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Lauren Groff – Matrix

Nein, mit den Spielfilmen der Wachowskis hat Lauren Groffs neuer Roman Matrix wirklich nichts zu tun, auch wenn das Cover mit seiner leicht psychedelischen Anmutung falsche Fährten setzt. Vielmehr hilft der Blick ins lateinische Wörterbuch, das für Matrix die Bedeutungen der Mutter, des Muttertiers und der Stammmutter ausweist. Alle diese Funktion nimmt in Groffs historischem Roman die Nonne Marie war, die zur Beginn des Hochmittelalters ein Kloster zur wirtschaftlicher Blüte führt und dem Patriachat den Kampf ansagt.


Mit diesem Roman ist Lauren Groff eine wirkliche Überraschung gelungen. Bislang waren ihre Romane im Bezugsrahmen der jüngeren amerikanischen Geschichte oder Gegenwart angesiedelt (etwa die Flower-Power- Ära in Arcadia oder die Gegenwart in Licht und Zorn) und spielten stets in Amerika (so zuletzt auch Groffs Kurzgeschichtensammlung Florida). Nun aber bricht sie mit diesen erzählerischen Gepflogenheiten vollständig.

Statt amerikanischer Gegenwart setzt Matrix nämlich im Jahr 1158 ein. Eleanore von Aquitanien verbannt Marie, eine uneheliche Schwester der Krone, und schickt sie in die Einöde nach England. Dort soll sie Priorin in einem darbenden Kloster werden und so möglichst vom Thron und ihrem bisherigen höchst annehmlichen Leben ferngehalten werden.

Sister, act!

Lauren Groff - Matrix (Cover)

Vor Ort stellt sich die Situation als katastrophal heraus. Zu Essen gibt es so gut wie nichts, Kälte und Entbehrung dominieren das Leben der wenigen Schwestern. Doch als Maries Sehnen nach der Heimat keinen Erfolg zeitigt, beschließt die junge Priorin in einem Akt der Selbstermächtigung, von nun an die Geschicke des Klosters in die eigenen Hände zu nehmen.

Beharrlich setzt sie auf neue Strategien, um das Leben der Schwestern annehmlicher zu gestalten. Vom benediktinischen Ideal des vita contemplativa hält Marie gar nichts, vielmehr strebt sie ein vita activa an.

Dabei schrickt sie auch vor Gewalt und Einschüchterung nicht zurück, um betrügerische Pachtbauern und unwillige Chorherren auf Linie zu bringen. Dank ihrer überragenden und wenig femininen Gestalt wird sie schon zu einem gefürchteten und bewunderten Mythos, der das Kloster zu neuer Blüte führt.

Sie verwandelt die Abtei in ein prosperierendes Refugium, in dem Männer keinen Zutritt haben. Visionen verheißen ihr neue Aufträge wie etwa ein riesiges Labyrinth oder ein Äbtisinnenhaus, das mit der Zeit entsteht. Doch wo Frauen Erfolge feiern und sich ihrer Privilegien zu gewiss sind, da wächst auch der Hass.

Sowohl Klerus als auch die Dorfbevölkerung blicken neidisch auf das Werk Maries, das diese mit ihren Nonnen immer wieder verteidigen muss, um ihr Kloster gegen missliebige Einflüsse und Gewalt von Außen zu schützen.

Eine moderne Geschichte in altem Gewand

Matrix ist eine moderne Geschichte im Gewand einer alten Erzählung. So sind die Themen, mit denen sich die Äbtissin Marie auseinandersetzen muss, heute genauso aktuell wie im Setting des Hochmittelalters, das Lauren Groff hier ausgewählt hat. Neid, Missgunst und die Gefahr von Männern, denen Frauen mit zu viel Einfluss und Erfolg ein Dorn im Auge sind, die von diesen lieber kleingehalten werden sollen, es sind die Themen, die in Maries Klosterwelt genauso wie in unserer Gegenwart präsent sind.

