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Elena Medel – Die Wunder

Mit Spanien als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gibt es ein literarisch vielfältiges Land zu entdecken, dessen Autorinnen und Autoren in loser Folge hier im Mittelpunkt stehen sollen. Zwei Beiträge zu Spanien erlesen gab es bereits. Nun ist mit Elena Medel eine junge Stimme zu entdecken, der mit ihrem Prosa-Debüt Die Wunder laut Suhrkamp-Verlag ein literarischer Sensationserfolg gelang, oder wie es die Zeitung El País formulierte: „Die beste Lyrikerin dieses Landes hat sich mit nur einem Buch in die beste Romanschriftstellerin dieses Landes verwandelt.“

Nun habe ich natürlich nicht die gesamte spanische Literaturszene gelesen und für einen Abgleich parat. Aber auch mit den bislang hier auf dem Blog vorgestellten Werken als Referenzgröße würde ich diese etwas steile These doch bezweifeln.


Die Wunder erzählt von zwei Frauen, deren Leben abwechselnd in Schlaglichtern vorgestellt werden. Da ist María, die als Alleinerziehende ihre Tochter Carmen in der Obhut ihres Bruders lässt und die neben ihrem Brotjob auch am politischen Kampf Interesse gefunden hat. Sie motiviert ihre Bekannten zu Protest und versucht eine Verbesserung ihrer prekären Stellung als Frau in der Gesellschaft herbeizuführen.

Die andere Frau ist Alicia, die Enkelin von María. Sie laboriert am Schmerz des Verlusts ihres Vaters. Dieser, dem Anschein nach ein erfolgreicher Geschäftsmann und Gastronom, begann von Schulden bedroht, Selbstmord. Diese Erfahrung des Verlusts prägt Alicias Leben seit Kindertagen und setzt sich in der Schule mit Mobbing und Ausgrenzung fort. Beide Frauen kämpfen mit der von der Gesellschaft ihnen zugedachten Rollen, müssen um ihr finanzielles Auskommen kämpfen und werden sich erst sehr spät im Buch überhaupt einmal wirklich begegnen.

Die Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft

Elena Medel - Die Wunder (Cover)

Die Wunder ist ein Buch, das seinen Finger in die Wunde legt und von der schwierigen Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft erzählt. Im Doppelporträt der beiden Frauen treten die Strukturen deutlich zutage, die zu prekären Lebensverhältnissen führen und ein Vorankommen der Frau verhindern, sei es Ende der 70er Jahre oder in der Gegenwart. Auch die Großstadt Madrid, in die beide Frauen unabhängig voneinander kommen, ist dabei nicht viel fortschrittlicher als die ländliche Umgebung, der sie eigentlich entfliehen wollen. Armut, Geldmangel und fatale Abhängigkeiten von Männern lauern überall.

Leider ist Die Wunder aber auch ein Buch, das sichtlich schwer am eigenen Gewicht und der Bedeutung trägt. Die Absätze stehen in monolithischen Blöcke, der Ernst und die Gravitas sind jeder Seite eingeschrieben. Dabei entwickeln die beiden Hauptfiguren zumindest für mein Empfinden auch kein wirklich spannendes Eigenleben, stattdessen blieb ich den Medels Frauen gegenüber merkwürdig distanziert und konnte keinerlei Bindung zu ihrer Lebenswelt und Problem aufbringen, auch wenn ich mich wirklich bemüht habe.

Die Sprache (Übersetzung aus dem Spanischen von Susanne Lange) ist recht uniform und austauschbar, die Dialoge oftmals von einem politischen Programm denn der glaubhaften Artikulation von Befindlichkeiten oder Eindrücken geprägt. Die schlaglichtartige Erzählweise, die sich auf Schlüsselmomente und -erlebnisse im Leben der Figuren konzentriert, konnte mich trotz einzelner starker Episoden (etwa die Verzweiflung Marias nach dem Auffinden der toten Seniorin, die ihr zur Pflege anvertraut war oder die Hängung Alicias durch eine Gruppe von Schüler*innen während der Schulzeit) über die ganze Länge des Buchs ebenfalls nicht wirklich mitreißen.

