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Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter

Drei Leuchtturmwärter verschwinden spurlos während der Silvesternacht von ihrem sturmumtosten Standort vor der Küste von Cornwall. Es fehlt von ihnen jede Spur, die Wanduhren sind stehengeblieben, der Turm von innen verriegelt. Was bei Ellery Queen oder John Dickson Carr ein klassischer Rätselkrimi geworden wäre, wird bei Emma Stonex zu einer Meditation um Verlust und den Umgang mit dem Ungewissen.


Es mutet wirklich wie ein Rätsel aus einem Kriminalroman aus dem Goldenen Zeitalter der 20er und 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an. Ein verschlossener Leuchtturm auf der Insel Maidens Rock, 28 Kilometer südlich von Land’s End gelegen. Seine Bewohner, drei Männer, ohne jedes Lebenszeichen verschwunden. Und so schießen nach dem Bekanntwerden der Umstände die Spekulationen ins Kraut. Handelt es sich um einen Mord? Wurden die drei Männer entführt? Oder ist es zu einer Tragödie auf Maidens Rock gekommen?

Es bleibt nicht mehr viel übrig vom Turm. Nur noch die Laterne. Acht Etagen durchsucht und acht Etagen leer. Also hinauf auf die Spitze, und da ist sie, die Laterne der Maiden, ein riesiger Glühstrumpf umschlossen von Linsen so zart wie Vogelschwingen.

»Das war’s. Sie sind weg.«

Am Horizont ziehen Federwolken heran. Die Brise frischt auf, ändert die Richtung, treibt weiße Kämme über die tanzenden Wellen. Es ist, als wären die Wärter nie hier gewesen. Entweder das, oder als wären sie ganz nach oben geklettert und einfach davongeflogen.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, S. 28 f.

Verschwunden aus dem Leuchtturm

Emma Stonex - Die Leuchtturmwärter

Um das zu herauszufinden, will sich ein Schriftsteller mit den drei hinterbliebenen Partnerinnen der Leuchtturmwärter treffen. Er möchte ein Buch über das Rätsel von Maiden Rock verfassen und sucht hierfür das Gespräch mit den Frauen. Doch nicht alle der drei Frauen wollen mit dem Autoren reden. Auch untereinander herrscht überwiegend Funkstille, da die Frauen ganz unterschiedliche weitere Lebenswege eingeschlagen haben. Eine neue Familie oder Einsamkeit, Verdrängung der Geschehnisse oder ruheloses Grübeln. In den Gesprächen, die wir aus Perspektive des Autors erleben, entstehen langsam drei ganz unterschiedliche Leben, die sich um die Leerstelle in ihrem Leben herum gebildet haben.

Dabei erzählt Emma Stonex abwechselnd aus der Perspektive der drei Frauen, die durch die Nachforschungen des Reporters im Jahr 1992 aufgewühlt werden und ihre Sicht auf das Geschehen schildern. Aber auch die drei Leuchtturmwärter kommen zu Wort, die von ihrem Alltag auf dem Leuchtturm zwanzig Jahre zuvor erzählen. Man erhält Einblicke in eine Welt voller Einsamkeit, die ganz eigene Riten, Abläufe und Codes besitzt, die sich auch durch die Tätigkeit fernab der Zivilisation bedingen.

Drei Männer, drei Frauen – und ihre Perspektiven

Allmählich puzzelt Emma Stonex diese sechs Perspektiven aus den unterschiedlichen Jahren zusammen, um eine Variante anzubieten, was sich in der Silvesternacht auf Maidens Rock abgespielt haben könnte. Jeder der Wärter und jede der drei Frauen trägt ihr Scherflein zu der Entwicklung bei, die am Ende auch nur ein Erklärungsversuch bleibt, der aber keinen allgemeingültige Anspruch formuliert. Das macht das Buch so überzeugend, weil neben den Perspektiven der drei Paare und der Befragten auch Raum für Spekulationen und Schwebendes bleibt.

Das Ganze basiert dabei aber auf tatsächlichen Begebenheiten, wie schon die Anmerkung der Autorin zu Beginn des Buchs klarmacht.

Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr in den Äußeren Hebriden. Sie hießen Thomas Marshall, James Ducal und Donald MacArthur. The Lamplighters wurde von diesem Ereignis inspiriert und in respektvoller Erinnerung daran geschrieben, aber es ist eine fiktionale Geschichte und hat keine Ähnlichkeit mit dem Leben und der Persönlichkeit dieser Männer.

Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter, Anmerkung

Und auch an dieser Stelle geht Emma Stonex noch einmal auf die Hintergründe zu den Taten ein, die ihren Roman um das Verschwinden der drei Leuchtturmwärter inspirierte.

Fazit

So ist Die Leuchtturmwärter eine Studie über den Verlust im Leben und auch ein genaues Bild, was die Einsamkeit der Leuchtturmwärter belangt. Die Autorin lässt eventuelle Erwartungen eines Rätselkrimis ins Leere laufen und zeigt vielmehr Einsamkeit und Entfremdung in allen möglichen Schattierungen. Ein überraschendes Buch, das Erwartungen zuwiderläuft und wenig romantisierenden vom Alltag im Leuchtturm und dem Umgang mit Leerstellen im Leben zeigt.


  • Emma Stonex – Die Leuchtturmwärter
  • Aus dem Englischen von Eva Kemper
  • ISBN 978-3-10-397037-1 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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Frank Martinus Arion – Doppeltes Spiel

Nennen Sie einen Roman, der auf den Antillen spielt. Eine echte Herausforderung, auf die ich vor der Lektüre von Frank Martinus Arions Roman Doppeltes Spiel keine Antwort gehabt hätte. Aber da gibt es ja die Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg, die in Zusammenarbeit mit der LitProm uns westlich orientierten Leser*innen die reichhaltige Literatur des Globalen Südens näherbringen möchte.

Und so gibt es nun mit Doppeltes Spiel Literatur von der Antilleninsel Curaçao zu entdecken, die hier in einer Neuübersetzung von Lisa Mensing vorliegt. Schade nur, dass sich das Buch bei allen guten Absichten und der verheißungsvollen Plotidee für mich als Flop herausgestellt hat.


Vier Männer treffen sich unter dem Schatten eines Tamarindenbaums zum Dominospiel. Das auf der ganzen Insel heißgeliebte Spiel dient den vier Männern zum Zeitvertreib und ist das, was man gemeinhin mit der Phrase „Mehr als ein Spiel“ umreißt. Alle vier Männer sind reichlich unterschiedlichen, stammen aus verschiedenen Schichten und Milieus.

Da ist der Taxifahrer Bubu Fiel, bei dessen Haus der Tamarindenbaum steht, unter dem die Männer zusammenkommen. Da ist Chamon Nicolas, der von der benachbarten Antilleninsel Saba nach Curaçao gekommen ist, um dort Arbeit zu finden. Manchi Sanantonio verfügt als Gerichtsschreiber über ein stattliches Eigenheim, das sein ganzer Stolz ist. Und Janchi Pau ist ein klassischer Taugenichts, der nach dem Tod seiner Mutter in einem Rohbau haust, dessen Fertigstellung irgendwann aus seinem Blick geraten ist.

Diese vier Männer verbindet die Leidenschaft zum sonntäglichen Dominospiel – und noch etwas, nämlich ihre Frauen, die auf pikante Art und Weise mit den vier Männern verbandelt sind. Solema, die Frau des Gerichtsschreibers Manchi Sanantonio, pflegt eine Affäre mit Janchi Pau. Manchi weiß zwar um die Promiskuität seiner Frau und lässt sie das regelmäßig durch demütigende Rituale spüren. Von der Affäre seines Dominopartners mit seiner eigenen Gattin ahnt er jedoch nichts. Ebenso wie Bubu Fiel, dessen Frau Nora sich regelmäßig prostituiert, um das von Fiel versoffene Geld für die eigenen Kinder wieder hereinzubekommen. Sie betrügt ihren Mann mit Chamon Nicolas, der wiederum ebenfalls versucht, die Affäre vor seinem Dominopartner geheim zu halten.

Ein Dominospiel auf Leben und Tod

Diese sechs pikant miteinander verbandelten Figuren treffen im Zuge des Dominospiels aufeinander, das sich zu einer echten Partie auf Leben und Tod entwickelt, die schlussendlich ganz Curaçao elektrisiert und in dem verschiedene Temperamente und Ansichten auf dem Spielbrett und vor allem daneben verhandelt werden.

Frank Martinus Arion - Doppeltes Spiel (Cover)

So hätte Doppeltes Spiel werden können (was ich mir von der Beschreibung des Plots auch tatsächlich erhoffte). Stattdessen habe ich ein Buch bekommen, das mich wechselweise gelangweilt, befremdet, dann wieder überrascht aber in seiner Gesamtheit nicht wirklich überzeugt hat.