Schön, dass Groff in ihrer Selbstermächtigungsgeschichte aber nicht den Fehler einer Hagiographie Maries begeht. Ihre Äbtissin ist fehlerhaft, wenig heilig, kämpft mit Worten und Taten und biegt sich auch das Wort Gottes zurecht, um sich ihrer Widersacher oder Konkurrentinnen zu entledigen. Heilig ist an Marie häufig nichts – von ihrem Begehren bis hin zu ihrem Handeln. Das schafft das plastische Bild einer widerspenstigen und kreativen Frau, die als Denkerin und Managerin des Klosters geradezu einem BWL-Seminar über Produktivitätssteigerung entsprungen sein könnte oder die als Schutzheilige aller Betriebsprüfer eine gute Figur machen würde.

Mutter für die Priorinnen, Muttertiere als militante Beschützerin ihres Klosters und der Gemeinschaft von Frauen sowie Stammmutter, die für eine neue Form der Weiblichkeit steht und der das Fortleben ihres Klosters von höchster Bedeutung ist, all diese Facetten finden sich so im Wesen der Matrix Marie.

Auf den Spuren der Säulen der Erde

Mit diesem Buch rückt Lauren Groff dabei natürlich auch in die Nähe des Referenztitels, was historische Schmöker im mittelalterlichen Umfeld angeht, nämlich Ken Folletts Bestseller Die Säulen der Erde.

Was im Mittelalter-Roman des Briten der Bau einer Kathedrale auf englischem Boden war, ist bei Lauren Groffs Matrix der Ausbau des Klosters, der von einer zugigen Ruine mit einer verschreckten Schar Nonnen zu einem prosperierenden und einflussreichen Wirtschaftszentrum unter weiblicher Selbstverwaltung gerät.

Neben vielen erzählerischen Parallelen beider Bücher liegt natürlich aber auch eine entscheidende Frage auf der Hand: kann Lauren Groff dem Millionenseller von Follett literarisch die Stirn bieten?

Das ist zweifelsohne der Fall, denn wo bei Follett stereotype Figuren den Roman bevölkern, die sich ganz banal in Gut-Schlecht-Kategorien einsortieren und denen kaum Entwicklung zugestanden wird, so gerät die Sache bei Groff doch deutlich differenzierter und interessanter. Hier gibt es kein simples Schwarz und Weiß, sondern widersprüchliche Menschen, die das Leben im Kloster auch nicht vor Fehlern (oder meinetwegen Sünden) wie Hoffart, Lügen oder Mord schützt.

Das ist ausnehmend interessant erzählt und besticht trotz allem Drängen und Vorwärtsstreben Maries eben auch durch nuancierte Zeichnungen aller Figuren und Konflikte – was man bei Follett oftmals vergeblich sucht.

Fazit

Mit Matrix liefert Lauren Groff die feministische Antwort auf Ken Folletts Mittelalter-Schmöker Die Säulen der Erde – und überflügelt ihren Kollegen in meinen Augen deutlich. Ihre Beschreibung vom Kampf der Äbtissin Marie um Selbstständigkeit und den Erfolg des von ihr verwalteten Klosters besticht durch eine differenzierte Zeichnung ihrer Heldin, die sich mit einem Lob der feministischen Selbstermächtigung verbindet. Überraschend und überzeugend ist dieses Buch!


  • Lauren Groff – Matrix
  • Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
  • ISBN 978-3-546-10037-3 (Claassen)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit

Es gibt wirklich spektakulärere Leben als jenes, das Oscar Babel führt. Nachdem der Erfolg und die Inspiration als Maler ausblieben, fristet er nun als Kinovorführer sein Dasein. Da ihm dieses Leben zu trist ist, beschließt sein Bekannter Daniel Bloch zumindest auf dem Papier für etwas Schwung in Babels Leben zu sorgen. Doch die Fiktion wird schnell zur Realität – mit ungeahnten Folgen, wie Baret Magarian in Die Erfindung der Wirklichkeit zeigt.


Es sind zunächst äußerst subtile Änderungen, die Bloch seiner Version von Oscar Babel auf den Leib schneidert beziehungsweise schreibt. Er mag plötzlich die Kompositionen Wagners und sein Vermieter, in realiter ein echter Haustyrann, umschlingt diesen mit Liebe. Beängstigend wird es allerdings, als diese auf dem Papier erdachten Veränderung tatsächlich in Babels Leben Einzug halten. Sein Vermieter ist frisch verliebt, Tristan und Isolde üben plötzlich einen hohen Reiz auf Babel aus, er wird zum Aktmodell – und ein Kätzchen läuft ihm auch noch zu.

