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Tan Twan Eng – Das Haus der Türen

Hierzulande ist William Somerset Maugham nicht mehr so recht bekannt. Der vor genau sechzig Jahren verstorbene Schriftsteller zählt in England zur Garde des sogenannten middle-brow, also Autor*innen, die mit ihren Werken zwischen Unterhaltung und Anspruch balancieren. Mit seinen Theaterstücken und Romanen feierte er in Großbritannien von Beginn der Jahrhundertwende an große Erfolge. In Deutschland ist das vom Schweizer Diogenes-Verlag gepflegte Werk des weitgereisten Romanciers etwas in Vergessenheit geraten. Tan Twan Engs Roman Das Haus der Türen holt William Somerset Maugham nun aus dieser Vergessenheit und macht ihn selbst Protagonisten. In Engs Erzählung bekommt er eine Geschichte zu hören , die aus seiner Feder stammen könnte…


Mit Werken wie dem 2006 zuletzt verfilmten Der bunte Schleier erschrieb sich William Somerset Maugham eine große Fangemeinde. Insbesondere Romane wie jener, aber auch seine Erzählungen zeigen einen weitgereisten Mann, dessen Geschichten in Hongkong, in der Karibik oder in Hawaii spielen.

Es sind Schauplätze und Thematiken, die Maugham aus eigenem Erleben heraus kannte. Denn nach der Trennung von seiner Frau reiste der homosexuelle Somerset Maugham zusammen mit seinem Sekretär Gerald Haxton um die halbe Welt und lebte an verschiedenen Stationen und britischen Kolonien.

Ein berühmter Schriftsteller zu Gast in Malaysia

Tan Twan Eng - Das Haus der Türen (Cover)

Eine solche Station bildet auch den erzählerischen Rahmen des 1970 in Malaysia geborenen Autors Tan Twan Eng. Denn hier ist es das Ehepaar Robert und Lesley Hamlyn, das Somerset Maugham und sein Sekretär im Jahr 1921 auf der malaiischen Insel Penang besuchen. Dort, in der von Kasuarinen umgebenen herrschaftlichen Villa namens Cassowary House, verbringt der Schriftsteller mehrere Wochen bei seinem alten Freund, den er aus gemeinsamen Zeiten in England kennt. Die Zeichen sollen eigentlich auf Erholung für das reisende Paar stehen. Die Betreuung legt Robert Hamlyn in die Hände seiner Frau.

„Na, dann ein andermal“, erwiderte Robert. „Die Gute kennt sich mit der Geschichte unserer Insel hervorragend aus. Sie weiß alles über Penang. Früher hat sie Stadtführungen für Freunde gemacht, die aus dem Ausland kamen. Diesen deutschen Schriftsteller haben wir auch herumgeführt, als er in Penang war – wie hieß er noch gleich, meine Liebe? Hesse, nicht wahr? Ja, Hermann Hesse.“

„Erholsame Tage der Muße am … Strand., mehr will ich nicht“, sagte Willie. „Ich muss Unmengen von … Büchern lesen, und Gerald ist noch nicht wieder bei Kräften. Er … benötigt viel Ruhe“.

Tan Twan Eng – Das Haus der Türen, S. 25

Doch die Kreativität des sonst so produktiven Autors stockt. Ebenso wie mit den Worten kämpft der malade Autor mit der Muse – was durch eine Nachricht aus der Heimat nicht besser wird. Denn bei einem Spekulationsgeschäft hat Somerset Maugham sein gesamtes Erspartes verloren. Und nun sitzt er auf der Insel in der Straße von Malakka am anderen Ende der Welt und weiß nicht mehr so richtig weiter.

Affären in Penang

Da kommt es gerade recht, dass Lesley, die Gattin Roberts, William Somerset Maugham als eine Art Beichtvater für sich entdeckt. Denn sie erzählt ihm einer Scheherazade gleich über mehrere Wochen hinweg eine Geschichte, die sie im elf Jahre zuvor dort in Malaya erlebte und die sich im Milieu der Expats und Kolonialherren abspielte.

Würde ich einen Roman schreiben, Willie, würde ich Ihnen erzählen, dass ich am Morgen des 25. April mit einer gewissen inneren Unruhe erwachte, mit dem Gefühl, dass mein Leben nach diesem Tag nie wieder so sein würde wie zuvor. So würde es ein Romanautor formulieren, nicht war? Aber ehrlich gesagt (und ich will in dieser Sache absolut ehrlich sein) empfand ich nichts, rein gar nichts Derartiges, als ich an jeenem Morgen erwachte.

