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Martin Mittelmeier – Heimweh im Paradies

Fernab der Heimat – und doch die Sorgen um Deutschland stets präsent. In Heimweh im Paradies porträtiert Martin Mittelmeier Thomas Mann während seines Exils in Kaliforniern – und zeichnet nebenbei auch noch ein Bild des exilierten deutschen Geisteslebens, von Adorno bis Schönberg.


Liest man Martin Mittelmeiers erzählendes Sachbuch Heimweh im Paradies, so muss man doch auch unwillkürlich zurückdenken an die Zeiten Anfang des Jahres, als die Waldbrände rund um Los Angeles loderten. Lange sah es so aus, als würden auch die Mann-Villa in Pacific Palisades und die Villa Aurora, in der Lion Feuchtwanger Zuflucht vor den Nazis fand, ein Raub der Flammen. Ein Unglück, das gerade so noch einmal vermieden werden konnte.

Was es bedeutet hätte, wenn diese Häuser mitsamt ihrer bewegten Geschichte in Flammen aufgegangen wären, das führt Mittelmeiers Buch vor Augen. Denn ihm gelingt es, ein Bild der deutschsprachigen Exil-Gemeinde während der Zeit des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen, deren Schicksal eng mit den Häusern verbunden war, die sie in Kalifornien bewohnten.

Katia und Thomas Mann sind im Frühjahr 1941 endgültig von Princeton an die Westküste gezogen, zunächst in ein Mietshaus im Ranch Style am Amalfi Drive, ganz in der Nähe von Huxleys Haus.

Im Februar 1942 beziehen sie das Haus, das sie sich nach langem Hin und Her, nach ständigem Zweifel und mehreren Kostensteigerungen selbst bauen haben lassen, eine halbe Stunde zu Fuß von der Wohnung am Amalfi Drive entfernt, wenn man sich vom Meer wegbewegt. Wo man dann aber, weil man auf diesem Weg immer bergauf geht, einen guten Blick auf den Pazifik hat. Die Villa, von deren Arbeitszimmer der Dichter einen weiten Ausblick über den Pazifischen Ozean hat, wird nach einer Gruppe hoher Palmen den Namen „Seven Palms“ führen“, heißt es in der deutsch-jüdischen Exilzeitung „Aufbau“ in einem kurzen Artikel.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 56

Thomas Mann – angetan von der eigenen Bedeutung

Während sich die dank des literarischen Erfolgs seiner Werke auch im Ausland finanziell unabhängigen Manns eine Villa erbauen können, ist Theodor Wiesengrund, genannt Adorno, in keiner solchen luxuriösen Situation. Er muss zusammen mit seiner Frau in einem wesentlich bescheideneren Heim leben, wo ihn Mann besucht. Aber dessen ungeachtet kann man natürlich auch nach Höherem streben, so wie es Mann bei seiner Gönner Agnes E. Meyer tut.

Martin Mittelmeier - Heimweh im Paradies (Cover)

Diese hat ihm zwar eine Stelle als Berater bei der Library of Congress sowie eine Gastprofessur in verschafft, so ganz zufrieden ist Thomas Mann damit aber nicht. Gegenüber seiner Gönnerin merkt Mann an, dass Hermann Hesse im Gegensatz zu ihm seine Zuhause in Kalifornien von seinem Mäzen finanziert bekommen habe. Luxusprobleme in der luxuriösen Umgebung von Pacific Palisades – aber auch eine bezeichnende Anekdote für den Geistesarbeiter Mann, der sich in seiner Rolle als moralisches Gewissen der Deutschen durchaus gefiel.

In Heimweh im Paradies bietet Mittelmeier viele solcher Vignetten auf, die das Bild von Thomas Mann als von der eigenen Bedeutung angetanen Mann zeigen. Als fleißiger Redenschreiber will er mit seinen Schriften von Kalifornien aus demokratiefördernd und fordernd auf die Deutschen einwirken, die derweil den Zweiten Weltkrieg führen.

Neben seiner Arbeit für die Demokratie schielt Mann auch stets mit seinem Schreiben auf die Wirkung seines Werks. Die Auszeichnung als Book of the month wird gerne entgegengenommen, nach der Vollendung seiner Josephs-Tetralogie ist es nun der Doktor Faustus, an dem er arbeitet und bei dem er Unterstützung vom schon erwähnten Theodor Wiesengrund erhält. Der in Musiktheorie wie philosophischem Denkwerk firme Adorno „inspiriert“ Mann zu seiner Arbeit am Roman über Adrian Leverkühn und dessen Pakt mit dem Teufel.

Geistesblüten im kalifornischen Exil

Nicht die einzige Geistesblüte, die die in Kalifornien zusammengewürfelte Notgemeinschaft treibt. Wie schon in seinem 2021 erschienenen Werk Freiheit und Finsternis nimmt Martin Mittelmeier auch hier die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Denker im kalifornischen Exil in den Blick.

Zusammen mit Manns direktem Nachbar Max Horkheimer arbeitet Theodor W. Adorno nicht nur im Institut für Sozialforschung zusammen und entwickelt zentrale philosophische Ideen weiter. Adornos Name Wiesengrund floss ebenso wie dessen Analyse von Beethovens Klaviersonate op. 111 wiederum in Manns Doktor Faustus ein. Auch prägen die Begegnungen mit exilierten Komponisten wie Hanns Eisler oder Arnold Schönberg und deren musiktheoretischen Ansätzen wiederum Manns Werk.