Bei diesen Veränderungen bleibt es nicht – denn Babel gerät in den Fokus des Medien-Impressarios Ryan Rees, der Babel zu einer Art modernem Propheten aufbauen will. Er steckt viel Geld in eine Kampagne, die Oscar Babel bekannt machen soll. Bei der Verleihung des Duchamp-Preises beleidigt er die anwesenden potentiellen Preisträger*innen, später werden einzelne Reden von Babel aufgenommen und entwickeln sich zum Hit. Und dann bucht Rees auch noch den Park Kensington Gardens, wo Babel erstmals vor großem Auditorium auftreten soll. Dieser Gig entwickelt sich dann aber völlig unerwartet und weckt an Erinnerungen an das Geschehen, das einst ein literarischer Antiheld namens Jean-Baptiste Grenouille mit seinem Parfum auf dem Marktplatz von Grasse auslöste.

Der Aufstieg des einen, der Abstieg des anderen

Während Oscar Babel zum Stadtgespräch avanciert, geht es mit dem Initiator von Babels Aufstieg immer weiter bergab. Bloch will nach den beängstigenden Ergebnissen seiner Fiktion von Babels Neuschreibung ablassen – und wird immer kränker, während den Menschen um ihn herum allzu Unwahrscheinliches geschieht.

Baret Magarian - Die Erfindung der Wirklichkeit (Cover)

Davon erzählt Baret Magarian, der mit Die Erfindung der Wirklichkeit nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen ist. Ähnlich wie seine Figur Oscar Babel hat auch Magarian schon als Aktmodell gearbeitet, zudem nennt der Verlag noch Tätigkeiten als Theaterregisseur, Übersetzer, Musiker oder Dozent, derer der Autor mit anglo-armenischen Wurzeln schon nachgegangen ist.

Seinem Buch stehe ich etwas zweigespalten gegenüber. So ist die Idee eines Aufstiegs eines Nobodys durch literarische Fiktion und skrupellose Medienmanager hin zu einem vieldiskutierten Mann mit hoher Reichweite durchaus interessant. Vor allem in Bezug auf das Spiel mit der Öffentlichkeit, die in Babel Dinge sehen möchte, die er gar nicht vorweisen kann, ist das Buch durchaus interessant und weist einige Parallelen zur Gegenwart auf.

Dennoch funktioniert das Buch für mich leider nicht wirklich. Mit Humor ist es ja eh so eine Sache, ist er doch höchst subjektiv und erreicht Menschen ganz unterschiedlich. Hier war ich für die Satire, die von vielen Seiten aus gepriesen wird, nicht wirklich empfänglich. Und auch in der „Gesellschaft der modernen europäischen Meister“ sehe ich dieses Buch im Gegensatz zum Klappentextlob von Jonathan Coe nicht wirklich, selbst wenn Magarian seinem Buch ein Zitat aus Bulgakows Der Meister und Magarita voranstellt.

Eine Nummernrevue und alberne Figurennamen

Das beginnt mit der Benennung von Figuren wie eben Oscar Babel, Vernon Lexicon, Tracy Fudge oder einer Journalistin namens Rebecca Murdeck, die man durchaus als satirisch bezeichnen kann, ich allerdings nur albern fand. Mag man über solche geschmacklichen Petitessen noch streiten, reichen meine Schwierigkeiten – und hier wird es deutlich gravierender – bis zur Struktur des Buchs selbst, das mir zu oft in eine klamaukige Nummernrevue zerfällt, anstatt eine stringente Geschichte zu erzählen.

So gibt es immer wieder eine komische Szenen wie die des Wahrsagers Alexi Sopso (auch hier wieder so ein überdrehter Name), der sich als völliger Dilettant seiner Zunft herausstellt. Das hält ihn dennoch nicht davon ab, seine Kundin zu überreden, bei einem Abendessen mit seinen strengen Eltern als Alibi-Freundin zu fungieren. Auch andere Szenen offenbaren Magarians Sinn für Komik, etwa wenn eine Figur ihr eigenes Haus anzündet oder Babel bei einem äußerst merkwürdigen Dreh für einen Dokumentarfilm zugegen ist.