Dabei ist die Erzählanordnung des Romans ja wirklich spannend. Vier Männer, zwei Frauen, alle sechs People of Color und miteinander in Beziehung stehend. Der Handlungsrahmen eines einzigen Tages, der mit dem Kapitel Der Morgen und der Vormittag beginnt, sich dann im umfangreichsten Teil der Beschreibung des Dominomatchs am Nachmittag und der Dämmerung fortsetzt und dann in der Dämmerung und in dem Nachspiel dann eine letzte Schlussvolte bereithält. So bleibt die Einheit von Zeit und Ort gewahrt, alle Figuren stehen für unterschiedliche Teile der curaçaonischen Gesellschaft, für unterschiedliche Ideen, Temperamente und Wünsche, wie es mit ihnen und ihrem Land weitergehen soll.

Ein Roman in der Sprache der Kolonisatoren

Und auch die Geschichte hinter dem Roman und seinem Schöpfer Frank Martinus Arion ist ja durchaus interessant. So schrieb der 1936 auf Curaçao geborene Schriftsteller den Roman auf Niederländisch, der Sprache der Kolonisatoren, die die Antillen seit der Zeit der Niederländischen Westindien-Kompanie als Überseegebiet für sich reklamierten (ein Status, aus dem Curaçao erst im Jahr 2005 als autonomes Land innerhalb des niederländischen Königreichs entbunden wurde).

Arion ging 1955 für ein Studium in die Niederlande, wo er in Leiden studierte. Doch trotz seines Wegzugs aus seiner Heimat blieb Curaçao stets seine eigentliche Heimat, wie die Übersetzerin Lisa Mensing in ihrem Nachwort erklärt. So verfasste er die Kurzgeschichte Das Dominospiel bei Bubu Fiel, das nach Umarbeitungen und einer Aufwertung der Frauenfiguren dann 1973 als Roman in den Niederlanden erschien und der erste Roman eines schwarzen Autors aus Curaçao war, bei dem nur People of Color eine Rolle spielen.

Dabei blieb der 2015 verstorbene Arion stets ein Sprachwanderer, der in Doppeltes Spiel mit dem Niederländischen und den einheimischen Sprachen spielt, was die Übersetzung zu einer Herausforderung werden ließ.

Wenig überzeugend bis ärgerlich

All das ist wirklich spannend und lässt die Entscheidung für eine Veröffentlichung und Neuübersetzung des Werks folgerichtig erscheinen. Aber leider ist der Roman von Frank Martinus Arion für mich wirklich literarisch wenig befriedigend und hat mich mit seinem Inhalt alles andere als überzeugt. Das hat mehrere Gründe.

So hatte ich mich nach der Beschreibung des Romans auf einen packenden Roman gefreut, der sein Raum- und Zeitminimum für eine spannende Studie Curaçaos und der Gesellschaft zu nutzen weiß. Dass der Roman schon fast fünfzig Jahre alt ist und damit zu einer Zeit spielt, als Richard Nixon noch US-Präsident war – geschenkt. Könnte der Roman doch auch über seinen Zeitrahmen hinausweisende Bezüge von Kolonialismuskritik und Beobachtung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf Curaçao herausarbeiten, die das Buch auch heute noch lesenswert machen. Tja, könnte.

Stattdessen dominiert eine äußerst umständliche Exposition der Handlungsfiguren, bei der über hundert Seiten vergehen, bis es dann wirklich zum entscheidenden Dominomatch kommt. Immer wieder werden verheißungsvolle Ansätze der gesellschaftlichen Innensicht von zähen Schilderungen des Dominomatches unterbrochen, wird jedes Anlegen eines Steins lang und breit kommentiert, statt die Handlung voranzutreiben.

Befremdliches Geschlechterbild

Beständig gibt es solche sich ziehenden Schilderungen und Debatten, etwa wenn die vier Männer ausführlichst (und mit verwinkelten Anspielungsebenen) diskutieren, wie mit dem Fall eines fiktiven Richters umzugehen ist, der seine Frau in flagranti mit einem anderen Mann ertappt hat. Bei diesem Richter handelt es sich wiederum einfach nur um das verklausulierte Alter Ego von Manchi und dessen Frau Solema, der seine Freunde in diese Debatte lockt.