Um das Gravitationszentrum Thomas Mann herum entsteht ein Panorama von Geistesgeschichte dort in den Hügeln von Beverly Hills und Kalifornien, das Martin Mittelmeier in eine Sprache kleidet, die auch von ihrem Gegenstand gelernt hat.

Adorno ist von allen dreien am wenigsten an der politischen Sphäre interessiert. Er ist einerseits von allen der größte Revolutionär: Die Welt, so, wie sie ist, muss zersprengt werden. Aber mithilfe der Gedankenfiguren seines Freundes und Lehrers Walter Benjamin arbeitet er am stärksten von allen daran, diese Sprengung rein ins Gedankliche und Ästhetische zu verflüchtigen. Deswegen freut er sich, als Thomas Mann wieder zum Roman zurückkommt und den musiktheoretischen Vortrag des stotternden Organisten Wendell Kretzschmar vorliest mit der neu hinzukommenden Note, die das Tröstlichste der Welt ist.

Martin Mittelmeier – Heimweg im Paradies, S. 115

Das ist nicht immer ganz einfach zu lesen, schließlich steigt Martin Mittelmeier auch tief in das Denken seiner Geistesarbeiter ein und konzentriert sich nicht nur auf die Literatur, sondern eben auch in großem Maße auf die Philosophie, deren zentralen in Kalifornien entstandenen Gedanken und Ideen das Buch nachspürt.

Das macht Heimweh im Paradies nicht nur für literaturgeschichtlich interessierte Leser der Werke von Volker Weidermann oder Uwe Wittstocks interessant, sondern ist auch für Anhänger von biographisch grundierter Philosophiegeschichte ein Gewinn, wie sie gegenwärtig etwa Wolfram Eilenberger verfasst.

Fazit

Auch wenn der Untertitel von Heimweh im Paradies allein Thomas Mann in den Mittelpunkt stellt, so ist Martin Mittelmeiers Buch doch mehr. Dokumentation der Wechselwirkungen, die die Denkerinnen und Denker in ihrem Exil in Kalifornien erzeugten, Einstieg die Werkgeschichte Manns ebenso wie in die Entstehung der Frankfurter Schule, theoriegesättigter Sprachprunk, der dabei doch auch leichtfüßig und erkenntnisreich ist. Das alles vermag Martin Mittelmeiers Buch zu leisten.


  • Martin Mittelmeier – Heimweh in Paradies
  • ISBN 978-3-7558-0033-0 (Dumont)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Klaus Modick – Sunset

Ein Tag im Leben des Lion Feuchtwanger. Klaus Modick macht daraus ein berührendes Kunstwerk, das von der Freundschaft Feuchtwangers zu Bertolt Brecht erzählt, vom Leben und Schreiben der Männer – und vom Exil. Das ist Sunset.


Der Rahmen ist in Klaus Modicks Roman eng gesteckt. Vom frühmorgendlichen Aufgang der Sonne über dem gischtumnebelten Pazifik bis zum Untergang ebenjener Sonne reicht der erzählerische Bogen, der Sunset ausmacht. Diese enge Einheit eines einzigen Sommertages nutzt Modick, um wie in seinen später folgenden Romanen Keyserlings Geheimnis und Konzert ohne Dichter ein Künstlerporträt zu zeichnen.

Ähnlich wie bei letztem Roman ist es auch hier nicht nur ein einfaches, sondern eigentlich ein zweifaches Künstlerporträt. Denn bereits vier Jahre vor seinem Roman um das komplizierte Miteinander oder Gegeneinander des Worpsweder Malers Heinrich Vogler und des Dichters Rainer Maria Rilke widmete sich Modick 2011 bereits der Beziehung zweier Künstler, wie sie auf den ersten Blick gegensätzlicher eigenlich nicht sein könnten. Die Rede ist von Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht.

Da der Münchner Jude Lion Feuchtwanger, der mit großen historischen Romanen für hohe Auflagen und viel Aufmerksamkeit sorgte. Da Bertolt Brecht, Augsburger Kommunist und Verfechter des Epischen Theaters. Während Feuchtwanger nach einer kräftezehrenden Flucht in den USA an der Westküste heimisch wird, wird es Brecht in die entgegengesetzte Richtung in den Osten ziehen, wo er später auch begraben werden wird, nämlich in Ost-Berlin. Da der virile Feuchtwanger, dessen Potenz sich mittlerweile erschöpft und seine Beziehung zu seiner Marta alle Krisen überstanden hat, da Brecht mit seinen vielen Frauen und Nebenfrauen, Kindern und Bankerts.

Feuchtwanger und Brecht

Diese unwahrscheinliche Freundschaft, sie arbeitet Klaus Modick in seinem Roman noch einmal auf. Auslöser des Ganzen ist eine Todesnachricht, die Lion Feuchtwangers morgendliche Körperertüchtigung in seiner Villa am Paseo Miramar unterbricht. Niemand geringeres als Johannes Becher, der Kulturminister der neugegründeten DDR erbittet die Teilnahme Feuchtwangers an einem Staatsakt in Ost-Berlin, denn Bertolt Brecht ist tot.