Insgesamt fehlt der Geschichte in meinen Augen aber etwas der Zug und der klare Fokus auf die Erzählabsichten Baret Magarians. Sein Handling der Figuren ist nicht immer ganz souverän, denn während Bloch ziemlich schnell aus dem Fokus gerät, schieben sich andere Nebenfiguren in den Vordergrund, um erst viele Dutzend Seiten später wieder eine Rolle zu spielen, während sich immer wieder wirre Pamphlete Blochs oder Online-Artikel im Buch finden, die das Ganze etwas zerfahren wirken lassen. Darüber hinaus befremdeten mich Formulierungen wie die der Essenstafel beim Duchamp-Preis, die im Lauf des Abends langsam vergewaltigt wird.

Fazit

An solchen Stellen hatte ich das Gefühl, dass Magarian selbst seine Fabrikation, wie der Titel im englischen Original heißt, etwas entglitten ist. Vielleicht bin ich aber auch einfach nicht sonderlich empfänglich für den im Buch gepflegten Humor dieser parabelhaften Satire und kurzum schlicht der falsche Leser. Aber mit etwas mehr erzählerischem Zug, klareren Fokus auf die Hauptfiguren und eine weniger ausufernde Erzählweise hätte es vielleicht geklappt mit mir und der Erfindung der Wirklichkeit. So bleibt bei mir leider der Eindruck einer lauwarmen und deutlich zu langen Satire, der einige Straffungen gutgetan hätten.


  • Baret Magarian – Die Erfindung der Wirklichkeit
  • Aus dem Englischen von Cathrine Hornung
  • ISBN 978-3-85256-861-4 (Folio Verlag)
  • 481 Seiten. Preis: 28,00 €
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Harlem Nocturne

Ann Petry – The Street

Mit über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren einst ein gigantischer Erfolg – und heute fast komplett vergessen. Der Debütroman von Ann Petry über den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und soziale Determination. The Street – Die Straße in der Übersetzung Uda Strätling, nun wieder neu zu entdecken im Verlag Nagel & Kimche.


Sie hing in dieser Straße fest, hier in diesem düsteren, dreckigen Mietshaus. Sie würde sehr lange brauchen, um wegzukommen. Sie dachte an die Chandlers und deren Freunde in Lyme. Sie hatten Recht mit ihrer Behauptung, dass jeder in der Lage war, Geld zu scheffeln, aber es war eine elende Plackerei – es verlangte harte Arbeit und Verzicht. Aber sie war zu beidem imstande beschloss sie. Und sie wollte sich niemals damit abfinden, hier leben zu müssen. Plötzlich standen ihr wieder die tragisch ergebenen Gesichter der jungen Frauen und des Alten vom Frühjahr vor Augen. Nein. So wollte sie nicht enden.

Petry, Ann: The Street, S. 269 f,

Es ist der Wunsch nach Aufstieg aus der eigenen sozialen Schicht, der Menschen umtreibt, seit es diese Schichten gibt. Viel ist darüber geschrieben worden, am eindrücklichsten sind für mich in der deutschen Literatur die Erzählungen Gottfried Büchners (Woyzeck) und Theodor Storm (Ein Wiedergänger), die mir gleich in den Sinn kommen, wenn es um den Wunsch nach Aufstieg aus der eigenen Klasse geht. Du sollst es einmal besser haben als wir ist zum geflügelten Wort geworden. Es schwingt darin der Wunsch mit, den Kindern ein sorgenfreieres Leben zu ermöglichen und ihnen die Hürden des eigenen Lebens aus dem Weg zu räumen.

Doch ebenso präsent wie der Wunsch nach Aufstieg ist auch das Wissen, das dieses Privileg nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Die sichtbaren und unsichtbaren Schranken von Gesellschaften arbeiten effektiv, eine Durchlässigkeit der Schichten ist nicht immer gegeben.