Fazit

In Bezug auf Elena Medels Buch lässt sich für mich einmal mehr die großartige Sentenz Goethes aus dem Schauspiel Torquato Tasso: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Hier tritt mir auch das Anliegen der Autorin, vom Kampf zwei Frauen in zwei Generationen gegen die herrschenden patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen etwas zu sehr in den Vordergrund und drängt Figuren, Prosa, Sprache und den Plot zu sehr in den Hintergrund, als dass sich für mich Lesefreude eingestellt hätte.

Von einem aktivistischen Standpunkt aus ist Die Wunder sicher spannend zu lesen, für mich als Roman ist das Ganze leider nicht wirklich überzeugend, auch wenn ich mit dieser Meinung sicherlich in der Minderheit bin, wenn ich die begeisterten Stimmen des Guardian, von Hilary Mantel bis zur Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski nachverfolge.

Auch die Bloggerinnen Petra Reich und Sandra Falke sind angetan, ich selbst stehe eher etwas ratlos wie die Rezensentin Sylvia Staude in Frankfurter Rundschau vor dem Buch. Aber so ist es manchmal im Leben, ich bleibe dann lieber bei Sara Mesa und Jose Ovejero und freue mich auf den nächsten Titel bei Spanien erlesen, der mir persönlich auch wieder mehr zusagt.


  • Elena Medel – Die Wunder
  • Aus dem Spanischen von Susanne Lange
  • ISBN 978-3-518-43028-6 (Suhrkamp)
  • 221 Seiten. Preis: 23,00 €
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Sara Mesa – Eine Liebe

Das Landleben, es wirkt nicht nur auf deutsche Autor*innen anziehend, auch in Spanien gibt es das Phänomens des Dorfromans. Das beweist Eine Liebe, der neue Roman von Sara Mesa. Darin schickt sie eine Übersetzerin in eine kleines Dorf im spanischen Nirgendwo und konfrontiert sie mit sehr speziellen Männern und Tieren.


Das Dorf, in das es die Erzählerin Nat verschlägt, trägt den sprechenden Namen La Escapa. Es handelt sich dabei um einen winzigen Weiler, der umgeben von einer kargen Landschaft im Schatten des Glauco, eines massiven Bergs, seine Existenz fristet. Dort in diesen winzigen Weiler zieht sich die Übersetzerin zurück, um an einer Übertragung aus dem Französischen zu arbeiten. Doch auch das Erlebte aus der jüngeren Vergangenheit hat einen entscheidenden Einfluss auf den aktuellen Rückzug.

Das Haus, welches sie bezieht, ist nicht anders als eine Bruchbude zu bezeichnen. Der Wasserhahn leckt, die Bohlen sind von der Feuchtigkeit verzogen, das Dach undicht, der Garten verwildert und kaum fruchtbar. Und dennoch knüpft der unverschämte Vermieter Nat viel Geld für die Baracke ab, das sie ihm eingeschüchtert von seiner Präsenz monatlich aushändigt. Immer wieder taucht er unverhofft auf, bedrängt Nat und fällt mit einem übergriffen Verhalten auf, die sie ihm verängstigt und unterwürfig durchgehen lässt.

Ein unverschämter Vermieter

Unversehens taucht der Vermieter bei ihr auf – sie hatte ihn vollkommen vergessen. Wie gewohnt starrt er ihr ungeniert auf die Brüste, lässt dabei keinen Zweifel an an seiner Überlegenheit und Unverschämtheit. Nat hat das Geld nicht parat. Normalerweise hebt sie an einem Automaten in Petacas so viel ab, wie sie gerade braucht, aber als sie das letzte Mal dort war, hat sie nicht dran gedacht. Sie entschuldigt sich. Sagt, sie habe viel zu tun gehabt. Und ihn nicht schon wieder erwartet. Die Zeit vergehe einfach unglaublich schnell. Er blickt sie von der Seite an, presst die Lippen aufeinander, bis sie fast nicht mehr zu sehen sind. (…)