Tan Twan Eng – Das Haus der Türen, S. 117

Diese hat mit einem (historisch verbürgten) Mordfall, einem Gerichtsprozess zu tun – und spiegelt in verschiedenen Aspekten die Frage von falschen Fassaden, Untreue und außerehelichen Affären, was sich als eine Art Leitmotiv durch Engs Roman zieht. Denn nicht nur, dass sich das Haus der Türen als Ort einer solchen Affäre entpuppt – alle drei Hauptfiguren des Romans sind in mal heimlicher und mal offener gelebte Affären verstrickt. Da passt es ins Bild, dass eine vierte Affäre, die im Zentrum der schon fast an middle brow-Krimis erinnernde Handlung steht, dann zur Inspiration des schreibkriselnden William Somerset Maugham wird.

Tan Twang Eng auf den Spuren William Somerset Maughams

Das Haus der Türen erzählt von diesem Schriftsteller und seinen Sorgen und Nöten ebenso, wie Engs Roman die Lebenssituation der britischen Expats dort in Malaysia in den Blick nimmt, bevor dann mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der Zugriff der Engländer auf Penang und ganz Malaysia enden sollte.

Zwar mögen Lesley und ihre Erlebnisse hier nur literarische Fiktion sein. Die Inspiration von William Somerset Maugham durch diese Geschichte hin zu seinem Werk Der Kasuarinenbaum allerdings ist belegt. Der gleiche Schöpfergeist, der Somerset Maugham bei seiner Umarbeitung der erzählten Geschichte von Lesley beseelte, auch Tan Twan Eng stellt ihn mit diesem 2023 für den Booker Prize nominierten Roman aus. Seine literarische Ausdeutung der Episode aus dem Leben William Somerset Maughams atmet den Geist von dessen Geschichten, ist aber auch ein eigenständiges Werk, das zudem mit einer schönen Randnotiz aufwartet.

Denn ebenso wie die Engländer aus Malaysia vertrieben wurden, geschah es auch Somerset Maugham Jahre schlussendlich mit seinem Erzählungsband, dessen Entstehung im Roman geschildert wird. Seine Schilderungen des Lebens und der Gesellschaft dort warfen ein zu unvorteilhaftes Bild auf jene Gemeinschaft, die sich nicht nur ihres Lebensstils, sondern kurz zuvora auch der Bücher Maughams in ihren Bibliotheken rühmte, ehe der gefeierte Schriftsteller zu ihnen stieß und ihre Leben in Literatur verwandelte.

Fazit

Tan Twan Eng gelingt das Kunststück dieser Verwandlung ebenfalls. So lässt Das Haus der Türen das Leben und Lieben dort in Malaysia in den 1910er und 20er Jahren noch einmal auferstehen und sorgt so auch dafür, dass man auch hierzulande wieder wahrnimmt, wer William Somerset Maugham war und was sich literarisch mit seinem Werk wiederentdecken lässt.


  • Tan Twang Eng – Das Haus der Türen
  • Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
  • ISBN 978-3-7558-0018-7 (Dumont)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Daniel Glattauer – In einem Zug

Zwiegespräch In einem Zug. In seinem neuen Roman lässt der österreichische Romancier Daniel Glattauer zwei unterschiedliche Menschen aufeinander prallen und diese in einem vierstündigen Dialog zwischen München und Wien versinken.


Die Bahn hat es auch nicht leicht. Beständig wird sie kritisiert, steigt die Zahl der verspäteten Züge immer weiter an – und wenn einmal alles nach dem regulären Takt laufen würde, dann wartet der Zugverkehr entweder mit einer Streckensperrung oder gleich dem Streik einer Gewerkschaft auf. So die viel zitierten und leider oftmals viel zu wahren Klischees über die deutsche Bundesbahn.

Mit Neid kann man über die Grenze nach Österreich blicken, wo sich die Bahn nach wie vor in Staatshand befindet und der Schienentakt so geschmeidig vor sich hin schnurrt wie der berühmte Zeitanzeiger im Uhrturm über der Stadt Graz. Tu felix austria denkt sich der Bahnreisende – und wird mit der Lektüre von Daniel Glattauers neuem Roman In einem Zug wieder einmal bestätigt.

