verständnis füreinander ist dieser Roman – obschon von einer Engländerin verfasst – von italienischer Leichtigkeit durchzogen. Leicht zu lesen, aber keineswegs banal mit großen Bögen über die Jahre hinweg stellt Sarah Winmans Buch eine ideale Einstimmung auf den Sommer und auf den nächsten Urlaub jenseits des Brenners dar.


  • Sarah Winman – Das Fenster zur Welt
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-96606-0 (Klett Cotta)
  • 528 Seiten. Preis: 26,00 €
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Ron Rash – Der Friedhofswärter

Kollegen wie Richard Russo bezeichnen ihn schon als „einen der besten amerikanischen Autoren“. Nun ist der Amerikaner Ron Rash dank Übersetzerin Sigrun Arenz und dem herausgebenden Ars Vivendi-Verlags aus dem fränkischen Cadolzburg nun auch auf Deutsch zu entdecken. Sein Roman Der Friedhofswärter entführt ins ländliche North Carolina zu Beginn der 1950er Jahre und schildert eine Geschichte, die fast einem Shakespear’schen Drama entnommen sein könnte.


Die Grundidee, die Ron Rashs Roman zugrundliegt, sie könnte tatsächlich aus einem Shakespeare-Drama, einer großen Oper oder wenigstens einem bürgerlichen Trauerspiel stammen:

Nachdem sie bereits zwei Kinder auf dem Friedhof von Laurel Fork beerdigen mussten, ist Jacob das letzte lebende Kind von Cora und Daniel Hampton. Sein Leben ist allerdings auch in Gefahr, denn er wurde als Soldat eingezogen, um im Koreakrieg zu kämpfen.

Als er nun bei seinem Einsatz schwer verwundet wird, nutzen seine Eltern diesen Umstand für eine perfide Intrige. Denn eigentlich wollte Jacobs Vater seinen Sohn bereits verstoßen, da er sich mit einem für die Begriffe seiner Eltern völlig unstandesgemäßen Mädchen eingelassen hat.

Die doppelte Täuschung

Gerade einmal sechzehn war Naomi, als diese mit Jacob zusammenkam und dann den Bund der Ehe schloss. Ein Annullierungsversuch dieser Ehe durch Jacobs Eltern blieb erfolglos. Nicht einmal die schwere Arbeit im familieneigenen Sägewerk, mahnende Gespräche und Verstoßungsdrohungen konnten der Beziehung der beiden etwas anhaben. Im Gegenteil. Nun, während Jacob in Korea kämpft, harrt Naomi nun hochschwanger daheim aus. Für die Hamptons wie auch die ganze Kleinstadt Little Rock dort im ländlichen North Carolina ist dieser Umstand eine einzige Provokation.

Ron Rash - Der Friedhofswärter (cover)

Das „schamlose“ Mädchen und die Ehe ihres Sohnes, die der der puritanischen Einstellung der Eltern aus Anstand und harter Arbeit zuwiderläuft, das alles soll nun ein Ende haben. Und so täuschen sie Naomi den Tod Jacobs vor und sorgen mit viel Geld für einen Wegzug der Familie, die an anderer Stelle ein neues Leben beginnen soll, um so den vermeintlich toten Jacob zu vergessen.

Im Umkehrschluss täuschen die Hamptons Jacob nach dessen Rückkehr aus Korea den Tod von Naomi und ihrem gemeinsamen Kind vor. Sie scheuen für ihre Inszenierung weder Geld noch Mühe. Sogar eine Beerdigung samt Sarg organisieren die Hamptons, um die Illusion des Todes Naomis zu perfektionieren und um so das Band der beiden Liebenden zu zerstören.

Die Zweifel des Friedhofswärters

Während sich nun Jacob und Naomi ihrerseits in Trauer zurückziehen, gibt es ein verbindendes Element zwischen den beiden jungen Menschen, gewissermaßen der dritte Beziehungspunkt in ihrem besonderen Dreieck. Den während Jacob in Korea weilte, bat er den von einer Polio-Infektion entstellten Friedhofswärter Blackburn, sich um Naomi zu kümmern. Das tat er auf einfühlsame Weise, sodass der englische Originaltitel The caretaker hier eigentlich noch viel besser greift als die alleinige Funktionsbezeichnung, die der deutsche Titel bemüht.