Wenn sie ihm das Geld überweisen könnte -die normalste Sache der Welt-, würde das alles nicht passieren. Oder wenn er wenigstens Bescheid geben würde, bevor er auftaucht, statt sich wie aus heiterem Himmel mit den Rechnungen in der Hand vor ihr aufzubauen, als hätte sie nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag mit dem abgezählten Geld in einem Umschlag auf ihn zu warten. Diese Antworten kommen ihr aber erst im Nachhinein. Jetzt macht er es ihr durch sein Auftreten unmöglich, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Seine immer schmaler werdenden Lippen. Der funkelnde Blick. Die großtuerisch vor der Brust verschränkten Arme.

Sara Mesa – Ein Liebe, S. 120

Beistand findet sie im alten Hippie Píter, der Nat seine Hilfe anträgt, aber auch durch eigenwilliges Verhalten und abrupte Stimmungswechsel überrascht. Mal drängt er ihr Hilfe auf, mal äußert er sich verächtlich über Nachbarn oder den Vermieter, dann sucht er wieder Nats Nähe. Ebenso widersprüchlich wie Píter ist auch das Verhalten von Sieso, einem wilden Hund, den Nat gerne zähmen möchte und ihn nachts in ihrem Garten anbindet.

Ein unmoralisches Angebot

Sara Mesa - Eine Liebe (Cover)

Auch mit diesem Tier ist die Interaktion schwierig, fasst der Hund doch kaum Zutrauen, sucht mal das Weite, dann wieder Nats Nähe. Und auch bei Andreas, dem von anderen „Der Deutsche“ geheißenen Mann ist dieses Verhalten beobachtbar. Er wird im Dorf gemieden und argwöhnisch beäugt. Píter verachtet den Mann und bezeichnet ihn aufgrund dessen nicht vorhandenen sozialen Kompetenzen einen Autisten.

Mit ihm beginnt Nat eine Affäre, die unter denkbar eigenwilligen Voraussetzung mit einem unmoralischen Angebot ihren Ausgang nimmt. Denn nachdem sich das Dach von Nats Unterkunft als bei Regen sehr durchlässig erweist, weigert sich der Vermieter in irgendeiner Form den Mangel zu beheben. Andreas bietet ihr seine Hilfe bei der Reparatur an. Seine Forderung: Sex gegen Arbeit. Ein Agreement, auf das sich Nat nach einigem Nachdenken einlässt und aus dem sich eine im Dorf argwöhnisch beäugte Affäre entwickelt. Und dennoch kommt Nat diesem rätselhaften und widersprüchlichen Mann nicht wirklich näher.

Ein Buch voller widersprüchlicher Figuren

Eine Liebe ist eine Buch, das von der Widersprüchlichkeit handelt. Das beginnt bei der Tat, die Nat zu ihrem Zuzug nach La Escapa bewogen hat, setzt sich in ihrem eigenen Verhalten gegenüber dem unverschämten Vermieter oder Andreas fort und ist jeder Figur in diesem Buch eingeschrieben. Sei es Mensch oder auch Tier, viele Figuren in diesem Buch fassen einem Moment Zutrauen, dann aber zeigen sie sich wieder abweisend oder aggressiv beißen – im übetragenen Sinn und wörtlich.

Auch ist der Stil dieses Romans bemerkenswert. Figuren und Prosa sind hier ebenso karg wie die unwirtliche Landschaft, die La Escapa umgibt. Wirkliche Liebe, ein dörfliches Miteinander oder Harmonie sind hier kaum zu entdecken und höchstens in Ansätzen vorhanden. Stattdessen lebt in La Escapa jeder für sich, verachtet die Nachbarn, ist unfreundlich und macht des dem Dorfneuling Nat nicht wirklich einfach, die zudem auch mit ihrer Übersetzung kämpft.