Ein Schriftsteller steigt in diesem einen in Zug in Wien ein, um mit diesem nach München zu reisen. Eine Fahrt, die mustergültig nach Fahrplan läuft. Wien Hütteldorf, St. Pölten und Amstetten sind Stationen dieser Reise, die der Zug mit österreichischer Bundesbahnpräzision passiert. Eine Verzögerung im Betriebsablauf gibt es erst, als sich der Zug in Salzburg quasi schon in deutsch-österreichischem Grenzgebiet befindet und einer der zu koppelnden Züge auf sich warten lässt. Dem deutschen Bahn-Ungemach entkommt man also nicht einmal wirklich hinter der Grenze.

Auf dem Weg von Wien nach München

Davon abgesehen wäre die Reise aber eine ebenso komfortable wie störungsfreie Reise für Glattauers Held und Ich-Erzähler Eduard Brünhofer, wäre da nur nicht diese Frau, die sich in Wien Hütteldorf zu Brünhofer ins abgetrennte Viererabteil setzt. Denn schon kurz nach Antritt der Reise sucht sie das Gespräch mit Brünhofer.

Schreiten wir zum konkreten Ereignis. Die Frau frühen mittleren Alters im Zug, die ich jetzt, wo ich ihren Blick erwidere, natürlich schon näher beschreiben könnte, ich tue es aber nicht, denn um Äußerlichkeiten geht es hier nicht, diese Frau fragt: „Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?“

Daniel Glattauer – Im Zug, S. 13

Auch wenn sich die erste Frage der Frau als falsch erweist (sie hatte in Brünhofer einen ehemaligen Englischlehrer ausgemacht), erstirbt damit das Gespräch nicht, im Gegenteil. Hartnäckig hakt die Frau nach und so beginnt der Dialog und das gegenseitige Kennenlernen, das sich bis zur Einfahrt in den Endbahnhof in München erstrecken wird.

Ein Gespräch im Zug

Daniel Glattauer - In einem Zug (Cover)

Die als Physio- und Psychotherapeutin tätige Frau erweist sich als gnadenlos, wenn es darum geht, Eduard Brünhofer auf den Zahn zu fühlen. Langsam gibt das Gespräch der beiden den Charakter und die Dinge preis, die beide Figuren gerade umtreibt. Da die neugierige Mitfahrerin, die nicht nur in Sachen Lebens- und Liebeskonzept Brünhofer recht diametral gegenübersteht, dort der österreichische Schrifsteller auf dem Weg nach München.

Brünhofers Konturen werden im Lauf des Kammerspiels auf Schienen klarer, als sich langsam herausstellt, dass er zwar ein einst gefeierter Autor von Liebesromanen gewesen sein mag, seit geraumer Zeit allerdings eher mit Schweigen und Abwesenheit auf dem Buchmarkt glänzt. Ein Umstand, bei dem auch die zahlreichen geleerten Weinfläschchen zwischen Wels und Rosenheim keine Abhilfe schaffen.

Schon mit seinem Roman Gut gegen Nordwind, der Daniel Glattauer den Durchbruch bescherte, erwies sich der Autor als Spezialist für Dialoge, die damals im Neuland des Internets per Mail geführt wurden. Nun, knapp zwanzig Jahre später und einen immensen Boom von Podcasts oder verschriftlichten Gesprächsbücher später, ist es ein Gespräch face to face, das uns Brünhofer hier noch einmal, garniert mit kleinen Kommentierungen und Arabesken zu den passierten Städten, präsentiert.

Aber so sind wir Menschen. Solange wir uns völlig fremd sind, gering schätzen wir einander oft genussvoll um die Wette und schicken uns, mit allen erdenklichen Vorurteilen behaftet, gegenseitig in die Wüste.

Doch kaum kommen wir unverhofft miteinander ins Gespräch, teilen wir uns in liebevoller Zuwendung die schönsten Sachen mit und heischen inbrünstig nach der Gunst des anderen.

Daniel Glattauer – In einem Zug, S. 117

Fazit

Konzentrierter und gelungener als das überdeutliche Vorgängerwerk Die spürst du nicht ist In einem Zug ein Buch über einen Seelenstriptease, den vor allem der zugreisende Schrifsteller Eduard Brünhofer hier hinlegt und der Betrachtungen über das Liebesleben viel Raum einräumt. Gebaut um eine nette Schlusspointe herum ist der Roman eine auch im Ganzen nette Lektüre, und das nicht nur als Zeitvertreib bei Zugfahrten.