Nun, da auf dem von ihm betreuten Friedhof von Laurel Fork der Sarg von Naomi bestattet wurde, mag er sich trotz allem tief in seinem Herzen nicht mit der vermeintlichen Wahrheit des Todes von Naomi abfinden. In seinem Beistand für Jacob wächst doch auch die Irritation und das Gefühl, das etwas nicht wirklich stimmt, je mehr Jacobs Eltern nicht nur auf ihren Sohn, sondern auch auf den Friedhofswärter Einfluss nehmen wollen.

Zart und gerade dadurch so wuchtig kommt Ron Rashs Roman daher. Ebenso wichtig wie die Landschaft der Kleinstadt und der Weite North Carolinas ist auch die Seelenlandschaft seiner Held*innen.

Der Friedhofswärter spürt Verletzungen und Verwundungen in vielfacher Form nach. Von den erlebten Kriegsgräuel am eigenen Körper und den Verheerungen in der Seele, vom psychologischen Druck der eigenen Eltern, die wiederum den Verlust ihrer anderen beiden Kinder auch durch die Manipulation und Lenkung Jacobs erzielen wollen. Von der Ausgrenzung des jungen Paares in der Kleinstadt Blowing Rock oder das Mobbing Blackburns, der als Friedhofswärter und Poliokranker gleich zweifach stigmatisiert ist, erzählt Ron Rash anschaulich und fühlt sich mühelos in die Figuren ein, denen er ihre Vielschichtigkeit und Widersprüche lässt.

So ist Ron Rash selbst auch gewissermaßen ein Caretaker, der sich um seine Figuren kümmert, ihre Bedrüfnisse ernst nimmt und gerade daraus die Qalität seiner Prosa schöpft, die aufbauend auf der starken Grundidee des Plots auch die psychologische Ebene seines Romans sauber grundiert und dadurch auf Effekthascherei oder große Volten in der Erzählung verzichten kann.

Fazit

Übersetzt von Sigrun Arenz ist so ein ruhiger, glaubwürdiger und erinnerungswürdiger Roman entstanden, der das Lob von Richard Russo und Konsorten für Ron Rashs Schreiben eindrücklich beweist und untermauert. Verwundungen, Intrigen und die allesüberdauernde Kraft der Liebe auch gegen Widerstände sind die Themen, die Der Friedhofswärter behandelt. Entstanden ist in Rashs Bearbeitung daraus ein unsentimentaler und unkitischiger Roman, der mit wenigen Strichen das Leben und die Moralvorstellung der 50er Jahre in einer amerikanischen Kleinstadt plastisch wiederauferstehen lässt.


  • Ron Rash – Der Friedhofswärter
  • Aus dem Englischen von Sigrun Arenz
  • ISBN 978-3-7472-0607-2 (Ars Vivendi)
  • 240 Seiten- Preis: 24,00 €
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Rónán Hession – Leonard und Paul

Soulfood in Buchform. In Leonard und Paul stellt der Ire Rónán Hession die Freundschaft zweiter introvertierter Männer in den Mittelpunkt. Zwar haben sie es aufgrund ihrer zurückhaltenden Charakteranlage nicht so leicht, finden aber dennoch oder gerade wegen ihrer Unangepasstheit zu ihrem Glück.


Dass wir die Geschichte der Freunde Leonard und Paul hierzulande zu lesen bekommen, verdanken wir der Hartnäckigkeit einer anderen Zweierbeziehung. So beschlossen Torsten Woywod und seine Partnerin Wiebke Meurer nach einem zufälligen Fund des englischen Originals, das Buch auch den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich machen zu wollen. Kurzerhand gründeten sie einen eigenen Verlag, um das Buch in die Buchläden des Landes zu bringen, beauftragten Andrea O’Brien mit der Übersetzung und brachten das Buch in Eigenregie auf den Markt (mehr zu dieser ungewöhnlichen Geschichte gibt es auch im Interview mit Torsten auf dem Blog Klappentexterin zu erfahren).

Nun liegt das Buch auch in der Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg vor und ist – ich kann es nach der Lektüre nicht besser in Worte fassen – Soulfood zum Lesen.