Dererlei Passagen hemmen den Lesefluss ungemein – und noch deutlich negativer in meinen Augen – zeigen ein heutzutage doch reichlich befremdliches Geschlechter- und Rollenbild. Die Frauen prostituieren sich häufig, betrügen ihre Männer. Diese wiederum suchen Prostituierte auf oder fahren wie im Falle von Bubu Fiel häufig Ausländer in die Bordelle, wo er in jenen Etablissements auch selbst ein guter Kunde ist. Und wenn speziell ein weiblicher Fahrgast einmal nicht zahlen kann, dann tauscht Bubu Sex gegen Fahrkosten.

Derb, oftmals auch sehr vulgär sind die Äußerungen die sich gerade vor dem Hintergrund unserer Gegenwart sehr vorgestrig und sexistisch bis misogyn lesen, etwa wenn die vier Männer darüber fachsimpeln, ob das Antanzen und Anfassen fremder Frauen legitim ist oder mit ihren letzten sexuellen Abenteuer und Eskapaden prahlen.

Dass die Frauen die eigentlichen Heldinnen dieser Geschichte sind, wie es der Klappentext des Buchs verkündet, auch das hat sich mir nicht wirklich erschlossen. Natürlich bieten die Frauen ihren Männern Paroli, betrügen sie und sind im Auftreiben von ausstehenden Geldern erfindungsreich. Aber reicht das, um aus Frauen Heldinnen zu machen?

Zumindest in Sachen Sympathie sind auch sie nicht weiter vorne bei mir. Ich konnte weder auf der männlichen noch auf der weiblichen Seite dieses Doppelten Spiels Held*innen ausmachen. Da helfen auch alle Analogien zwischen den Dominosteinen und den Charakteren mit ihren zwei Gesichtern nicht. Selbst das blutige Finale des Buchs kann da den antiquierten Gesamteindruck meiner Lektüre nicht wirklich retten.

Fazit

So bleibt von Doppeltes Spiel bei mir der Eindruck von einer hochspannenden Theorie rund um das Buch und den Autoren Frank Martinus Arion, dass ein Erscheinen in der Reihe Weltempfänger plausibel erscheinen lässt. Liest man das Buch selbst, erschließt sich die Entscheidung für die Übersetzung genau jenes Titels aus der literarischen Welt des Globalen Südens für mich allerdings nicht wirklich, hat man es doch mit einem recht überkommenen und in vielen Punkten heutzutage fragwürdigen Buch zu tun. So toll die Reihe Weltempfänger sonst auch ist – hier hätte man in meinen Augen durchaus ein aktuellere und auch relevantere – gerne auch weibliche – Stimme aus der literarischen Welt der Karibik finden können.

Wollte man zeigen, wie Sexismus in den niederländischen Seegebieten in weiten Teilen der Bevölkerung gängig war und welches Geschlechterbild dort dominiert(e), dann ist die Wahl von Doppeltes Spiel eine vortreffliche. Auch demonstriert das Buch vorzüglich, wie sich unsere Gesellschaft in Sachen Machtmissbrauch, #metoo und überkommener Rollenbilder sensibilisiert und weiterentwickelt hat, in diesem Sinne ist liefert Frank Martinus Arions Buch viel Anschauungsmaterial.

Für mich war die Lektüre von Doppeltes Spiel allerdings kein Genuss, vielmehr hat mich die Welt, die ich hier vorgefunden habe, in weiten Teilen befremdet. Auch das starke Finale konnte mich mit den Längen und überkommenen Geschlechterbildern leider nicht überzeugen, und so brauchte es viel Selbstdisziplin für die ganze Lektüre, für die ich leider keine gesteigerte Empfehlung aussprechen kann.

Ganz anders sieht das meine Büchergilde-Botschafterkollegin Kathrin alias la_chienne, die Doppeltes Spiel auf ihrem Instagram-Kanal sehr preist. Ihre Kritik findet sich unter folgendem Link:


  • Frank Martinus Arion – Doppeltes Spiel
  • Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
  • Büchergilde Gutenberg, Reihe Weltempfänger
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €

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Sara Mesa – Eine Liebe

Das Landleben, es wirkt nicht nur auf deutsche Autor*innen anziehend, auch in Spanien gibt es das Phänomens des Dorfromans. Das beweist Eine Liebe, der neue Roman von Sara Mesa. Darin schickt sie eine Übersetzerin in eine kleines Dorf im spanischen Nirgendwo und konfrontiert sie mit sehr speziellen Männern und Tieren.