Gewiss, trotz allerlei intimen Geständnissen bleiben die Figuren etwas blass und eine äußere Handlung findet angesichts des Minimalrahmens für das dialoggetriebene Kammerspiel so gut wie nicht statt. Auch haben ähnliche Konversationsstücke zumeist französischer Bauart á la Yasmina Reza mehr Esprit und Feuer als dieser doch etwas zahme Roman.

Dafür aber buchstabiert Daniel Glattauer in seinem Roman das Zwischenmenschliche genau aus und lässt am Ende den Leser*innen mit einer Entscheidungsfrage zurück: möchte man sich auf der nächsten Bahnfahrt ebenfalls in ein solches mehrstündiges Gespräch begeben oder würde man lieber Zuflucht in den Seiten eines Romans, vielleicht sogar dem vorliegenden, den entspannteren und unterhaltsameren Zeitvertreib finden?


  • Daniel Glattauer – In einem Zug
  • ISBN 978-3-7558-0040-8 (Dumont)
  • 208 Seiten. Preis: 23,00 €
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Michael Maar – Leoparden im Tempel

Ob Elias Canetti, der Oger, das wechselhafte Gemüt Virginia Woolfs oder der Teufel bei Thomas Mann – in seinem wiederveröffentlichten Werk Leoparden im Tempel widmet sich Michael Maar abwechslungsreich den von ihm verehrten Schriftsteller*innen und nimmt ihr Werk und ihre exzeptionelle Bedeutung für die literarische Welt in den Blick.


Man könnte es sich leicht machen mit dem eigentlich nicht ganz so neuen Buch Michael Maars. Nach einer Erstveröffentlichung im Berenberg-Verlag vor sechzehn Jahren erscheint Leoparden im Tempel nun als Neuauflage im Rowohlt-Verlag, gehalten im Design seines 2020 erschienen Stil-Opus Magnum Die Schlange im Wolfspelz.

Schon der Blick auf die schmale Seitenzahl macht klar, dass es sich mitnichten um ein Werk handelt, dass an Maars ebenso voluminöses wie kenntnisreiches Literaturbergwerk anschließt. Vielmehr will er sich den von ihm verehrten Schriftstellern widmen, wobei ein Gendern des Untertitels tatsächlich fast überflüssig scheint. Denn von zwölf Schriftstellerporträts ist lediglich eines einer Frau gewidmet, nämlich Virginia Woolf.

Hier zeigt sich, dass in der den sechzehn Jahren seit Erscheinen des Buchs viel Sensibilisierung gegenüber der hier im Speziellen wie auch im Allgemeinen zuvorderst männlichen Kanonbildung stattgefunden hat. So sei nur an die Aktion #frauenzählen, das daraus entstandene Sachbuchprojekt Frauen Literatur von Nicole Seifert oder die hervorragende Kurzporträtsammlung Dichterinnen & Denkerinnen von Katharina Herrmann erinnert, die dem Maar’schen Männerüberschuss und Geniekult entgegenwirken, der sich in diesem Buch äußert.

Porträts von Schriftstellern

Sollte man es sein lassen? Diese offensichtliche Ungleichbehandlung von Schriftstellerinnen als Anlass nehmen, das Buch in die Ecke zu stellen? Das wäre tatsächlich ein Fehler, denn obgleich die nicht zu leugnende maskuline Schlagseite ebenso wie die veraltete Rechtschreibung des Buchs rückwärtsgewandt scheint, gelingt es Maar vorzüglich, seine Verehrung der offensichtlicheren (Thomas Mann, Franz Kafka) und die hierzulande noch immer zu unbekannten Autoren (Anthony Powell, Gilbert Keith Chesterton) begeisternd vorzubringen und Lust auf ihr Schreiben zu machen (obgleich natürlich Größen wie Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Gabriele Tergit oder vergessene Autorinnen wie die gerade wieder neu entdeckte Helga Schubert durchgehend fehlen).

Michael Maar - Leoparden im Tempel (Cover)

Neben solchen Leerstellen merkt man auch den Aufsätze an, dass einige ihrer aufgegriffenen Punkte in der Zwischenzeit etwas anders betrachtet werden müssen. So ist beispielsweise Maars Frage, ob man Giuseppe Tomasi di Lampedusa vielleicht noch mit einer Labelung als Geheimtipp postum die Ehrung verschaffen könnte, die ihm für sein Werk Der Leopard gebührt, in meinen Augen hinfällig. Denn die glänzende Neuübersetzung von di Lampedusa Meisterwerk durch Burkhart Kroeber vor vier Jahren hat doch erheblich Staub von diesem Werk gepustet und dieses neu ins öffentliche Bewusstsein gebracht.