Vorweg: wer gesellschaftliche Analysen, politisch verhandelte Themen oder sprachlich herausfordernde Problembegehungen sucht, der wird mit Leonard und Paul nicht wirklich glücklich werden. Wer aber gute Unterhaltung schätzt, die einfach mal wieder in eine Geschichte abtauchen lässt, die liebenswerte Charaktere auf ihrem Weg durchs Leben begleitet und wer in diesen schwierigen Zeiten Ablenkung sucht, der wird mit Rónán Hessions Buch sicherlich glücklich werden.

Die Geschichte zweier Außenseiter

Denn seine Geschichte zweier Außenseiter ist eine, die den Wert der Freundschaft feiert und die zeigt, wie sich auch Trauer und Schmerz durch Zuwendung und Mitmenschlichkeit überwinden lassen.

Leonard erfährt dies nach dem Tod seiner Mutter. Bequem hatte er sich eingerichtet im Leben mit ihr, man gab aufeinander acht und Leonard war das, was man ein behütetes Kind nennt, auch wenn er formal dem Kindesalter schon längst erwachsen war. Doch nun, nach dem Tod der Mutter, verliert er, der an Kinokassen infolge von Entschlussschwäche schon mal lieber nach Hause eilt, statt einen Film zu sehen, fast vollständigen den Halt.

Rónán Hession - Leonard und Paul (Cover)

Nur sein Freund Paul ist für ihn da, mit dem er tiefgründige Gespräche über das All führt, mit dem er sich regelmäßig zum Spielen von Klassikern wie Scrabble trifft – und dessen Leben gerade auch vor einem (weitaus kleineren) Umbruch steht. So heiratet seine Schwester, womit sich diese auch ein Stück weit aus dem familiären Verbund löst und nun Paul mit seinen Eltern allein zuhause zurücklässt.

Diese Situation von erfahrenen Lebensumbrüchen lässt sich aber durch die Freundschaft der beiden introvertierten Männer aber gut regeln. Denn sie finden beide zu neuem Glück, wie Hession im Laufe des Buchs zeigt. Leonard, der als Ghostwriter und Redakteur von Kinderbüchern sein täglich Brot verdient, und Paul, der zusammen mit seiner Mutter Menschen im Krankenhaus besucht und zweimal im Monat als Aushilfsbriefträger im kleinen Heimatdorf unterwegs ist, finden zu neuen Umgangsformen, gar eine aufkeimende Liebe steht einem der beiden Männer bevor.

Leonard & Paul & Grace & Shelley

Leonard und Paul ist ein Buch, das die Stille, die Zurückhaltung und das Absagen an Hektik und Oberflächlichkeit feiert. Rónán Hession entdeckt Unbeholfenheit als eine liebenswerte Eigenschaft, verzichtet auf eine Bloßstellung seiner Helden und ist in seinem ganzen Schreiben mitfühlend und mitmenschlich. Es ist eine Lektüre, die gute Laune macht, auch wenn nichts Großes oder Spektakuläres in diesem Roman geschieht – und es ist Lektüre, die mich von ihrer Zugewandtheit und ihrem Sinn für Humor auch an die Schreibe von Freya Sampson erinnerte.

Sie wissen schon, sie wollte absichtlich depressiv klingen, weil sie dachte, dann würde sie sich literarischer anhören, aber ich bin sicher, Sie haben das auch schon bemerkt, es gibt Menschen, die so sehr mit dem Schreiben beschäftigt sind, dass sie darüber vergessen, eine Geschichte zu erzählen. Das macht mich wahnsinnig!

Rónán Hession – Leonard und Paul, S. 291

Diese literarische Weisheit, die Leonard auf der Hochzeit von Pauls Schwester Grace im Gespräch mit einem anderen Hochzeitsgast erfährt, hat Rónán Hession auch für sein Buch beherzigt. Leonard und Paul ist einfach das, was bekanntlich mit am schwersten ist: im besten Sinne „leicht“, da gut gemachte, empathische und eine wärmende Lektüre – genau das Richtige also für kalte Tage, für das Weihnachtsfest und darüber hinaus auch für unsere Zeit.

Fazit

Dass dieses Buch zum auserwählten Kreis der für den Preis „Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels“ nominierten Titel des Jahres 2023 zählt, ist kein Wunder.

Ebenso wie die Entdeckungsgeschichte des Buchs macht auch die Lektüre von Leonard und Paul selbst viel Freude, lässt an das Gute im Menschen glauben, unterhält vorzüglich und leistet Ablenkung in Zeiten, in denen der Blick auf die Nachrichtenlage wenig Grund für Hoffnung stiftet. Insofern ein wunderbares Buch für alle, denen der Sinn nach einer „schönen“ und erbauenden Geschichte steht, nicht nur in diesen dunklen Wintertagen.