Klaus Modick - Sunset (Cover)

Während nun Feuchtwanger rastlos durch sein Haus tigert und trotz der Abwesenheit seiner Frau so etwas wie Routine in seinen Tagesablauf zu bekommen versucht, brechen die Erinnerungen über ihn herein. Die unwahrscheinliche Freundschaft mit Brecht, dessen erste Kontaktaufnahme mit Feuchtwanger in München. Das Erlebnis nach der Lektüre von Brechts Spartakus, aus dem später die Trommeln in der Nacht werden sollten, der Baal als erstes Ausrufezeichen seines kraftgesättigten und kraftmeierischen Autors, all das scheint in kleinen Schlaglichtern in Modicks Roman wieder auf.

Aber auch Zeitgeschichtliches wie die Kommunistenehatz der McCarthy-Ära und das Verhör Brechts vor dem Tribunal wird durch die Erinnerungskaskade Feuchtwangers noch einmal greifbar. Überhaupt, die Zeitgeschichte: knapper, aber nicht minder eindringlich als in Uwe Wittstocks Marseille 1940 wird hier noch einmal an das Schicksal der Flucht und des Lebens im Exil erinnert.

Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst

Thomas Mann und seine Distanz zu Feuchtwanger, die Schwierigkeiten, in ein neues Leben hineinzufinden und in einem anderen Land mit anderer Sprache seine eigene Sprache und das Schreiben zu bewahren, all das tupft Modick grandios in diesen so kurzen, aber doch so intensiven Roman hinein.

Ihm gelingt mit Sunset das Kunststück, eine durchaus widersprüchliche Freundschaft und zwei ebenso kantige wie komplizierte Männer auf gerade einmal 190 Seiten in ein fabelhaftes Licht zu setzen. Biografisches, Werk der beiden Autoren und sprachliche Eleganz verbinden sich in diesem Roman zu einem großartigen Leseerlebnis, sodass man förmlich meint, selbst mit Feuchtwanger durch seine Villa über dem schimmernden Pazifik und sein wechselhaftes Leben zu spazieren.

Sunset ist ein reduzierter und gerade deswegen so starker historischer und zuvorderst Künstler-Roman. Er zeigt Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst. Es ist eine Höhe, die spätere Werke, allen voran Keyserlings Geheimnis nicht mehr so recht erreichen wollten.

Weitere Meinungen zu Sunset gibt es unter anderem bei Literaturkritik.de und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Klaus Modick – Sunset
  • ISBN 978-3-492-27418-0 (Piper)
  • 192 Seiten. Preis: 11,00 €
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Tony Burgess – Idaho Winter

Wer bislang gezögert hat, LSD auszuprobieren, für den gibt es nun gute Nachrichten. Denn wer Idaho Winter des US-amerikanischen Autors Tony Burgess liest, der braucht keine Drogen, um einen halluzinogenen Rausch zu erleben. Die Lektüre dieses Romans reicht vollkommen aus, um einem Fiebertraum irgendwo zwischen postmodernen Erzähltheater und absurdem Drogentrip beizuwohnen.


Schon die ersten Seiten lassen einen leichten Zweifel am dort zu Erlebendem aufkommen. Eine nicht näher benannte Kleinstadt wird da inszeniert. Es ist eine Kleinstadt, in der sich alle gegen den Jungen Idaho Winter verschworen haben. Reell scheint durch die überzeichneten Grausamkeiten schon hier nichts. Denn nicht genug, dass der Vater den Jungen zwingt, zum Frühstück einen toten Waschbären zu verspeisen und sich mit dessen Schwanz die Zähne zu putzen. Die Schulweghelferin wartet gezielt auf Idaho, um diesen vor die vorbeikommenden Autos zu stoßen – und als das keinen Erfolg zeitigt, steuert sie kurzerhand selbst einen LKW, um Idaho zu überfahren.

In dieser wunderbaren alten Stadt, in der Kinder in selbstgebauten Seifenkisten die sanften Hänge sicherer Straßen hinabsausen und lächelnde Großmütter auf den Fensterbänken ihre Kuchen abkühlen lassen, wird einem Jungen so viel Böses gewünscht – und zwar von allen und jedem – dass eine vollkommene Harmonie finsterer Abneigung entsteht.

Tony Burgess – Idaho Winter, S. 33 f.

Kleinstadtbewohner züchten gezielt Hunde, die Idaho zerfleischen sollen, der Schulhausmeister bewahrt extra zwei Beile in seiner Besenkammer auf, um Idaho damit zu zerstückeln. Polizisten, Klassenlehrerin, sie alle scheinen im Sadismus vereint und wollen Idaho mindestens quälen, am besten töten.

Die Jagd auf Idaho Winter

Tony Burgess - Idaho Winter (Cover)

Schon hier scheinen Zweifel auf, schließlich fallen diese ersten Seiten des Romans insbesondere durch ihre Überzeichnung auf. Der märchenhaft-cartooneske Ton des Erzählens enthebt Idaho Winter schon hier eigentlich jeglichen Realismus´, schließlich nähme man nicht einmal einem besonders düsteren Noir eine solche Überdrehtheit ab.