Gegen den Sturm

Das muss auch Lutie Johnson erkennen. Sie ist die Heldin von Ann Petrys Debütroman. Höchst symbolisch weht ihr schon in den ersten Zeilen dieser Erzählung ein Sturm entgegen, der alle anderen Menschen von der Straße treibt. Sie bietet dem Sturm allerdings Paroli, denn sie ist auf der Suche nach einer Wohnung für sich und ihren Sohn Bubb. Diese findet sie in der 116th Street in Harlem, einem Straßenzug, der von ärmlichen Mietshäusern und schuhschachtelgroßen Wohnung dominiert wird.

Sie blickte hoch zu den düsteren Wohnungen, wo die Köpfe erschienen waren. Endlose Reihen schmaler Fenster, endlose Stockwerke zusammengepferchter Menschen. Sie besah sich die Straße insgesamt. Mülltonnen standen am Rand. Halbverhungerte Katzen wühlten darin – raschelten im Papier, nagten an Knochen. Und es war ja nicht nur diese Ecke, diese Straße, dachte sie wieder. Es war überall in Harlem das Gleiche, wo die Mieten so niedrig waren.

Petry, Ann: The Street, S. 198

Bildstark inszeniert Petry dieses Harlem der 40er Jahre, in dem die Armut grassiert. Das Straßenbild wird von ausrangierten Möbeln dominiert, die auf der Straße stehen. Diese werden von den Menschen als eine Art Wohnzimmer genutzt, wie ein weißer Cop im Buch einmal bemerkt. Die erdrückende Enge der Wohnungen und der sozialen Klasse lässt die Menschen auf die Straße und die Vordertreppen der Häuser flüchten.

Ann Petry - The Street (Cover)

Auch Lutie versucht, nicht allzu viel Zeit in ihrer Wohnung zu verbringen. Als Sekretärin hat sie sich selbst fortgebildet und bestreitet so das kärgliche Einkommen für sich und ihren Sohn, der nach der Schule stundenlang in der Wohnung auf sie wartet. Ihr großes Ziel ist es, genug Geld für einen Auszug und ein sorgenfreies Leben mit ihrem Jungen zu sammeln.

Doch dieses Unterfangen gleicht an einem Ort wie Harlem dem Kampf gegen Windmühlen. Meist scheitert Lutie in The Street an den Männern, die ihr Chancen verbauen und sie nur ausnutzen wollen. Egal ob der Hausmeister ihres Mietshauses, ein Bandleader oder der lokale Pate, der im Besitz von Tanzlokalen und Mietshäusern ist. Positiv gezeichnete Männer gibt es in Luties Straße nicht. Das Patriachat zeigt sich hier in Harlem von seiner hässlichen Seite.

Vom Kampf um ein besseres Leben

In den Beschreibungen ihrer Charaktere ist Ann Petry sehr präzise. Die glaubhaft gestalteten Figuren legen die gesellschaftlichen Mechanismen offen, durch die Ausgrenzung und Stigmatisierung funktionieren. Von den kleinen Nebenfiguren wie etwa Luties schnapsbrennenden und konsumierenden Vater bis hin zum psychisch gestörten Hausmeister, der ein Komplott um Luties Sohn herum spinnt. Petry erzählt psychologisch glaubhaft und mit großem Einfühlungsvermögen. Auch Mittel der Spannungsliteratur wendet sie in ihrem Buch an, was The Street Drive verleiht.

Ich las Petrys Roman als eine Art schwarzen Gegenentwurf zu Betty Smiths Ein Baum wächst in Brooklyn, das drei Jahre vor Petrys Buch erschien. Wo bei Smith reelle Aufstiegschancen und Bildung durch Lesen für junge Frauen stets in Reichweite sind, so ist die Welt bei Ann Petry deutlich düsterer. Missbräuchliche Männer, Enge, Düsternis, Armut und Gewalt sind allgegenwärtig und stehen der weiblichen und sozialen Emanzipation entgegen.