Das Dorf, in das es die Erzählerin Nat verschlägt, trägt den sprechenden Namen La Escapa. Es handelt sich dabei um einen winzigen Weiler, der umgeben von einer kargen Landschaft im Schatten des Glauco, eines massiven Bergs, seine Existenz fristet. Dort in diesen winzigen Weiler zieht sich die Übersetzerin zurück, um an einer Übertragung aus dem Französischen zu arbeiten. Doch auch das Erlebte aus der jüngeren Vergangenheit hat einen entscheidenden Einfluss auf den aktuellen Rückzug.

Das Haus, welches sie bezieht, ist nicht anders als eine Bruchbude zu bezeichnen. Der Wasserhahn leckt, die Bohlen sind von der Feuchtigkeit verzogen, das Dach undicht, der Garten verwildert und kaum fruchtbar. Und dennoch knüpft der unverschämte Vermieter Nat viel Geld für die Baracke ab, das sie ihm eingeschüchtert von seiner Präsenz monatlich aushändigt. Immer wieder taucht er unverhofft auf, bedrängt Nat und fällt mit einem übergriffen Verhalten auf, die sie ihm verängstigt und unterwürfig durchgehen lässt.

Ein unverschämter Vermieter

Unversehens taucht der Vermieter bei ihr auf – sie hatte ihn vollkommen vergessen. Wie gewohnt starrt er ihr ungeniert auf die Brüste, lässt dabei keinen Zweifel an an seiner Überlegenheit und Unverschämtheit. Nat hat das Geld nicht parat. Normalerweise hebt sie an einem Automaten in Petacas so viel ab, wie sie gerade braucht, aber als sie das letzte Mal dort war, hat sie nicht dran gedacht. Sie entschuldigt sich. Sagt, sie habe viel zu tun gehabt. Und ihn nicht schon wieder erwartet. Die Zeit vergehe einfach unglaublich schnell. Er blickt sie von der Seite an, presst die Lippen aufeinander, bis sie fast nicht mehr zu sehen sind. (…)

Wenn sie ihm das Geld überweisen könnte -die normalste Sache der Welt-, würde das alles nicht passieren. Oder wenn er wenigstens Bescheid geben würde, bevor er auftaucht, statt sich wie aus heiterem Himmel mit den Rechnungen in der Hand vor ihr aufzubauen, als hätte sie nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag mit dem abgezählten Geld in einem Umschlag auf ihn zu warten. Diese Antworten kommen ihr aber erst im Nachhinein. Jetzt macht er es ihr durch sein Auftreten unmöglich, auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Seine immer schmaler werdenden Lippen. Der funkelnde Blick. Die großtuerisch vor der Brust verschränkten Arme.

Sara Mesa – Ein Liebe, S. 120

Beistand findet sie im alten Hippie Píter, der Nat seine Hilfe anträgt, aber auch durch eigenwilliges Verhalten und abrupte Stimmungswechsel überrascht. Mal drängt er ihr Hilfe auf, mal äußert er sich verächtlich über Nachbarn oder den Vermieter, dann sucht er wieder Nats Nähe. Ebenso widersprüchlich wie Píter ist auch das Verhalten von Sieso, einem wilden Hund, den Nat gerne zähmen möchte und ihn nachts in ihrem Garten anbindet.

Ein unmoralisches Angebot

Sara Mesa - Eine Liebe (Cover)

Auch mit diesem Tier ist die Interaktion schwierig, fasst der Hund doch kaum Zutrauen, sucht mal das Weite, dann wieder Nats Nähe. Und auch bei Andreas, dem von anderen „Der Deutsche“ geheißenen Mann ist dieses Verhalten beobachtbar. Er wird im Dorf gemieden und argwöhnisch beäugt. Píter verachtet den Mann und bezeichnet ihn aufgrund dessen nicht vorhandenen sozialen Kompetenzen einen Autisten.

Mit ihm beginnt Nat eine Affäre, die unter denkbar eigenwilligen Voraussetzung mit einem unmoralischen Angebot ihren Ausgang nimmt. Denn nachdem sich das Dach von Nats Unterkunft als bei Regen sehr durchlässig erweist, weigert sich der Vermieter in irgendeiner Form den Mangel zu beheben. Andreas bietet ihr seine Hilfe bei der Reparatur an. Seine Forderung: Sex gegen Arbeit. Ein Agreement, auf das sich Nat nach einigem Nachdenken einlässt und aus dem sich eine im Dorf argwöhnisch beäugte Affäre entwickelt. Und dennoch kommt Nat diesem rätselhaften und widersprüchlichen Mann nicht wirklich näher.