Wenn der Klappentext des Buchs bemerkt, dass Sara Mesa auf den Luxus von Details verzichtet, dann ist das mehr als zutreffend, auch wenn ich persönlich Details nie als erzählerischen als Luxus sehen würde. Aber die Kargheit ist diesem Buch auf jeder Seite eingeschrieben (ins Deutsche übertragen durch Peter Kultzen). Auch das erratische und widersprüchliche Verhalten der Figuren wird letzten Endes auch nicht durch die Psychologie der Figuren erklärt, sondern steht einfach unaufgelöst für sich. Alles in Sara Mesas Buch ist staubig, schmutzig und wenig wohnlich eingerichtet.

Fazit

Mit La Escapa entwirft Sara Mesa ein Dorf, in das man nicht wirklich gerne ziehen möchte. Sie schreibt einen Dorfroman, der durch seine Unbehaustheit und seinen schonungslosen Blick auf das gesellschaftliche Miteinander oder eher Gegeneinander im spanischen Hinterland besticht.

Mit Eine Liebe gelingt es Sara Mesa, die Schroffheit der Umgebung und das karge Leben dort in Prosa zu überführen. Sie zeigt widersprüchliche Figuren und deren schwieriges Miteinander und liefert so einen Dorfroman, der frei von Klischees oder romantischer Verblendung ist. Eine Liebe fällt eher das Genre des Anti-Dorfromans. Denn wer dieses Buch gelesen hat, der überlegt sich den Umzug in ein Dorf vom Schlage La Escapa im spanischen Hinterland sicherlich noch einmal gut.


  • Sara Mesa – Eine Liebe
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-8031-3351-9 (Wagenbach)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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José Ovejero – Aufstand

Wohl jeder, der schon einmal in einer WG gewohnt hat, kann bestätigen, dass eine gemeinsame Wohnung noch lange nicht für gemeinsame Weltanschauung oder Werte sorgt. Doch auch wenn man in völlig unterschiedlichen Verhältnissen lebt, kann es mit der gemeinsame Sicht auf die Dinge weit her sein, sogar wenn es sich um Vater und Tochter handelt. Das zeigt José Ovejero in Aufstand auf eindrückliche Weise und lässt gesetzten Radiomoderator auf Hausbesetzer-Tochter treffen. Mit explosiven Folgen.


Im Mittelpunkt von Aufstand steht der Radiomoderator Aitor, der getrennt von seiner Frau lebt und sich in Madrid mit seinen beiden Kindern eine Wohnung teilt. Ihn führt José Oevejero mit folgenden Worten ein:

Aitor konnte sich an kein Ereignis in seinem Leben erinnern, das ihm so nahegegangen wäre wie das Verschwinden seiner Tochter. Obwohl Ana nach mehrmaliger Ankündigung, vielmehr Drohung, das Haus freiwillig verlassen hatte, fühlte Aitor die gleiche Verzweiflung wie jemand, der bei einem Unfall oder einer Katatstrophe einen geliebten Menschen verloren hat. Dass er selbst sich niemals eigene Kinder gewünscht hatte, tröstete ihn nicht.

José Ovejero – Aufstand, S. 7

Schon früher hatte Ana immer wieder das gemeinsame Zuhause verlassen, war nach Tagen mit neuen Piercings oder Tätowierungen nachhause gekommen. Doch nun ist alles anders, denn es sind schon mehr Tage als bisher üblich vergangen – und von Ana fehlt weiterhin jede Spur.

Die Hausbesetzerin und ihr Vater

Was mit ihr in der Zwischenzeit passiert ist, das erzählt Ovejero in der zentralen zweiten Perspektive des Buchs. Denn Ana ist zur Hausbesetzerin geworden, hat mit anderen illegal ein Haus bezogen, das auf den Namen El Agujero hört. Dort lebt sie mit andere auf siffigen Matratzen, zieht durch die Straßen, bettelt und plant Unternehmungen in jenem Kampf, den sie gegen die Touristenhorden führen, die Madrid überfluten.