Dies folgenden Seiten lösen dann diese auf den initialen Seiten angedeutete Überdrehtheit vollkommen ein. Denn der Erzähler, der sich zunächst nur dezent aus dem Hintergrund in die Erzählung eingemischt hat, fällt plötzlich aus der Geschichte und sieht sich selber den Gefahren jenes Kosmos ausgesetzt, den er zuvor Idaho zugemutet hatte.

Es ist ein Kosmos, der einem Fiebertraum gleicht. Zitiert der Klappentext des im Wagenbach-Verlag erschienenen Buchs Roald Dahl und Lewis Carroll, so ist das durchaus zutreffend. Denn ähnlich wie bei den beiden britischen Autoren reizt auch Anthony Burgess die Fantasie und Kreativität in Sachen skurrilem Worldbuilding ganz aus.

Ein Erzähler im erzählerischen Taumel

So bekommt es der Erzähler, nun selbst zu einer Figur in diesem Erzähltheater geworden, mit Dinosauriern in der Form von Velociraptoren zu tun. Seltsame Fabelwesen, Mombats genannt, chimärenähnliche Mutter-Fledermäuse, flattern umher, Flüsse voller Blutegel und anderer Gefahren gilt es zu durchqueren.

Es tauchen Figuren der bisherigen Geschichte auf, darunter auch die sadistische Klassenlehrerin oder das Mädchen Madison, das Sympathie für Idaho hegte und nun als Figur wiederkehrt, die in einem Bett schläft und der man sich nicht ganz nähern kann, ohne von abgrundtiefer Trauer erfasst zu werden. Zu allem Überfluss gesellen sich dann auch noch die Mitglieder der Band Greenday zum Gestaltenensemble, die hier ebenfalls ein Eigenleben führen. Der Erzähler durchwandert skurrile Welten, die wiederum von der Vorstellungswelt Idahos beeinflusst scheinen.

Alles gleicht einem Albtraum wie ihn Idaho auf den ersten Seiten des Buchs selbst durchleben musste. Ist es nun eine Rache oder ein Traum im Traum, der den Erzähler peinigt? Da hilft es alles nichts, wenn er uns als Lesende an einigen Stellen im Buch auffordert, die Lektüre abzubrechen oder zu anderen Seiten weiterzuspringen – gemeinsam ist man in dieser Welt gefangen und erlebt auf gut 130 Seiten einen wilden Rausch, der die Einnahme von LSD oder anderen halluzinogenen Substanzen mühelos ersetzt.

Fazit

Es ist ein wildes Erzähltheater, auf das man sich wirklich einlassen muss und das sicherlich nicht jedermanns Sache ist. Dem Realismus verhaftete Leser*innen dürften an Idaho Winter sicherlich nur wenig Freude finden. Allzu abgedreht und überbordend sind diese Welten, die Tony Burgess hier entwirft und durch die er seine Figuren jagt.

Wer Freude an postmodernem Erzählen hat, wie es beispielsweise Matthias Senkel in seinem Roman Dunkle Zahlen oder Petra Piuk und Barbara Filips in ihrem Vegas-Trip Wenn Rot kommt dargeboten haben, der dürfte auch mit Idaho Winter seinen Spaß haben. Günstiger und risikoärmer kommt man der Erfahrung eines halluzinogenen Trips nicht näher!


  • Tony Burgess – Idaho Winter
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-8031-3370-0 (Wagenbach)
  • 144 Seiten. Preis: 18,00 €
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Die tote Debatte

Der Buchbranche und der Leserschaft geht es nicht schlecht – wenn man sich auf den boomenden Bereich des Genres New Adult kapriziert. Fans stehen auf Messen Schlange für Selfies mit Autorinnen, signierte Bücher und besondere Ausstattungen. Farbschnitte werden heiß diskutiert und alleine in der Woche, in der ich diese Zeilen schreibe, stammen sechs der Titel der Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste Paperback aus dem Hause Lyx.

Solcher Absatz weckt natürlich auch Begehrlichkeiten. Sogar eine Marke wie Gräfe und Unzer wagt angesichts solcher Erfolgsmeldungen jüngsten Nachrichten zufolge den Sprung ins Tummelbecken des New Adult-Segments. Man wolle „psychologische Expertise“ mit belletristischer Handlung verschmelzen, um zum Genre so „hochrelevante neue Aspekte“ beizutragen, lässt sich die Vertreterin des Verlags zitieren. Dass trotz solcherlei Stanze eigentlich ökonomische Interessen angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs solcher Genretitel im Vordergrund stehen, darf nicht ausgeschlossen werden.

Doch was passiert eigentlich außerhalb dieser Erfolgssparte? Wenig Hoffnungsstiftendes. Denn obschon die steigenden Preise die Verluste auf dem Buchmarkt etwas ausgleichen können, sinkt doch die Zahl der Buchkäufer und scheinen die Verlage rat- und ideenlos. Und noch trostloser sieht es beim Thema des Sprechens über die Bücher selbst aus.