Ein Buch voller widersprüchlicher Figuren

Eine Liebe ist eine Buch, das von der Widersprüchlichkeit handelt. Das beginnt bei der Tat, die Nat zu ihrem Zuzug nach La Escapa bewogen hat, setzt sich in ihrem eigenen Verhalten gegenüber dem unverschämten Vermieter oder Andreas fort und ist jeder Figur in diesem Buch eingeschrieben. Sei es Mensch oder auch Tier, viele Figuren in diesem Buch fassen einem Moment Zutrauen, dann aber zeigen sie sich wieder abweisend oder aggressiv beißen – im übetragenen Sinn und wörtlich.

Auch ist der Stil dieses Romans bemerkenswert. Figuren und Prosa sind hier ebenso karg wie die unwirtliche Landschaft, die La Escapa umgibt. Wirkliche Liebe, ein dörfliches Miteinander oder Harmonie sind hier kaum zu entdecken und höchstens in Ansätzen vorhanden. Stattdessen lebt in La Escapa jeder für sich, verachtet die Nachbarn, ist unfreundlich und macht des dem Dorfneuling Nat nicht wirklich einfach, die zudem auch mit ihrer Übersetzung kämpft.

Wenn der Klappentext des Buchs bemerkt, dass Sara Mesa auf den Luxus von Details verzichtet, dann ist das mehr als zutreffend, auch wenn ich persönlich Details nie als erzählerischen als Luxus sehen würde. Aber die Kargheit ist diesem Buch auf jeder Seite eingeschrieben (ins Deutsche übertragen durch Peter Kultzen). Auch das erratische und widersprüchliche Verhalten der Figuren wird letzten Endes auch nicht durch die Psychologie der Figuren erklärt, sondern steht einfach unaufgelöst für sich. Alles in Sara Mesas Buch ist staubig, schmutzig und wenig wohnlich eingerichtet.

Fazit

Mit La Escapa entwirft Sara Mesa ein Dorf, in das man nicht wirklich gerne ziehen möchte. Sie schreibt einen Dorfroman, der durch seine Unbehaustheit und seinen schonungslosen Blick auf das gesellschaftliche Miteinander oder eher Gegeneinander im spanischen Hinterland besticht.

Mit Eine Liebe gelingt es Sara Mesa, die Schroffheit der Umgebung und das karge Leben dort in Prosa zu überführen. Sie zeigt widersprüchliche Figuren und deren schwieriges Miteinander und liefert so einen Dorfroman, der frei von Klischees oder romantischer Verblendung ist. Eine Liebe fällt eher das Genre des Anti-Dorfromans. Denn wer dieses Buch gelesen hat, der überlegt sich den Umzug in ein Dorf vom Schlage La Escapa im spanischen Hinterland sicherlich noch einmal gut.


  • Sara Mesa – Eine Liebe
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-8031-3351-9 (Wagenbach)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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Jennifer Clement – Auf der Zunge

Eine Frau durchstreift New York, begegnet ganz unterschiedlichen Männern und lässt ihre Gedanken schweifen. So knapp könnte man Auf der Zunge, das neue Werk der amerikanischen Schriftstellerin Jennifer Clement, zusammenfassen. Assoziative Prosa aus dem Big Apple.


Tatsächlich zählt Jennifer Clement zu den Autorinnen, denen es gelingt, sich mit jedem Buch neu zu erfinden. So trat sie erstmals auf dem deutschen Buchmarkt mit Gebete für die Vermissten in Erscheinung, dass sich mit dem Schicksal von jungen Mädchen in Mexiko auseinandersetzt. Immer wieder verschwinden dort insbesondere junge Frauen von der Bildfläche und tauchen später allenfalls als Leichen noch irgendwo auf. Ein schreckliches Schicksal, das im mexikanischen Drogenkrieg inzwischen schon zum traurigen Alltag geworden ist und das an vielen Stellen nur noch Schulterzucken auslöst.

Ebenso engagiert und unbequem zeigte sich Jennifer Clement auch in ihrem zweiten Buch, das deutsche Leser*innen entdecken konnten. In Gun Love erzählt die Autorin von einem Mutter-Tochter-Gespann in Florida, das zusammen in einem Ford Mercury lebt. Waffennarren, Prediger, sozial Randständige – hier zeichnet Clement ein ungeschöntes Bild eines Amerika, das wenig mit Hochglanzillusionen gemein hat.