Jose Ovejero - Aufstand (Cover)

Das bedeutet dann schon einmal, dass Ana und Gleichgesinnte ein durchsichtiges Seil spannen, um eine geführte Tourist*innengruppe auf Segways zu Fall zu bringen. Doch auch vor anderen Aktionen wie einer Bombe vor einem Polizeipräsidium schreckt Ana nicht zurück, wenngleich die Bombe den Worten ihres Bruders zufolge eher ein Knallkörper war.

Und so beobachet José Ovejero, wie Vater und Tochter auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der neuen Lebenssituation umgehen. Ana widmet sich ihrem Kampf – und Aitor beauftragt einen Privatdetektiv, der seiner Tochter nachspüren soll, während er beruflich unter Druck steht.

Denn die anonymen CEOs des Radiosenders, für den Aitor arbeitet, sparen den Sender immer weiter kaputt und rationalisieren alle bestehenden Strukturen völlig weg. Um weiterhin seinem Beruf nachgehen zu können, schließt Aitor einen folgenreichen Deal mit seinen Vorgesetzten. Und auch seine Wohnsituation ändert er – zwar nicht so entscheidend wie seine Tochter, aber dennoch wird auch das eine folgenreiche Entscheidung, die im Buch noch eine Rolle spielt.

Angespannter Wohnungsmarkt, angespannte Beziehungen

Aufstand ist ein Buch, das einen Blick auf den angespannten Wohnungsmarkt in Madrid wirft, in dem Ovejero Aitors bourgeoise Situation mit der der Wohnungsbesetzer vergleicht, die in der spanischen Hauptstadt und anderswo schon längst viele Dutzende Wohnungen als Gegenmodell zu Mietwucher und Co besetzt haben (die sogenannten Okupados).

Ovejeros Buch erzählt aber auch von Radikalsierung und Entfremdung in Beziehungen. So sind es bei Aitor und dessen Tochter Ana gerade einmal hastig an den Kühlschrank gepinnte Gedichte, über die die beiden noch kommunizieren, wenn die Lebensrealitäten schon so unterschiedlich geworden sind.

Was das Buch neben diesen sehr aktuellen und weit über Spanien hinausweisenden Themen so herausfordernd macht, ist die Erzählweise. Denn neben der hauptsächlichen Perspektiven von Aitor und Ana schleicht sich auch der Privatdetektiv Javier in den Fokus des Buchs – und Aitors Exfrau Isabel spielt ebenfalls eine Rolle.

Während diese Figuren eigentlich durch ihr Biografien sehr unterschiedlich angelegt sind, so verschwimmen diese Unterschiede auf sprachlicher Ebene stark. Denn Ovejero wählt einen ungewöhnlichen Erzählkniff, indem er die Erzählperspektiven konsequent durcheinanderwürfelt. Über alle Figuren wird mal in der Ich-Perspektive erzählt, dann werden sie wieder mit Du adressiert oder man schaut ihnen in der 3. Person über die Schulter (Übersetzung aus dem Spanischen von Patricia Hansel).

Gedichte und seitenweise Dialoge ergänzen das Geschriebene – und erfordern viel Konzentration beim Lesen, da es der vielperspektivische Erzählansatz nicht immer leicht macht, den Überblick über das Geschehen zu bewahren und der Handlung zu folgen.

Fazit

So ist Aufstand ein literarisch herausfordernder Kommentar auf Wohnungsnot und Entfremdung im Spanien dieser Tage geworden. José Ovejero gelingt ein Buch, das von Radikalisierung erzählt, und das durch einen ebenso genauen Blick auf die Hausbesetzerszene in Madrid wie auch auf eine komplexe Vater-Tochter-Beziehung besticht.