Genauso ergeht es den Klagen, die Maar in seinem Kapitel über Anthony Powell äußert. Dort beklagt er, dass Powell hierzulande völlig unbekannt sei und man ihm dem deutschen Publikum kaum schmackhaft zu machen vermag. Während letztere Beobachtung wahr zu sein scheint, ist die Vermittlungsarbeit doch in der Zwischenzeit weiter geraten (dem Maar auch in dem leicht angepassten Quellenverzeichnis Rechnung trägt, da er dort die 2015 begonnene Neuausgabe von Powells Gesamtwerk unter dem Titel Dance aufführt). So wurde diese Neuausgabe des Werkes im Februar 2016 von Maxim Biller an maximal prominenter Stelle im deutschen Fernsehen vorgestellt, nämlich beim Literarischen Quartett.

Sich verändernder literarischer Zeitgeist

Es sind einige Punkte dieser Art, an denen man feststellen kann, dass sich der literarische Zeitgeist gewandelt hat. So sind neue Blicke und Maßstäbe auf Literatur eingezogen, der Geschmack hat sich gewandelt, kurz: die Zeit seit dem ursprünglichen Erscheinen des Buchs ist nicht stehengeblieben. Das merkt man bei dem Blick auf die Äußerlichkeiten des Buchs durchaus.

Davon unberührt ist aber der Kern von Michael Maars Buch, dem man in seiner ganzen Begeisterung und dem sprudelnden Stil auch Stilblüten wie die folgende gerne verzeiht:

Man merkt seiner [Anthony Powells] Prosa nicht an, dass sie nach Joyce entstand. Um Modeströmungen hat dieser Autor sich nie geschert. Erst jetzt, nachdem sich deren Wasser verlaufen haben, kann man erkennen, wie einsam er herausragt.

Michael Maar – Leoparden im Tempel, S. 111

Jener Kern seiner kurzen Porträts, er gleicht nach wie vor einem brodelnden Magmakern voller heißglühender Lava (um hier einmal den bildhaften und blumigen Stil Maars aufzugreifen). Überraschend seine Erkenntnisse, wenn er etwas die Bedeutung des Teufels im Werk Thomas Manns herausarbeitet oder die ewige Rätselhaftigkeit im Werk Franz Kafkas beschreibt, der es mit seinem Bild der Leoparden im Tempel auch auf den Titel von Maars Buch geschafft hat.

Literaturverehrung, die begeistert

Gelungen stellt Maar auf nur wenigen Seiten die Besonderheiten im jeweiligen Werk der Autoren heraus und erklärt, was ihr Werk so faszinierend und über alle Zeiten erhoben macht. Das tut er in gut lesbaren und nachvollziehbaren Aufsätzen, von denen die Porträts Mann, Nabokov und di Lampedusa in meinen Augen zu den gelungensten zählen.

Aus allen Zeilen spricht die Verehrung Maars, der mit seinen Porträts wie auch später in der Schlange im Wolfspelz seine immense Belesenheit herausstellt. Seine Einführung in das Schaffen der oftmals alles andere als umgänglichen und bescheidenen Autoren macht Lust, sich mit den Werken genauer zu beschäftigen. Er gibt einen Eindruck, wie Literaturvermittlung zu begeistern vermag, wie ein genauer Blick beim Lesen den unverkennbaren Stil zutage treten lässt – und wie man mitreißend davon zu erzählen vermag.

Das wiegt in meinen Augen die klar benennbaren Kritikpunkte an Leoparden im Tempel auf alle Fälle wieder mehr als auf, sodass ich für dieses Büchlein eine große Empfehlung aussprechen möchte. Gerne sei der Band auch als Geschenk allen Literaturfans empfohlen, Ich empfehle im Anschluss an die Lektüre danach dann die Lektüre von Dichterinnen & Denkerinnen, denn dann hat man auch einen ausgewogenen Eindruck von Schriftstellerinnen, die es durchaus auch mit den hier vorgestellten Männern aufnehmen können!