Flanieren durch New York

Geographisch hat sich Jennifer Clement nun mit Auf der Zunge einmal mehr weiter nördlich begeben. Nach dem amerikanisch-mexikanischen Grenzland und Florida ist nun New York der Schauplatz, den die namenlose Protagonistin durchmisst. Die Frau wandert quer durch den Big Apple, von der 2nd Avenue bis zum Tompkins Square Park, vom Buchladen The Strand am Broadway bis zum Fitnesscenter Y auf der 14th Street, von Brooklyn bis Manhattan. Stetes Leitmotiv auf ihren ganzen Erkundungen sind dabei die Feuertreppen, die die namenlose Frau immer und immer wieder begegnen.

Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffsmanns.

Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.

An ihrem Körper klebt der Geruch vom Zug des Zugmanns und vom Feuer des Feuerwehrmanns.

Die Frau läuft und sieht hoch in einen Wald aus Feuertreppen. Die Metallleitern sind draußen an den Häusern montiert und führen vom Bürgersteig hoch, am Haus hoch, bis hoch zum Dach. Die schwarzroten Gerüste, die Stufen und waagrechten Podeste aus Stahlgittern, werfen Schatten an Mauern.

An einem der Absätze hängen drei Paar Jeans und ein Paar rote Socken über dem rostigen Geländer. Auf einem anderen stehen Blumentöpfe. Grün gefleckte schwarze Stöcke, die in ein paar Monaten Blätter und Blüten tragen, strecken in der Erde.

Das Geflecht aus stählernen Treppen umringt und überragt sie, und auch die Tauben, Amseln und Schwalben nisten und hocken im Schatten des Metalls.

Die Frau will die Leitern hoch in den Himmel klettern.

Unter den geriffelten Schatten der Feuertreppen führt ihr Weg sie auf und ab durch die Straßen der Insel.

Während sie das Kreuzundquer der bebuchstabten Avenues und nummerierten Straßen kreuzt, spricht sie mit Fremden. Unbekannte Hände berühren ihre Hände, berühren ihre Wange, berühren ihr Haar, und unbekannte Münder hauchen auf ihr Haar, ihre Wange, ihre Hände.

Jennifer Clement – Auf der Zunge, S. 9f.

Treue, jüdische Identität und Feuerleitern

So hebt der Roman mit dem Kapitel Die Frau an, der im Folgenden nur noch Kapitel wie Der Maler oder Der Polizist folgen, alles Männer, denen die Frau begegnen wird. Und obwohl der Roman mit seiner Hauptfigur eingeführt wird, bleibt diese mehr als blass, wird in ihren Konturen höchstens angedeutet. Einen Namen hat sie nicht, man erfährt, dass sie als Bibliothekarin arbeitet und mit einem Mann verheiratet ist. Recht viel mehr erklärt Jennifer Clement nicht, vielmehr gibt sie ihr indirekt über die Begegnung mit den Männern etwas mehr Kontur.

So kehren die Fragen der Treue, der eigenen (jüdischen) Identität und die Frage von Grenzziehungen immer wieder. Die Frau neigt zu erratischem Verhalten und auch die Begegnungen mit Ärzten, Kerzendreher oder Wissenschaftler sind mal verwirrend, mal erotisch aufgeladen, mal existenziell – und immer wieder blitzen en passant die metallenen Feuerleitern auf.

Durch die maximale Anonymisierung ihrer Protagonisten, die in hunderte Kürzestabsätze zerrupfte Prosa und die Enthebung in den freien interpretatorischen Raum gelingt Jennifer Clement ein Buch, das sich auf viele Arten deuten lässt. Auf der Zunge ist genauso ein poetisch verknappter Flaneusen-Roman wie ein hingetupftes New York-Porträt oder ein Reigen an Begegnungen von Mann und Frau (übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner).

Fazit

Die Stärke des Buchs liegt in meinen Augen nicht in der nur angedeuteten Rahmenhandlung, sondern in den vielgestaltigen Lesarten, die das Buch erlaubt. Jennifer Clements Buch ist keine wirklich leichte Lektüre, obschon der knappe Umfang von gerade einmal 144 Seiten zu diesem Gedanken verführen könnte. Auf der Zunge ist eher das literarische Äquivalent von Minimal Music, vielleicht auch ein Langgedicht – durchaus fordernd und anstrengend, da die Autorin nur zeigt und nichts erklärt. Final kann ich das Buch tatsächlich weder in ein Genre noch wirklich in eine klare Gütekategorie einordnen – all dem entzieht sich Clements Buch zu geschickt.