Denn nicht nur die professionelle Kritik und ihre Institutionen steht unter Druck, auch das Sprechen über Bücher im digitalen Raum durch Leserinnen und Leser selbst verödet zunehmend. Ist die digitale Literaturdebatte gar schon tot?

Elon Musk ist schuld

Blickt man auf die Gründe, warum die Literaturdebatte im digitalen Raum so verkümmert ist, könnte man es sich natürlich einfach machen, indem man auf den Mann zeigt, der schuld ist: Elon Musk.

Mit seiner Übernahme und anschließenden Abwirtschaftung des früheren Debattenraums Twitters hin zu X hat er für eine konsequenze Verödung des Mediums gesorgt. Eine Ausdünnung der Moderation ging mit dem beschönigend unter dem wolkigen Begriff der „Free Speech“ subsummierten Einlass radikaler, zumeist rechter Kräfte einher. Blaue Haken, früher ein Zeichen von Verifizierung und wenigstens einer Art von Relevanz, sind zur Ramschware verkommen. Reichweiten stagnieren, rechte Positionen fluten die Plattform und so ist es kein Wunder, dass dies zu einer Abwanderung vieler interessanter Stimmen geführt hat.

Eine wirkliche alternative und ähnlich relevante Plattform hat sich zumindest in meinen Augen bislang nicht etablieren können. Der blaue Himmel alias Blue Sky bleibt in Sachen Reichweite weit hinter den Erwartungen zurück und auch Mastodon bekommt sein Image als sympathisches, aber doch sehr nischiges und spezielles Kommunikationsforum nicht wirklich los. Auch die von Instagram angebotene Kommunikationsplattform Threads konnte sich bislang noch nicht wirklich durchsetzen.

Die Verbindlichkeit eines belebten Marktplatzes der Meinungen und Stimmen, wie es Twitter zur besten Zeit war, hat auch – über ein Jahr nach dem Niedergang des Mediums – keine der als mögliche Nachfolger gehandelten Plattformen entwickeln können. Wirkliche Debatten entspinnen sich so kaum.

Die Probleme liegen tiefer

Aber die Probleme liegen tiefer, als alleine bei Elon Musk die Schuld zu suchen. So ist die Zersplitterung der Kommunikationsplattformen nur Ausdruck dessen, was der Soziologe Andreas Reckwitz vor einigen Jahren auf die griffige Formel der Gesellschaft der Singularitäten gebracht hat.

Alles differenziert sich aus, Menschen suchen sich vermehrt ihre Nischen, in denen sie ihren Interessen nachgehen, die auch Distinktion erlauben und in denen sie das Gefühl von Besonderheit verspüren. Die Bindungskraft des Gemeinsamen, sie verliert sich zunehmend. Das kann man gut finden, etwa wenn sich im Bereich der Literatur einer verbindender Kanon auflöst, sogar Goethes Faust nicht mehr Pflichtlektüre in Schulen ist und so eine größere Vielfalt an Stimmen und vorher Übergangenem womöglich Einzug hält.

Gleichzeitig birgt das Ganze natürlich auch eine Gefahr, wenn man sich nicht mehr auf Standards und gemeinsame Nenner einigen kann, alles irgendwie gleich wertig ist und sich frühere klare Richtschnüre in einem einzigen Knoten der Beliebigkeit verheddern. So geht nicht nur die Orientierung verloren, auch die Weitung der eigenen Perspektive wird auf diesem Weg nicht unbedingt einfacher.

Die Orientierung geht verloren

Was sich im Digitalen vollzieht, findet auch in kulturkritischen Öffentlichkeit seinen Abdruck. Formate, die früher Orientierung versprachen, sie sind zunehmend auf dem Rückzug, wenn sie nicht eh schon verschwunden sind. Rezensionsplätze schrumpfen. Im vergangenen Herbst veröffentlichte Die Zeit nicht einmal mehr ihre traditionelle Beilage zur Frankfurter Buchmesse. Im Radio scheinen sich Programmdirektionen durchzusetzen, für die Anspruch in der Programmgestaltung einer potentiellen Abschreckung der Hörenden gleichkommt, welche unbedingt vermieden werden soll (die vielfache Streichung von Formaten des Senders Bayern 2 im Frühjahr diesen Jahres zugunsten einer besseren „Durchhörbarkeit“ der Radiostrecken ist hier ein trauriges Beispiel).

Auch im Fernsehen ist die Literaturkritik und das Gespräch über Bücher auf dem Rückzug. Sprechendes Bild hierfür ist die eigene Verzwergung des einstigen Hochamts der Literaturkritik, nämlich des Literarischen Quartetts. Früher vielbeachtet, scheinen heute die Sendungen nicht nur unter Ausschluss des Publikums vor Ort alleine sitzend unter einer Lampe am Tisch stattzufinden. Relevanz und Anspruch gehen anders.

Dass nun auch noch jüngsten Pressemeldungen zufolge Denis Schecks Sendungen Lesenswert und das Lesenswert Quartett als Orte des Austauschs über Bücher und Schreiben aufgrund von Sparvorhaben des SWR zugunsten eines wie auch immer gearteten digitalen Angebots eingestellt werden, fügt sich traurigerweise in diesen Trend ein. Hätten die Öffentlich-Rechtlichen wenigstens ein Konzept für Literaturvermittlung und Kritik im Netz, das über einzelne Podcasts oder Videos hinausgeht, könnte man dies ja vielleicht noch irgendwie gutheißen.