  • Michael Maar – Leoparden im Tempel
  • ISBN: 978-3-498-00398-2 (Rowohlt)
  • 144 Seiten. Preis: 22,00 €
  • Zum Buch bei Yourbookshop
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Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit

Es gibt wirklich spektakulärere Leben als jenes, das Oscar Babel führt. Nachdem der Erfolg und die Inspiration als Maler ausblieben, fristet er nun als Kinovorführer sein Dasein. Da ihm dieses Leben zu trist ist, beschließt sein Bekannter Daniel Bloch zumindest auf dem Papier für etwas Schwung in Babels Leben zu sorgen. Doch die Fiktion wird schnell zur Realität – mit ungeahnten Folgen, wie Baret Magarian in Die Erfindung der Wirklichkeit zeigt.


Es sind zunächst äußerst subtile Änderungen, die Bloch seiner Version von Oscar Babel auf den Leib schneidert beziehungsweise schreibt. Er mag plötzlich die Kompositionen Wagners und sein Vermieter, in realiter ein echter Haustyrann, umschlingt diesen mit Liebe. Beängstigend wird es allerdings, als diese auf dem Papier erdachten Veränderung tatsächlich in Babels Leben Einzug halten. Sein Vermieter ist frisch verliebt, Tristan und Isolde üben plötzlich einen hohen Reiz auf Babel aus, er wird zum Aktmodell – und ein Kätzchen läuft ihm auch noch zu.

Bei diesen Veränderungen bleibt es nicht – denn Babel gerät in den Fokus des Medien-Impressarios Ryan Rees, der Babel zu einer Art modernem Propheten aufbauen will. Er steckt viel Geld in eine Kampagne, die Oscar Babel bekannt machen soll. Bei der Verleihung des Duchamp-Preises beleidigt er die anwesenden potentiellen Preisträger*innen, später werden einzelne Reden von Babel aufgenommen und entwickeln sich zum Hit. Und dann bucht Rees auch noch den Park Kensington Gardens, wo Babel erstmals vor großem Auditorium auftreten soll. Dieser Gig entwickelt sich dann aber völlig unerwartet und weckt an Erinnerungen an das Geschehen, das einst ein literarischer Antiheld namens Jean-Baptiste Grenouille mit seinem Parfum auf dem Marktplatz von Grasse auslöste.

Der Aufstieg des einen, der Abstieg des anderen

Während Oscar Babel zum Stadtgespräch avanciert, geht es mit dem Initiator von Babels Aufstieg immer weiter bergab. Bloch will nach den beängstigenden Ergebnissen seiner Fiktion von Babels Neuschreibung ablassen – und wird immer kränker, während den Menschen um ihn herum allzu Unwahrscheinliches geschieht.

Baret Magarian - Die Erfindung der Wirklichkeit (Cover)

Davon erzählt Baret Magarian, der mit Die Erfindung der Wirklichkeit nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen ist. Ähnlich wie seine Figur Oscar Babel hat auch Magarian schon als Aktmodell gearbeitet, zudem nennt der Verlag noch Tätigkeiten als Theaterregisseur, Übersetzer, Musiker oder Dozent, derer der Autor mit anglo-armenischen Wurzeln schon nachgegangen ist.

Seinem Buch stehe ich etwas zweigespalten gegenüber. So ist die Idee eines Aufstiegs eines Nobodys durch literarische Fiktion und skrupellose Medienmanager hin zu einem vieldiskutierten Mann mit hoher Reichweite durchaus interessant. Vor allem in Bezug auf das Spiel mit der Öffentlichkeit, die in Babel Dinge sehen möchte, die er gar nicht vorweisen kann, ist das Buch durchaus interessant und weist einige Parallelen zur Gegenwart auf.

Dennoch funktioniert das Buch für mich leider nicht wirklich. Mit Humor ist es ja eh so eine Sache, ist er doch höchst subjektiv und erreicht Menschen ganz unterschiedlich. Hier war ich für die Satire, die von vielen Seiten aus gepriesen wird, nicht wirklich empfänglich. Und auch in der „Gesellschaft der modernen europäischen Meister“ sehe ich dieses Buch im Gegensatz zum Klappentextlob von Jonathan Coe nicht wirklich, selbst wenn Magarian seinem Buch ein Zitat aus Bulgakows Der Meister und Magarita voranstellt.