Aber auch das ist auch das Glück dieses Blogs hier – ich muss es auch nicht und darf mich mit der Benennung meiner assoziativen Gedanken begnügen, die das Buch in mir geweckt hat. Gespannt wäre ich auf alle Fälle auf andere Lektüreeindrücke oder Interpretationen – wie ordnet ihr das Buch ein, falls ihr es gelesen habt?


  • Jennifer Clement – Auf der Zunge
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
  • ISBN 978-3-518-42994-5 (Suhrkamp)
  • 143 Seiten. Preis: 20,00 €
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Naomi Alderman – Die Lektionen

Manche Bücher finden auf verschlungenen Wegen zu mir. So traf ich auf Naomi Aldermans Roman Die Gabe auf dem Grund einer Grabbelkiste. Für den Betrag von einem Euro konnte ich so der neue Besitzer des Buchs werden. Alderman sorgte im letzten Jahr mit ihrem Roman Die Gabe für Aufsehen. Das Buch fand sich auf Bestsellerlisten, wurde mit vielen Artikeln bedacht und gewann den Baileys Women’s Prize for Fiction. Nur ich habe dieses Werk bis heute nicht gelesen.

Dafür widmete ich mich nun The Lessons, so der Titel des Buchs im Original. Übersetzt wurde das Buch von Christiane Buchner und es spielt in einem Milieu, in dem sich Alderman auskennt: nämlich an der Universität von Oxford. Im Original erschien das Buch 2010, 2012 lag es dann in deutscher Übersetzung vor.

Der Schauplatz Oxford und die Gestaltung sowie der Klappentext des Buchs legen gleich den Verdacht nahe: bei Die Lektionen handelt es sich um einen Campusroman. Das ist nicht wirklich falsch, aber auch nicht ganz zutreffend. Denn Aldermans Roman spielt nur zur Hälfte in Oxford, die zweite Hälfte des Buchs beschäftigt sich mit den Freundschaften, die in Oxford entstanden, sich nun aber teilweise weit von der einstigen Alma Mater entfernt haben.

Nicht immer wie aus dem Bilderbuch: Studieren in Oxford

Im Mittelpunkt steht der Erzähler James Stieff, der von großen Hoffnungen seiner Familie begleitet nach Oxford kommt. Dort muss er allerdings schon recht schnell feststellen, dass es in Oxford nie genügt, gut zu sein. Es geht immer darum, besser als die anderen zu sein. Ein Mensch, der sich diesem Druck nicht beugen will und durch seine Unangepasstheit fasziniert, das ist Mark. Reich, sexy, ein bisschen geheimnisumwittert – da ist es kein Wunder, dass auch James in den Dunstkreis von Mark gerät.

Freundschaften in Oxford

Zusammen mit weiteren Freunden beschließen sie, ein altes Haus im Besitz von Marks Familie zu bewohnen und dort eine WG zu gründen. Chronologisch nach Trimestern geordnet erzählt Alderman in der Folge von den Unternehmungen und Schwierigkeiten der Clique. Der besondere Schwerpunkt liegt dabei klar auf der Freundschaft von Mark und James, die komplex und kompliziert ist. Begehren, Abstoßung und Anziehung über das Ende von Oxford hinaus: als Leser ist man eng in die Freundschaft der beiden Männer eingebunden, die in ihrem Fortschreiten dann sogar etwas an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben erinnert.

DER Campusroman oder DER große literarische Wurf ist Die Lektionen nicht. Dazu ist die Sprache etwas zu gewöhnlich und auch die Figurenzeichnung generell etwas zu oberflächlich. Lediglich James und Mark bekommen so etwas wie Widersprüche und Tiefe verpasst, die restlichen Figuren bleiben Abziehbilder, die Handlung versumpft stellenweise, manchmal wirkt alles etwas bemüht oder unglaubwürdig.

Dennoch unterhält Aldermans zweiter Roman wirklich und ist zumindest partiell ein schöner (queerer) Campusroman, der sich dem Mythos Oxford auf lesenswerte Art und Weise nähert.

Wer Campusromane á la Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead oder Donna Tartts Eine geheime Geschichte mochte, der könnte auch hier zugreifen. Allerdings muss man dann eher bei Antiquariaten oder Wühltischen die Augen offen halten, denn das Buch ist im normalen Buchhandel nicht mehr lieferbar und nur noch aus zweiter Hand zu beziehen.

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