  • Rónán Hession – Leonard und Paul
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • Artikelnummer 17491X (Büchergilde Gutenberg)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen

Vor vier Jahren sorgte die Nachricht der damals frischberufenen Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar für Aufsehen, als diese verkündete, man wolle künftig auch Computerspiele sammeln und bewahren. Eine überfällige Entscheidung, wie es die SZ nannte, sind Computerspiele doch längst Kulturgut, die in unserer Gegenwart eine größere Breitenwirkung entfalten als so manches Buch. Dass nicht nur die Computerspiele selbst Geschichten zu erzählen haben, sondern auch die dahinterstehenden Entwickler*innen, das zeigt Gabrielle Zevin in ihrem neuen Roman Morgen, morgen und wieder morgen. Dieser erzählt von der Entstehung eines Spieleentwicklerstudios und den kreativen Köpfen dahinter, deren Verhältnis sich sehr komplex gestaltet.


Alles beginnt mit einem ikonischen Videospiel, nämlich Super Mario Brothers. Dieses Spiel zockt der junge Sam Masur in einem Krankenhaus in Los Angeles, als er dort auf Sadie Green trifft, deren Schwester dort ebenfalls im Krankenhaus zur Behandlung ist. Beide Kinder freunden sich über das Videospiel an, da sich Sam als Virtuose an den Controllern erweist. Ihm gelingt es, seine Super Mario-Figur auf der Spitze der Fahnenstange landen zu lassen. Ein Trick, den Sadie bislang noch nirgends beobachtet hat – und der zum Ausgangspunkt der Beziehung der beiden wird.

Sam befindet sich aufgrund eines schweren Autounfalls im Krankenhaus. In den Hügeln Hollywoods kam es zu diesem Unglück, bei dem seine Mutter starb und Sam eine schwere Verletzung am Fuß davontrug. Verletzungen, die ihn zeit seines Lebens zeichnen und belasten werden.

Pflegerinnen und Ärzte fanden bislang kaum Zugang zu ihm – doch im gemeinsamen Spiel mit Sadie kann sich Sam öffnen. Und auch Sadie profitiert, bekommt sie doch für die gemeinsame Zeit mit Sam für ihr soziales Engagement im Rahmen ihrer Bat Mizwat Punkte gutgeschrieben.

Komplexe Dynamiken

Gabrielle Zevin - Morgen, morgen und wieder morgen (Cover)

Doch schon in dieser Frühphase der beiden Kinder an der Schwelle zum Erwachsenenwerden zeigen sich komplexe Dynamiken. Denn nachdem Sam herausfindet, dass das gemeinsame Videospielen Sadie auch zur Auffüllung ihres Punktekontos für die Bat Mizwat diente, erleidet das Verhältnis der beiden einen Riss und wird erst später wieder vom anfänglichen Vertrauen geprägt sein.

Auch das Verhältnis Sadies mit einem verheirateten Dozenten im Rahmen ihres Studiums der Spieleentwicklung in Harvard ist nicht dazu angetan, das Zusammenwirken der beiden jungen Menschen zu vereinfachen, im Gegenteil. Von ihrem Geliebten kommt die junge Studentin auch im Folgenden nicht wirklich los. Spätestens, als die beiden im Rahmen der Entwicklung ihres ersten gemeinsamen Computerspiels Ichigo diesen als Entwickler und Zulieferer für ihre Grafikengine einbinden, entsteht hier eine komplexe Gemengelage, in der im Folgenden auch noch Marx mitmischen wird, der vom verständnisvollen Mitbewohner Sams zum Unterstützer und Manager des Entwicklerduos werden wird.

Während Sam und Sadie Spiele entwickeln, sich stets um die künstlerische Ausrichtung streiten ist es im Folgenden Marx, der die beiden zusammenhält und als Produzent Unfair Games, so der Name der Spieleschmiede, für das Funktionieren des komplexen Trios sorgt, bis ein Zwischenfall das bisher gekannte Miteinander völlig auf den Kopf stellt.