Richtungsweisende Ideen fehlen

Aber richtungsweisende Ideen und Visionen, sie fehlen auch hier und zeigen, dass die Programmverantwortlichen ratlos vor der Fragestellunge einer angemessenen Literaturrepräsentation offline wie online stehen. Kürzungen oder Streichungen von etablierten Formaten gehen ihnen deutlich leichter von der Hand, als Antwort auf die von ihnen erzeugten Leerstellen zu geben.

All das bedauere ich umso mehr, weil eine Polyphonie an Stimmen und Meinungen ja auch den eigenen Blick auf die Lektüre schärft. Debatten und Streit fordern eine eigene Positionsbestimmung heraus, ermöglichen einen neuen Blick auf Gelesenes. Man muss alte Wertungsmaßstäbe überdenken, eventuell verschieben oder gar neu entwickeln. Durch den Austausch über das Gelesene werden neue Perspektiven möglich und man justiert den eigenen Blick auf Geschriebenes.

Aber wie soll das funktionieren, wenn Literatursendungen und Rezensionen zusammengestrichen werden, wenn sich die Teilnehmenden und Anstifter*innen solcher Debatten aus dem gemeinsamen Gespräch verabschieden und die Gesellschaft der Singularitäten sogar schon jenen Ort durchdrungen haben, der eigentlich in seiner Konzeption für eine Verbindung von alles und jedem stand, nämlich das Internet?

Das Netz trägt nicht mehr

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es an selbst an jenem Ort, der qua Grundgedanke und Konstruktion für Austausch, Wissenserweiterung und Kollaboration ausgelegt ist, nicht mehr so recht gelingt, solche fruchtbringenden Debatten zu führen.

Ermöglichte das Netz parallel zur etablierten und institutionalisierten Literaturkritik auch den Aufstieg der eigentlichen Zielgruppe der Literatur, nämlich den ganz normalen Lesenden, hin zu Kritikern, die auf verschiedenen Plattformen und Formaten Literaturvermittlung und -kritik für ihr Publikum anboten, so ist dieser Aufstieg der Laien-Literaturarbeit schon längst zum Erliegen gekommen.

Viele Blogger*innen, die sich speziell dem gehobenen Segment der Literatur verschrieben haben, haben ihre Blogs aufgegeben. Ermüdet von der zeitraubenden Arbeit, die bis heute gerne von der profesionellen Literaturkritik belächelt und als unliebsame Konkurrenz markiert wird, haben sie sich aus dem Diskurs zurückgezogen.

Der Output in Form von Postings und Dikussionsbeiträgen ist merklich geschrumpft. Viele der früheren Blogger und Bloggerinnen haben durch einen Job Zugang in die Buchbranche gefunden, sind nun Verlagsmitarbeitende oder Buchhändler*innen. Der Podcast als Gespräch zwischen zwei oder mehr Lesenden hat das digitale Schreiben über Bücher zugunsten des Sprechens in Teilen abgelöst. Reichweiten für Posts und Beiträge sinken. All das sorgt verbunden mit einer oftmals mangelnde Wertschätzung der kostenlosen und stundenintensiven digitalen Besprechungsarbeit für eine Verödung der literaturkritischen Arbeit durch Laien.

Kaum Widerhall und gähnende Leere

Wo früher von Interessierten erregt in Kommentarspalten und Meinungsbeiträgen über Buchpreislisten, Nominierungen, Titel oder Auswahlverfahren vom Bachmannpreis bis hin zum Deutschen Buchpreis gestritten wurde, herrscht heute weitestgehend Stille und gähnende Leere

Ein Symbol hierfür war für mich die Verkündung der Nominierungen des Preises der Leipziger Buchmesse in diesem Frühjahr.

Haben die Literaturpreise tendentiell eher im Herbst Saison, liegt das Feld großer Literaturpreise im Frühjahr hierzulande fast brach. Ein großer Preis wie der der Leipziger Buchmesse, immerhin gleich in drei Sparten vergeben, sollte da doch eigentlich aufhorchen lassen. Aber zumindest in meiner Wahrnehmung horchte von den Leser*innen niemand recht auf, erst recht äußerte sich niemand vernehmlich. Im Netz fand der Preis kaum Widerhall. Kaum ein Leser dürfte die drei ausgezeichneten Titel noch aus dem Gedächtnis hersagen können, fanden die Bücher doch im digitalen Kulturraum fast überhaupt nicht statt.

Selbst wenn sich eine Debatte entzündet, sind es Äußerlichkeiten, mit denen sich die Debatten aufhalten und selten tiefer dringen. So war es in diesem Frühjahr wieder einmal die Zusammensetzungen der jüngst konstituierten Literaturjury des Deutschen Buchpreises, die auf Instagram die Gemüter erhitzte (oder zumindest lauwarm erwärmte).