Eine Nummernrevue und alberne Figurennamen

Das beginnt mit der Benennung von Figuren wie eben Oscar Babel, Vernon Lexicon, Tracy Fudge oder einer Journalistin namens Rebecca Murdeck, die man durchaus als satirisch bezeichnen kann, ich allerdings nur albern fand. Mag man über solche geschmacklichen Petitessen noch streiten, reichen meine Schwierigkeiten – und hier wird es deutlich gravierender – bis zur Struktur des Buchs selbst, das mir zu oft in eine klamaukige Nummernrevue zerfällt, anstatt eine stringente Geschichte zu erzählen.

So gibt es immer wieder eine komische Szenen wie die des Wahrsagers Alexi Sopso (auch hier wieder so ein überdrehter Name), der sich als völliger Dilettant seiner Zunft herausstellt. Das hält ihn dennoch nicht davon ab, seine Kundin zu überreden, bei einem Abendessen mit seinen strengen Eltern als Alibi-Freundin zu fungieren. Auch andere Szenen offenbaren Magarians Sinn für Komik, etwa wenn eine Figur ihr eigenes Haus anzündet oder Babel bei einem äußerst merkwürdigen Dreh für einen Dokumentarfilm zugegen ist.

Insgesamt fehlt der Geschichte in meinen Augen aber etwas der Zug und der klare Fokus auf die Erzählabsichten Baret Magarians. Sein Handling der Figuren ist nicht immer ganz souverän, denn während Bloch ziemlich schnell aus dem Fokus gerät, schieben sich andere Nebenfiguren in den Vordergrund, um erst viele Dutzend Seiten später wieder eine Rolle zu spielen, während sich immer wieder wirre Pamphlete Blochs oder Online-Artikel im Buch finden, die das Ganze etwas zerfahren wirken lassen. Darüber hinaus befremdeten mich Formulierungen wie die der Essenstafel beim Duchamp-Preis, die im Lauf des Abends langsam vergewaltigt wird.

Fazit

An solchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass Magarian selbst seine Fabrikation, wie der Titel im englischen Original heißt, etwas entglitten ist. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht sonderlich empfänglich für den im Buch gepflegten Humor dieser parabelhaften Satire und kurzum schlicht der falsche Leser. Aber mit etwas mehr erzählerischem Zug, klareren Fokus auf die Hauptfiguren und eine weniger ausufernde Erzählweise hätte es vielleicht geklappt mit mir und der Erfindung der Wirklichkeit. So bleibt bei mir leider der Eindruck einer lauwarmen und deutlich zu langen Satire, der einige Straffungen gutgetan hätten.


  • Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85256-861-4 (Folio Verlag)
  • 481 Seiten. Preis: 28,00 €
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Francesca Reece – Ein französischer Sommer

Eine junge Engländerin, die sich etwas orientierungslos durch ihr Leben in Paris schlägt. Ein arrivierter Schriftsteller, der per Anzeige jemanden als Sekretär oder Sekretärin sucht, um über die Sommermonate hinweg seine Tagebücher zu sichten und zu ordnen. Und ein Aufeinandertreffen dieser beiden Figuren in der sommerlichen Hitze der französischen Südküste. Könnte im Klischee enden? Tut es tatsächlich nicht, denn Francesca Reeces Debüt Ein französischer Sommer erzählt von Lebenslügen, der Verdrängung der eigenen Vergangenheit und der Unbeschwertheit, die natürlich kein dauerhafter Zustand ist. Kein ganz rundes Debüt, aber ein passables Sommerbuch.


Leah ist eine Figur, wie sie sich auch Sally Rooney ausgedacht haben könnte. Mitte zwanzig lässt sich die junge Britin recht orientierungslos durch ihr Leben treiben, das sie nach Paris geführt hat. Ein Job im Szenecafé, viele Gespräche mit ihrer Freundin Emma, Partys, Alkohol, Sex und Streifzüge durch die Stadt. So sieht Leahs momentanes Leben aus, dem eine Anzeige im Pariser Stadtmagazin FUSAC die Wende bringt. Dort entdeckt sie folgende Annonce:

AUTOR SUCHT ASSISTENT/IN ZUR UNTERSTÜTZUNG BEI ARCHIVARBEIT/RECHERCHE FÜR NEUEN ROMAN.

Mit einem shaekspearischen oder klassischen Namen brauchen Sie sich nicht zu bewerben.

PARIS UND SÜDEN. TEILZEIT. MICHAEL: 01.14.24.60.86

Francesca Reece, Ein französischer Sommer, S. 12

Und obwohl das Telefonat zunächst nicht den gewünschten Erfolgt zeitigt, erhält Leah die Stelle über Umwege dann doch noch. Bei ihrem Arbeitgeber handelt es sich um den Literaten und Bohemien Michael Young.