Treiben auf den Straßen Harlems 1939

Neben Betty Smith erinnerte mich dieser Roman am stärksten an James Baldwin (der ebenfalls in Harlem geboren wurde), vor allem an seinen Beale Street Blues. Einen ähnlich scharfen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und die Probleme der schwarzen Bevölkerung teilen beide Autor*innen. Aber auch an Jacqueline Woodsons Ein anderes Brooklyn oder Maya Angelous Autobiografie fühlte ich mich in manchen Passagen erinnert.

Auch heute noch von großer Aktualität

Obwohl schon 74 Jahre vergangen sind, liest sich dieser Roman an keiner Stelle altbacken oder überholt. Die von Uda Strätling ins Deutsche übersetzte Sprache Petrys ist frisch und ihre Beschreibungen des Treibens auf den Straßen Harlems sind mehr als überzeugend. Die Absatzzahlen von über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren (wovon man heute nur träumen kann) sind angesichts der Qualität des Buchs mehr als verständlich. Die Wiederentdeckung dieses Buchs nebst dem schönen Nachwort von Tayari Jones ist ein Glücksfall. Schön, dass Nagel & Kimche dem Buch eine Chance gibt.

Nicht nur allen Lesern von James Baldwin und Co. sei dieses Werk wärmstens ans Herz gelegt. Eine unbedingte Empfehlung – ein Buch, das wieder gelesen und besprochen werden sollte. Denn die in The Street thematisierten Probleme und Fragen sind auch heute noch allgegenwärtig und von Relevanz.


Titelbild und Straßenszene aus Harlem stammen aus dem Archiv der New York Public Library. Die Rechte ebenda. https://digitalcollections.nypl.org/items/bcdf3fbe-a589-88d6-e040-e00a1806445a

  • Ann Petry – The Street
  • Mit einem Nachwort von Tayari Jones
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-312-01160-5 (Nagel & Kimche)
  • 384 Seiten, 24,00 €
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Akiz – Der Hund

Wenn Salz begehrter ist als ein Tütchen Kokain: Akiz‘ Geschichte über einen begnadeten Außenseiter in einem Gourmettempel: Der Hund.


Das Kochen sinnlich ist, verschiedene Reize anspricht und im besten Falle eine Kunst, das ist ein Allgemeinplatz. Für diese Seite des Kochens interessiert sich der Regisseur und Drehbuchautor Akiz in seinem Debüt allerdings nicht. Er schaut dahin, wo es ganz anders zugeht. Wo geflucht, geschlagen und geschuftet wird. Dort, wo der Umgangston mindestens ebenso unbarmherzig wie die Anforderung an Körper und Geist ist: die Küche. Dort, wo teils unter indiskutablen Verhältnissen die Speisen produziert werden, die dann im vorderen Teil des Restaurants dem Gast serviert werden, der vom Zustandekommen seines Gerichts nichts merken soll.

Akiz - Der Hund (Cover)

In einer Küche, in der die Anforderungen noch einmal um ein vielfaches höher sind wie in der normalen Gastronomie, dort schuften Mo und der Hund. Kennengelernt haben sich die beiden in einer Dönerbude. Unter ihrem despotischen Chef versahen die beide ihren Dienst. Mo als Fleischraspler und Döner-Beleger, der Hund als Quasi-Leibeigner, der vom Besitzer des Ladens drangsaliert wurde. Mehr oder minder verwildert, ohne große Sprachkentnisse und ohne jegliche soziale Kompetenzen nahm Mo diesen Hund unter seine Fittiche. Nachdem sie in einem Streit eines Tages den Job quittieren, stehen beide im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße.

Nachdem Mo eine einzigartige kulinarische Kombinationsgabe beim Hund ausgemacht hat, beschließt er, alte Kontakte zu reaktivieren. Über Umwege gelangen sie als Aushilfsköche in die Küche des legendären Gourmettempels El Cion. In dieser Küche, irgendwo zwischen Noma und El Bulli, hat der sagenumwobene Sternekoch Valentino das Sagen. Noch.

Erst nach einer Weile, als der Hund seine Augen wieder öffnete, drehte sich Valentino um und verschwand im Dampf der Küche. Er hatte keine Ahnung, dass der Hund auf dem Weg war, in sein Reich einzudringen wie der Antichrist im Vatikan.