  • José Ovejero – Aufstand
  • Aus dem Spanischen von Patricia Hansel
  • ISBN 978-3-96054-296-4 (Nautilus)
  • 328 Seiten. Preis: 26,00 €
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Mit Krimis in den Urlaub

Wohin geht es dieses Jahr in den Urlaub? Die aktuelle Pandemielage macht diese Entscheidung deutlich schwieriger. Länder, die gerade noch als traumhafte Urlaubsdestinationen galten, sind morgen schon wieder Risikogebiete. Die Unsicherheit hat Einzug gehalten in die Urlaubsplanungen. Deshalb biete ich als kleinen Service für den Sommerurlaub hier kurz und kompakt vorgestellt drei neue Krimis, die in ganz unterschiedliche Landstriche und Regionen entführen. Unverdächtig des üblichen Regionalkrimi-Unfugs sind hier drei originelle Autoren und Ermittler zu entdecken, die im Kopf gut verreisen lassen.

Anthony J. Quinn – Auslöschung

Anthony J. Quinn- Auslöschung (Cover)

Der erste Tipp führt auf die grüne Insel. Wobei sich das Grün in diesem Roman eher als Grau ausnimmt. Denn wir sind am See Lough Neagh in der irischen Provinz Armagh, der im Nebel liegt. Hier wurde auf einer Insel ein alter Vogelbeobachter brutal ermordet. Ein weiterer betagter Senior ist verschwunden. Polizeiinspektor Celcius Daly ist mit der Suche nach dem Vermissten betraut. Allmählich kristallisieren sich Verbindungen zwischen dem toten Vogelbeobachter und dem Verschwundenen heraus. Verbindungen, die zurück in die Zeiten der Troubles und damit zu den Machenschaften von Special Branch und IRA führen.

Nebel auf dem See, eine nebulöse Vergangenheit der alten Männer und dazu noch Nebel im Kopf. Schwaden von Erinnerungen und Fetzen von früher durchziehen den Geist des Verschwundenen, den Anthony J. Quinn neben Celcius Daly zu Wort kommen lässt. So besitzt der Originaltitel Disappearing eine Mehrdeutigkeit, die sich im deutschen Titel nur unzureichend ausdrückt. Neben dem etwas unfokussierten Nachwort sind das aber nur marginale Schwachstellen, die Quinns Buch sonst gut zu kompensieren weiß.

Besitzt Quinns Debüt auch nicht die erzählerische Raffinesse eines Adrian McKinty und die subtile Entfaltungskraft einer Tana French, ist Auslöschung doch ein gehobener Krimi von der grünen Insel, deren wechselvolle Geschichte in jüngster Vergangenheit wieder wach werden lässt. Ein Krimi über die Schuld und Sühne, Loyalitäten und Vergebung – und nicht zuletzt über das Vergessen und das Nicht-Vergessen Können, das über allem in Auslöschung schwebt.

  • Anthony Quinn – Auslöschung
  • Aus dem Englischen von Sven Koch
  • ISBN: 978-3-948392-26-0 (Polar Verlag)
  • 424 Seiten. Preis: 14,00 €

Javier Cercas – Auslöschung

Vom nebligen Norden führt der nächste Tipp in den deutlich wärmeren Süden. Der katalanische Autor Javier Cercas hat sich mit Terra Alta erstmals an einem Krimi versucht. Dieser Versuch ist ihm wirklich geglückt!

Spätestens seit der Trilogie von Eva García Sàenz ist das Katalonien einer der interessantesten kriminalliterarischen Landstriche in der gegenwärtigen Literaturlandschaft. Fernab aller von Deutschen unter Pseudonym verfassten und nach Schema F heruntergeschriebenen Regiokrimis zeigt sich hier eine spannende Facette des literarischen Krimis. Ähnlich wie im Falle von Anthony Quinn ist es auch hier die wechselvolle und blutige Geschichte des Landstrichs, die die Grundierung des Buchs bildet. Im Weinanbaugebiet von Terra Alta ist es zu einem Doppelmord gekommen, der den Ermittler Melchor Marín auf den Plan ruft. Dieser hatte sich nach traumatisierenden Erfahrungen in seiner Vergangenheit in diesen Landstrich versetzen lassen, um dort ein ruhiges Leben mit seiner Familie zu führen (hier enden dann auch alle erzählerischen Gemeinplätze). Der Mord an dem Paar bringt den Ermittler in Konflikt mit alten Loyalitäten und lässt ihn verzweifeln.