Briten in Frankreich

Seine Stimme war Teil der genetischen Ausstattung der englischen Literaturlandschaft seit Ende der Siebziger gewesen, als sein erster Roman, Richards Fall, erschienen war. Bis ins neue Jahrtausend hinein hatte er am laufenden Band zynische moderne Klassiker produziert und genoss die Bewunderung des Establishments der alten Garde genauso wie er von den gebildeten Möchtegern-Rebellen geschätzt wurde, die sich im Filmklub Apocalypse Now anschauten und für David Foster Wallace die Abkürzung DFW benutzten.

Francesca Reece – Ein französischer Sommer, S. 42

Die Arbeit für den Autor, dessen letzter Roman irgendwann um die Jahrhundertwende herum erschien, führt Leah in das Sommerdomizil von Michaels Familie an der französischen Südküste. Dort sichtet Leah die Tagebücher, die sie tief in die umtriebige Persönlichkeit des Literaten eintauchen lassen. Und Michael spürt sein literarisches Talent wiederkehren, während Partys gegeben werden, Leah im Meer badet und die einheimische Bevölkerung näher kennenlernt. Doch ein Paradies ist auch Saint Luc natürlich nicht, denn in der Vergangenheit von Michael gibt es einige dunkle Schatten, die sich dort am Meer in jenem französischen Sommer nun Bahn brechen.

Zwei Erzähler, zwei Generationen, zwei Leben

Francesca Reece - Ein französischer Sommer (Cover)

Francesca Reeve hat einen Roman geschrieben, der abwechselnd aus der Perspektive von Leah und Michael erzählt ist. Neben dem Handlungsstrang der Gegenwart spielt auch die Vergangenheit in England eine wichtige Rolle. Während Leah die Tagebücher Michael Youngs sortiert und sichtet, lernt man in Rückblenden den jungen Michael kennen, der es in Sachen Orientierungslosigkeit und Umtriebigkeit durchaus mit der Leah der Gegenwart aufnehmen kann. Während sich in Saint Luc die Situation zuspitzt, erlebt man in den Erinnerungen Michaels noch einen weiteren prägenden Sommer, der dann allerdings in Griechenland statt in England oder Frankreich spielt.

Das Ganze erinnert in manchen Passagen (besonders den in Griechenland spielenden Episoden) an die jüngst erschienen Romane Sommer der Träumer von Polly Samson oder Lawrence Osbornes Welch schöne Tiere wir sind, nicht nur aufgrund des gleichen Schauplatzes, sondern auch aufgrund der Sezierung von Gruppendynamiken, Liebe und Täuschung in der sommerlichen Hitze.

Was Ein französischer Sommer dann im Vergleich zu diesen Titeln in meinen Augen etwas schwächer macht, ist das Gefühl, hier ein paar lose Erzählstränge zu lesen, die sich als Buch nicht ganz kompakt und überzeugend runden und etwas unverbunden nebeneinander stehen.

So gibt es die Einzelteile des jungen Slacker-Lebens von Leah im Stile von Sally Rooney, die Episoden vom Dolce-Vita-Leben an der Südküste im Sommerhaus der Familie und die Episoden aus Michaels Vergangenheit. Die Teile für sich sind gut gemacht, fügen sich aber nicht immer homogen ein oder passen in ihrem Ton und dem erzählten Inhalt nicht unbedingt immer zueinander. Hier zeigt sich Optimierungspotenzial für weitere Romane von Francesca Reece, die ihre Erzählstränge noch etwas sorgfältiger miteinander verknüpfen sollte, um ein einheitliches und überzeugendes Ganzes abzuliefern.

Fazit

Zwei Leben, zwei Generationen Exilbrit*innen und dazwischen viel Diskurse um Kultur und Schreiben. Sommern an der französischen Südküste, das süße Leben der Boheme und die Frage, wie viel Sein und wie viel Schein ist, das beschäftigt Francesca Reece in ihrem Debüt, das sich als passables Sommerbuch irgendwo zwischen Sally Rooney, Claire Fuller und Miranda Cowley-Heller einordnet.


  • Francesca Reece – Ein französischer Sommer
  • Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler
  • ISBN 978-3-10-397068-5 (S. Fischer)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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