Auch die letzte so zu nennende Debatte, die durch den Insiderberichts von Juliane Liebert und Ronya Othmann aus bzw. über der Jury des Internationalen Literaturpreis des HKW ausgelöst wurde, war hierfür symptomatisch. So ging es im Netz und in den Feuilletons um den von Liebert und Othmann erhobenen Vorwurf der außerliterarischen Kriterien bei der Entscheidungsfindung in Literaturjurys. Der damals ausgezeichnete Roman, das literarische Für und Wider der inkriminierten Titelauswahl, das alles aber fand in der Debatte nahezu nicht statt.

Blickerweiternd sind solche Debatten dann meistens auch nur in geringem Maße, versteifen sie sich doch auf äußere, denn inhaltliche Ästhetiken.

Mehr Debatte wagen!

Das ist bedauerlich, denn wir bräuchten mehr solcher blickerweiternden Debatten fernab von affirmativen Welten wie Instagram oder auf Sender-Empfänger-Modell ausgelegte Plattformen wie TikTok dringend (dass es in der boomenden Subsparte BookTok ausgerechnet wieder ein älterer Herr ist, der einen ebenso alten Kanon reproduziert, ist dabei mehr als nur eine Kuriosität für sich, die nicht nur die Bloggerin Katharina Herrmann kritisiert).

Mehr Debatte, mehr Streit, mehr Stimmen und mehr Tiefe in der Auseinandersetzung über Bücher und literarische Bewertung, das alles könnte den eigenen Blick, den gemeinschaftlichen Blick auf Literatur erweitern. Profitieren würde davon nicht nur das eigene Lesen – und weiter gefasst die Qualität der Literatur; auch die Verlage hätten ja etwas davon, wenn die Literatur wieder mehr ins Gespräch und den Austausch kommt. Für den kriselnden Buchmarkt könnte es zumindest ein Schritt in die richtige Richtung sein.

Bislang fehlen in meiner Wahrnehmung solche Iniativen aber völlig. Dabei wäre es wirklich wichtig, die tote Debatte insbesondere im Netz, aber auch in der medialen Öffentlichkeit wiederzubeleben.

Ein wertschätzender Blick auf die Akteure in den Debatten, Lust am gegenseitigen Austausch und Streit sowie entsprechende Infrastrukturen, um solche Debatten zu führen, all das könnten Ansätze für eine erste Wiederbelebungsmaßnahmen sein. Es wäre höchste Zeit, die Rettungsmaßnahmen einzuleiten und wieder mehr Debatte zu wagen!

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Uwe Wittstock – Marseille 1940

Flucht, ein großes Wort. Durch viele Debatten unserer Tage schon fast etwas abgenutzt, wird es in Uwe Wittstocks großartigem Werk Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur wieder unmittelbar erlebbar. Er erzählt davon, wie es war, als die Nazis Europa überfielen und Autor*innen, Politiker*innen und andere, dem Regime kritisch gegenüberstehende Menschen auf die Flucht vor sich hertrieben, bis nach Südfrankreich, wo sich der vermeintlich sichere Hafen Marseille zunehmend als Falle entpuppte.

Wie schon in seinem Bestseller Februar 1933 – Der Winter der Literatur gelingt Wittstock auch hier ein beeindruckendes und erschütterndes Panorama, das neben seinem facettenreichen Blick auf die Literaten auf der Flucht auch die Mitmenschlichkeit und die immense Leistung der Fluchthelfer würdigt.


Fast wie im Handstreich hatte Hitler Frankreich überfallen. Unter Umgehung der Maginot-Linie kämpften sich die Truppenverbünde durch die Ardennen und waren innerhalb weniger Wochen bis nach Paris vorgedrungen, das sie umgehend besetzten. Wie eine Bugwelle hatten die Truppen auch Fliehende vor sich her gespült, die die Nachricht vom Einmarsch der Nationalsozialisten in Frankreich in Alarmstimmung versetzte. Hatten sich intellektuelle Größen wie Heinrich Mann oder Lion Feuchtwanger in ihren Villen in Sanary-sur-Mer bei Nizza bislang sicher vor den von ihnen opponierten Nazis gefühlt, stellte sich diese Sicherheit nun als fataler Fehler heraus, als die feindlichen Truppen immer näher rückten.

Die Franzosen hatten der Übermacht der Deutschen wenig entgegenzusetzen und entschieden sich unter Federführung des Generals Pétain zur Kollaboration mit den Deutschen. Regimekritiker*innen wurden in Internierungslagern festgesetzt und sahen den anrückenden Deutschen mit Angst entgegen.

Die große Flucht der Literatur

Während bisher sicher geglaubte Strukturen und Gewissheiten zerfielen, begaben sich immer mehr Menschen auf die Flucht und strömten aus der französischen Hauptstadt und den besetzten Gebieten des Deutschen Reichs in den Süden, wo die Hafenstadt Marseille zum Zielort wurde, um dort dem Zugriff der Nationalsozialisten zu entkommen.

Doch Sicherheit verhieß der Hafen von Marseille auch nur bedingt. Denn immer dichter zog sich das Netz der Nationalsozialisten um den Ort und verunmöglichte die Flucht vor den neuen Machthabern, die auf die Festsetzung ihrer Gegner hofften und die dafür auch die lokalen Behörden unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Es wurde zunehmend gefährlicher auf diesem Planet ohne Visum, wie der Autor Jean Malaquais Marseille in seinem 1942 spielenden und jüngst wiederentdeckten Roman nannte.