Neben der Darbietung des Plots zählt die Gestaltung von Melchor Marín zu den interessantesten Aspekten dieses Romans. Seine Geschichte, seine Begeisterung für Literatur, insbesondere die des 19. Jahrhunderts und seine eigenen Brüche in der Biografie machen ihn zu einer Ermittlerfigur, von der man gerne noch mehr lesen würde. Und an dieser Stelle gibt es dann auch gute Nachrichten zu verkünden, da weitere Bände der Reihe bereits in Planung sind.

  • Javier Cercas – Auslöschung
  • Aus dem Spanischen von Susanne Lange
  • ISBN: 978-3-10-397070-8 (S. Fischer)
  • 428 Seiten. Preis: 24,00 €

Chan Ho-kei – Die zweite Schwester

Chan Ho-kei - Die zweite Schwester (Cover)

Etwas weiter weg führt der dritte Urlaubskrimi-Tipp, nämlich nach Japan. Dort, wo momentan die olympischen Spiele stattfinden, gibt es eine blühende Krimilandschaft zu entdecken. Asiatische Autor*innen wie Keigo Higashino, Fuminori Nakamura, Young-ha Kim, Hideo Yokohama oder Kanae Minato liefern immer wieder frische Impulse für das Genre. Und auch Chan Ho-kei passt sich ganz hervorragend in diese Reihe ein. Sein Krimi Das Auge von Hongkong war einerseits ein klassisches Detektiv-Porträt, andererseits auch eine präzise Nachzeichnung der Entwicklungen Hongkongs über die letzten Jahrzehnte. Und nun liefert der Atrium-Verlag Nachschub.

Diesmal erzählt Ho-kei von einem sexuellen Übergriff in der U-Bahn, dem sich eine junge Frau ausgesetzt sieht. Im Anschluss an die Verhaftung des Täters ergießt sich ein Shitstorm über die junge Frau, die unter dieser Last zusammenbricht und Selbstmord begeht. Ihre ältere Schwester will Vergeltung, als sich herausstellt, dass der Initiator des Shitstorms ein anonymer Aufwiegler ist, der die Anonymität des Internets virtuos nutzt. Sie tut sich mit dem Hacker N zusammen, um die Identität des Täters zu lüften.

Chan Ho-kei hat hier einen Roman geschrieben, der sich mit den Abgründen des Internets und unseren (digitalen) Identitäten auseinandersetzt. Ihm gelingt ein Krimi mit manchmal etwas eindimensionalen Figuren, der aber viele Twists und Überraschungen bereithält und über seine ganze Länge von immerhin knapp 600 Seiten immer wieder Abwechslung schafft. So leicht wie hier wird man Hongkong in nächster Zeit sicher nicht besuchen können!

  • Chan Ho-kei – Die zweite Schwester
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN: 978-3-85535-111-4 (Atrium)
  • 592 Seiten. Preis: 25,00 €
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Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer

Sie gilt als DIE Dame der katalanischen Literatur: Mercè Rodoreda. 1908 geboren und 1983 verstorben, durchlebte sie ein Leben voller Höhen und Tiefen. Den Impuls zum Schreiben gab ihre unglückliche Ehe, in der sie die Literatur als Mittel der Weltflucht entdeckte.

Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs floh Rodoreda ins Exil. Zunächst lebte sie in Spanien, ehe sie dann in die Schweiz übersiedelte. Erst in den siebziger Jahren kehrte sie dann in ihre katalanische Heimat zurück.