Akiz: Der Hund, S. 32

Zwischen Sinnlichkeit und Derbheit

Der Hund ist ein wilder Ritt. Gerade einmal 190 Seiten hat die Erzählung, die mit unglaublichem Tempo voranprescht. Im Kern ist Akiz‘ Buch eine Aufstiegs- und eine Abstiegsgeschichte. Während sich der Hund von der Gosse bis in den höchsten Gourmettempel vorarbeitet, sinkt Valentinos Stern unaufhörlich. Als Erzähler dieser beiden Geschichten fungiert Mo, durch den wir als Leser*innen ganz unmittelbar mit dabei in der Welt einer Gourmetküche sind. Die Welt, die sich hinter dem Pass auftut, über den die Essen geschickt werden, lernen wir durch seine Augen sehen. Nur selten verlässt Akiz‘ den Ich-Erzähler Mo, um dann aus auktorialer Perspektive weiterzuerzählen.

Die glühend heißen Pfannen, die Arbeitsunfällen, den psychischen Druck, der in einer solchen Küche herrscht, in der Abend für Abend 200 Gerichte über den Pass gehen, die Köch*innen, die sich nachts halb zerschlagen aus dem Hintereingang des El Cion schleppen, all das versteht Akiz‘ durch Mo mehr als eindringlich zu schildern. Die Sprache, die er dafür entwickelt hat, oszilliert beständig zwischen großer Sinnlichkeit und Vulgarität.

Hier, er solle den Mund aufmachen, sagte Valentino und schüttete dem Hund eine winzigen Prise [eines kostbaren Salzes aus Himalaya] in den Mund, drohte ihm, dass er niemandem davon erzählen dürfte, dann legte er sich selbst ein paar Salzkristalle auf die Zunge und schloss die Augen.

Die beiden ließen den Geschmack auf der Zunge zerschmelzen. Auch der Hund schloss die Augen. Vor ihm zogen Wolken vorbei. Steiniger Boden. Trocken Falten unter grauen Haaren. Fell eines struppigen Tiers, vom Wind zerzaust. Karges, verblichenes Kraut, knorriger Wuchs zwischen wuchtigen Felsen.

Akiz: Der Hund, S. 113

Sprachliche Stärken

Akiz ist in seinem Debüt stark, was das Finden von eingängigen Vergleichen und Metaphern angeht. Da glüht der heiße Grill in der Dönerbude wie ein Atommeiler oder die Straßen scheinen am frühen Morgen in feurigen Rot und Gelb, als hätte man sie in tausend Tonnen Glutamat getunkt. Er schafft es, die Welt der Kulinarik in funktionierende Sprachbilder zu überführen, sodass man rasch Hunger bekommen könnte:

Vor dem Hund lag ein in weißes Porzellan gerahmtes, abstraktes Gemälde, in der Mitte war die Leber eines Gans angerichtet, überzogen mit einer brüchigen Glasur aus salzigem Honig, umgeben von krustig gebratenen Bohnen und einem Apfelgratin, so zart, dass er beim bloßen Anblick in sich zusammenfiel und bestäubt war das Ganze mit etwas, das aussah wie Splitter kandierter Rinde.

Akiz: Der Hund, S. 31

Dann ist das Buch aber auch wieder unglaublich derb. Es wird geflucht, die Sprache ist alles andere als jugendfrei. Das geht aber auch völlig in Ordnung, ist die tatsächliche Küchensprache ja oftmals noch derber, als sie hier zu lesen ist. Bis auf einzelne, manchmal etwas verunglückte Metaphern ist dieses Buch auf sprachlicher Ebene wirklich mehr als überzeugend.

Es ist ein filmisches Leseerlebnis, Der Hund zu verschlingen oder sich ihn langsam auf der Zunge zergehen zu lassen. Würde man nach Vergleichen suchen, dann ist Akiz Buch irgendwo zwischen Brad Birds Ratatouille, Süskinds Das Parfüm und Fatih Akins Soul Kitchen einzuordnen. Eines meiner großen Lesehighlights in diesem Frühjahr. Sinnlich, sprachlich überzeugend, mitreißend und temporeich.