Während sich Größen wie Franz Werfel und dessen Frau Alma Mahler-Werfel mit dem umfangreichen Gepäck von zwölf Koffern auf die Flucht begaben, sich Anna Seghers in Paris versteckt hielt oder jüdische Denker*innen wie Hannah Arendt oder Walter Benjamin mit mehr oder minder nur ein paar Koffern die Flucht antraten, war es ein Amerikaner, der im Auftrag des von ihm initiierten Emergency Rescue Committee den Weg nach Europa antrat, um möglichst viele dieser bedrohten Geistesgrößen zu retten. Sein Name: Varian Fry.

Die Underground Railroad von Marseille nach Lissabon

Uwe Wittstock - Marseille 1940 - Die große Flucht der Literatur (Cover)

Uwe Wittstock holt diesen vergessenen Helden der Geschichte in Marseille 1940 wieder ans Tageslicht und erzählt angenehm nuanciert von seinem hochgefährlichen Handeln, indem er vor Ort in Marseille mit Unterstützer*innen eine Art Underground Railroad aufbaute, die bedrohten Intellektuellen die Flucht von Frankreich nach Spanien und Portugal bis nach Amerika ermöglichte, darunter auch der schon erwähnte Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly, der mit seinem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Mahler-Werfel am 13. September 1940 die herausfordernde Flucht über die Pyrenäen antrat.

Spannender als so mancher Thriller schildert Wittstock die enorme Gefahr, der sich die Flüchtenden und Fluchthelfer aussetzten, um die Sicherheit des spanischen Bodens zu erreichen, während die Überwachung durch die Nationalsozialisten und lokalen Behörden immer engmaschiger wurde.

Frappant die Bezüge zur Gegenwart, in der man zwar Fluchtursachen bekämpfen will, aber sichere Korridore und menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten zum No-Go erklärt, und sich stattdessen abschottet und ganz auf Abschreckung setzt.

Die Bedeutung des Wortes Flucht

Welch Schrecken, welche Entbehrungen und welche Notwendigkeiten hinter diesem Begriff Flucht stecken, Uwe Wittstock führt es eindringlich vor Augen.

Dafür wählt er den fast stakkatohaften Ton einer Schaltkonferenz, mit der er die Entropie der Fluchtbewegung in eine übersichtliche und bestechende Form bringt. Man springt im Fortgang der Tage von Schauplatz zu Schauplatz, bangt mit der untergetauchten Anna Seghers, begleitet Hertha Pauli und Walter Mehring auf ihrem Weg, sieht Varian Fry an der quälend langsamen Unterstützung seiner Arbeit aus Amerika fast verzweifeln. Immer wieder wechseln Schauplätze und Figuren und geben dadurch einen Eindruck, wie verzweifelt und nervös vibrierend es damals gewesen sein muss in ganz Frankreich und insbesondere in Marseille.

Mit der historischen Einbettung des überfallartigen Vorrückens der Deutschen im Sommer 1940 und Momenten der Weltgeschichte wie dem Überall Dünkirchens versehen verbindet Marseille 1940 Geschichte, Kultur und Schicksale zu einem beeindruckenden Panorama des Schreckens, aber auch der Hoffnung.

Denn Kunst und Kultur findet immer ihren Weg, kann aus dem Leid und den Erfahrungen auch großer erwachsen, wie Wittstock nicht nur am Beispiel Hannah Arendts oder dem Maler Max Ernst zeigt, dem seine Kunst sogar der Schlüssel für die geglückte Flucht nach Spanien ist. Auch das ist eine Lehre aus dieser so kenner- und könnerhaft erzählten historischen Rückschau.

Fazit

Uwe Wittstock verbindet in Marseille 1940, mit vielen Quellen und immenser Rechercheleistung verbunden die einzelnen Schicksale und Erfahrungen flüchtender Intellektueller und Geistesgrößen zu einem übergreifenden Panorama, das den Schrecken der immer näher rückenden Nationalsozialisten ebenso wie die Kraft der Flüchtenden eindringlich in Worte fasst. Mitreißend erzählt er Überlebensstrategien, Glück und Leid entlang der Fluchtrouten und von großen Namen ebenso wie von heute schon wieder dem vergessenen anheimgefallenen Literaten wie etwa Walter Hasenclever.

Nicht zuletzt würdigt Wittstocks Buch auch die immense Leistung Varian Frys, dem er postum Gerechtigkeit angedeihen lässt, indem er sein übermenschliches Handeln und seinen Mut in den Mittelpunkt seines Romans stellt und damit einen Menschen zeigt, der unbeirrt seinen Weg ging, indem er ihn anderen gefährdeten Menschen eröffnete.

Vor allem in diesen Tagen zunehmender Abschottung und eines Krieg mitten in Europa ist dieses Werk ein wichtiges, eindringliches und beeindruckendes Buch, dem mindestens der Erfolg zu wünschen ist, den Wittstock mit seinem vorherigen erzählenden Sachbuch landen konnte!


  • Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur
  • ISBN 978-3-406-81490-7 (C. H. Beck)
  • 351 Seiten. Preis: 26,00 €
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