Von diesen wechselvollen Zeiten und dem turbulenten Leben merkt man ihrem im Schweizer Exil entstandenen und 1967 veröffentlichten Roman Der Garten über dem Meer allerdings überhaupt nichts an. Im Gegenteil. Ruhe, Melancholie und Zurückhaltung kennzeichnen diesen Roman, der neben Auf der Plaça del Diamant zu den wohl bekanntesten Werken Rodoredas zählt.

2014 gab Roger Willemsen dieses Buch im Rahmen der mare-Klassiker-Reihe heraus. Kirsten Brandt besorgte die erstmalige Übersetzung aus dem Katalanischen, Willemsen selbst verfasste das Nachwort. Noch nie war das Buch zuvor im Deutschen zu lesen. So konnte man über dreißig Jahre nach dem Tod Rodoredas eine wirkliche Neuentdeckung machen.

Eine Entdeckung, für die man Willemsen wirklich dankbar sein muss. Denn Der Garten über dem Meer ist ein literarisches Kleinod, eines das von der Vergänglichkeit des Sommers und zugleich von der Vergänglichkeit von Beziehungen erzählt

Von der Vergänglichkeit

Ausgangspunkt sind die Erinnerungen eines namenlosen Gärtners, der sich zurückerinnert an sechs Sommer, in denen er ein Herrenhaus betreute. In sechs Kapiteln erzählt er von seiner Rückschau auf jene Sommer, die von ganz unterschiedlichen Erlebnissen, Affären, Feiern, Unglück und Begegnungen geprägt waren.

Mercè Rodoreda - Der Garten über dem Meer (Cover)

Die Frau des Gärtners ist bereits verstorben, sodass er alleine in seiner kleinen Hütte auf dem Gelände des Herrenhauses lebt, als seine Schilderungen einsetzen. Er erzählt vom jungen Paar Francesc und Rosamaria, das mitsamt seiner Freundesclique die Sommer in ihrem Herrenhaus am Meer verbringen. Dort feiern sie rauschende Feste und Bälle, reiten aus, fahren Wasserski und genießen das dolce vita.

Doch was sich zunächst paradiesisch anhört, offenbart auch seine Schattenseiten, von denen der Gärtner erzählt. Eifersüchteleien, Affären, am Ende erbaut sich gar ein neuer Nachbar in bester Gatsby-Manier ein neues und noch prunkvolleres Haus neben dem des jungen Paares.

Lakonisch und mit einem genauen Gespür für die Risse im Gefüge der Clique betrachtet der Gärtner das Geschehen dort hoch oben über dem Meer. Durch seine soziale Außenseiterrolle kann er alles ungefiltert erzählen und legt so die Verwerfungen in der Clique und auch die dunklen Seiten der Sommertage offen. Während er sich um die Ordnung im Garten müht, driften die jungen Leute während der Sommer immer weiter auseinander.

Heiterkeit und Wehmut

Durch den Rückblick bekommt Rodoredas Erzählungen einen melancholischen, distanzierten, klaren und doch auch nostalgischen Ton. Das Wissen um die unmittelbar vergangenen Sommer schwingt im Buch mit und schlägt so den Bogen von sommerlicher Heiterkeit bis hin zum Wehmut. Das ist toll gemacht und zeigt eine Autorin, die zurecht für ihr Schreiben gerühmt und gepriesen wird. Hier ist eine Backlist-Perle zu entdecken. Eine große Empfehlung meinerseits!

Mit Der Garten über dem Meer bekommt man Sommererinnerungen ohne Falschheit. Ein Rückblick mit Wehmut und zugleich mit einem unbestechlichen Blick. Und Rodoreda gelingt ein präzises Bild einer spanischen Jeunesse dorée, das auch nach über 60 Jahren seit seinem Erscheinen nichts von seiner Klasse eingebüßt hat.


  • Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • Mit einem Nachwort von Roger Willemsen
  • ISBN 978-3-8333-1054-6 (Berlin-Verlag)
  • 240 Seiten. Preis: 11,00 €
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