Ein Roman aus der Welt der Entwicklerstudios

Gabrielle Zevin, die bislang in Deutschland eher mit Jugendbüchern und (zumindest in der deutschen Aufmachung) recht kitschig aufgemachten Romanen in Erscheinung trat, gelingt hier ein spannendes Buch, das sowohl in der beschriebenen Thematik als auch in seinem Personal durchaus überzeugen kann.

So gibt es Romane über Videospiele inzwischen häufig – aber ein Roman, der die Welt der Entwicklerstudios spielt und die Arbeit des Spieleerfindens und die Realisation der digitalen Welten beschreibt, das ist doch (zumindest für mich) neu.

Zevin zeigt, wie sich seit den Anfangstagen die Spiele fortentwickeln, die Grafiken, Spielmechaniken und Ansprüche der Spiele ausgefeilter werden, Gewissensentscheidungen und komplexe Abwägungen in die Titel hineinfinden – was sich auch im Verhältnis von Sadie, Sam und Marx spiegelt, das im Lauf des Buchs in dem Maße an Wucht und Dramatik gewinnt, wie auch ihre entwickelten Spiele ambitionierter und populärer werden.

Dabei gelingt es der Autorin auch, mit Erzähleinfällen zu überraschen und neue Blickwinkel zu eröffnen.

Ist es zu Beginn der Dozent und Liebhaber von Sadie, der erbarmungslos alle von den Student*innen vorgestellten Titel verreißt und aburteilt, wenn sie ihn nicht überraschen und Neues bieten, so sieht sich das Buch selbst zunächst diesem Vorwurf der linearen Vorhersehbarkeit ausgesetzt.

Aber spätestens ab der Hälfte des Buch gelingt es Gabrielle Zevin dieses Forderungen auch für ihr Buch selbst umzusetzten und die Leser*innen emotional einzubinden (obgleich so manche der vielfach geschilderten Anziehung und Abstoßung, Depressionen und körperliche Pein des Schmerzenmanns Sam und der Schmerzenfrau Sadie dann doch auch etwas an exzessive Prosa Hanya Yanagiharas erinnern).

Bis zur Mitte schnurrt dieser geschmeidig erzählte Roman durchaus vor sich hin, bietet aber wenig Überraschendes oder Neues – was sich dann spätestens ab dem oben erwähnten Zwischenfall ändert. Ab hier kann Gabrielle Zevin mit eigenen Erzähleinfällen überzeugen, wagt ungeahnte Perspektivwechseln und probiert sich am Ende sogar an der Erzählform eines Computerspiels aus, das sie organisch in die Rahmenhandlung einbettet.

Ein bisschen von diesem inszenatorischen Mut der zweiten Hälfte hätte man auch dem ersten Teil von Morgen, morgen und wieder morgen gewünscht.

Aber auch so ist dieser Roman über die erzählten Inhalte hinaus eine gelungene Reflektion über die eigene Vergänglichkeit und die Möglichkeiten, die ein Computerspiel bieten kann und das, was Spiele mit uns machen.

„Was ist ein Spiel“ fragte Marx. „Es ist morgen, morgen, und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.“

Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen, S. 471

Denn dass die Endlichkeit schneller auf uns wartet, als es ein Computerspiel mit seiner Illusion der Unsterblichkeit vorgaukelt, dass weiß nicht nur Banquos Geist in Shakespeares Hamlet (dem auch der Buchtitel entlehnt ist). Das weiß auch die Dichterin Emily Dickinson, die zur Inspirationsquelle für Sadie wird und das weiß und zeigt auch Gabrielle Zevin in ihrem Roman mit der Wucht jener großen Welle des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai, die nicht nur das Cover des Buchs ziert, sondern auch Sadie und Sam Anregungen für die Entwicklung ihrer ersten Spiele gibt.

Fazit

Mit Morgen, morgen und wieder morgen gelingt Gabrielle Zevin ein souverän erzählter Roman, der von den Illusionen der Unsterblichkeit, von komplexen Beziehungen und von den Mühen der Spieleentwicklung erzählt. Sie stellt ein komplexes Figurendreieck in den Mittelpunkt ihres Romans und weiß vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit originellen und überraschenden Erzähleinfällen zu punkten, was aus Morgen, morgen und wieder morgen somit eine empfehlenswerte Lektüre macht!


  • Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen
  • Aus dem Englischen von Sonia Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0129-7 (Eichborn)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €
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