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David Schalko – Schwere Knochen

Gibt es einen österreichischen Sound in der Literatur? Und wenn ja, wie sieht der aus?

Ich würde sagen – auf alle Fälle ja! Mein sprachliches Bild der Alpennation wurde durch eigensinnige und genau deswegen so gute Autoren wie Thomas Bernhard oder im Speziellen Wolf Haas geprägt, Begeisterung quasi Hilfsbegriff. Die Sprache ist im Österreichischen immer blumiger, origineller und näher am gesprochenen Wort als im Deutschen. So zumindest meine Überlegungen in Bezug auf die Dichtomie von deutscher und österreichischer Sprache.

Wie aber komme ich nun auf ebenjene Fragen? Eigentlich ist es ganz einfach, denn ich war keine zwei Seiten weit im Roman Schwere Knochen von David Schalko fortgeschritten, da wusste ich – hier lese ich das Buch eines Österreichers. Auch ohne den Namen und den biographischen Klappentext des Buches (den ich freilich vorab kannte) war für mich von Anfang an klar: hier schreibt ein Österreicher. Der Sound ist unverwechselbar – was im vorliegenden Fall vor allem durch die Schwäche Schalkos für Eigennamen mit Artikeln erzeugt wird.

So dreht sich das Buch um den Krutzler, genauer gesagt Ferdinand Krutzler, auch der Nothilfe-Krutzler genannt. Mit Freunden bildet er ein im Wien der 30er Jahre eine Bande, die sogenannte Erdberger Spedition. Die Jungen sind Außenseiter und rutschen recht schnell von der halblegalen in die illegale Welt ab. Der Höhepunkt ihrer kriminellen Eskapaden trägt sich dabei just am Tag des Anschlusses von Österreich ans Deutsche Reich zu. Während sich die Alpennation auf dem Heldenplatz sammelt, räumen die Jungs die Wohnung eines Nazi-Kaders komplett aus. Ein echter Husarenstreich der Erdberger Spedition, der die jungen Männer um den Krutzler ins KZ bringt.

Dort tut sich vor allem der Krutzer als wendiger Überlebenskünstler hervor und traktiert und paktiert. Sowohl mit Aufsehern kann der Krutzler, als auch mit den Gefangen, die er auf Linie bringt. Doch das war nur der Anfang, denn nach dem Krieg wird in Wien aufgeräumt, als der Krutzler und seine Erdberger Spedition wieder auf freiem Fuß sind. Schon bald kennt die ganze Wiener Unterwelt den Namen von dem Krutzler – und fürchtet diesen zurecht.

Schwere Knochen ist ein wirkliches Epos. Ein Gangsterroman, ein Wien-Gemälde und ein nachtschwarzer Blick in die österreiche Halbwelt. Das Buch bildet den Abschluss einer Trilogie über die Gier; die beiden vorherigen Stücke sind die TV-Serien Altes Geld und Braunschlag. Dass der Abschluss dieser Trilogie nun als Buch statt als Serie vorliegt hat einen profanen Grund: die Kosten. Die Umsetzung dieses Buchs in einen Film wäre doch kostensprengend. Schließlich zeichnet Schalko über dreißig Jahre österreichische Geschichte nach,  blickt ins KZ und verschiedene Wiener Kneipen und schafft eine Art opulenten Wiener Paten.

Dies tut er mit einem bitterbösen Blick und einem Humor, der manchmal schon schwer an der Grenze des Erträglichen ist. Besonders hart neben der omnipräsenten Gewalt und den fragil-explosiven Figuren nehmen sich die Szenen im KZ aus. Wie hier über das Leid und das Morden geschrieben wird, das ist harter Tobak. Kaum erträglich, wenn man von Zebras liest und Schalko seinen Protagonisten nicht einmal ihre Würde lässt. Hier steht die Literatur der Realität in nichts nach – besonders erschütternd in Zeiten, in den österreichische Innenminister wieder davon sprechen, Flüchtlinge „konzentriert unterbringen“ zu wollen.

 

Schwere Knochen ist ein im Besten Sinne „österreichisches“ Buch. Grotesk, nachtschwarz, manchmal kaum erträglich und hinterfotzig.

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