Tag Archives: Mutterschaft

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

Eine Frau sitzt in ihrem Hotelzimmer und reflektiert über ihr Leben als Mutter, Übersetzerin und Ehefrau. Mit Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten legt die Schriftstellerin Slata Roschal eine wenig hoffnungsfroh stimmende Lektüre vor, die durch ihre pointierten Betrachtungen und Sentenzen überzeugt.


Im Februar 2022 erschien im fränkischen Indie-Verlag homunculus das Debüt von Slata Roschal. In 153 Formen des Nichtseins unternahm die Erzählerin eine identitätspluralistische Eigenerkundung, die auch die Jury des Deutschen Buchpreises überzeugte. Sie wählte den Roman vor zwei Jahren auf die Longlist des Preises.

Nun liegt zwei Jahre später der neue Roman von Slata Roschal vor. Der Verlag hat gewechselt, die Kreativität in Sachen Titelfindung ist geblieben Und auch inhaltlich gibt es einige Berührungspunkte mit der Introspektion in Roschals Debüt. Denn auch in Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten geht der Blick hauptsächlich nach innen und bringt die verschiedenen Facetten der Ich-Erzählerin zum Vorschein.

Selbsterkundungen einer Frau

Dies geschieht, während sich die Übersetzerin in ihrem Hotelzimmer in Berlin befindet. Schon lange ist sie nicht mehr ohne ihren Mann und die zwei kleinen Kinder Laura und Eliah verreist. Doch nun ist das Bedürfnis nach Abstand von ihrem Alltag als Mutter und Übersetzerin am Rande eines prekären Beschäftigungsverhältnisses zu übermächtig geworden, als dass sie es weiter hätte ignorieren können. Getrennt von ihrer Familie möchte sie ein Seminar besuchen und während ihres Aufenthalts einen Brief an die Familie verfassen.

Dieser Brief ist ein Stück weit auch das Gegenmodell zu den Briefen, mit denen sie sich während ihres Aufenthalts in Berlin beschäftigt. Denn wo die historischen Auswandererbriefe von dem Bedürfnis nach Weite, neuen Erfahrungen und der Sehnsucht nach der Familie zuhause erzählen, da geht es der Erzählerin deutlich anders.

Sie fühlt sich eingeengt durch ihre Rolle als Mutter, die ihr wenig sinnstiftend und vielmehr überfordernd vorkommt. Denn wo andere Mutterschaft als Erfüllung ihrer Bedürfnisse sehen, verhindert für die Übersetzerin ebenjene Mutterschaft ihre eigenen Bedürfnisse, sodass das einzige, das angesichts von Unmengen an Care-Arbeit bleibt, lackierte Fingernägel sind, wie sie an einer Stelle des Buchs bitter feststellt.

Regretting Motherhood?

Überhaupt, dieser Blick auf Mutterschaft, er ist wenig von Freude, vielmehr von einem Gefühl der Erschöpfung und Überforderung geprägt. Die Erzählerin selbst überlegt, ob sie sich schon dem Phänomen der Regretting Motherhood zurechnen kann und findet für den eigenen Seelenzustand drastische Bilder:

Fühle mich wie ein morscher Baum, wie ein gefällter Baum, irgendwo im Sumpf, der so gut wie nicht mehr existiert, von dem sich neue Wesen nähren, Pilze, Moose, lassen ihre Wurzeln in ihn treiben, ziehen seine Säfte in ihre eigenen Körper, er hat seinen Sinn darin, einzugehen für neue Leben und von ihm selbst bleibt irgendwann nichts übrig.

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

Es ist eine Lektüre, die die Übersetzerin selbst in die Nähe anderer weiblicher Wutausbrüche und Überforderungsanklagen stellt, indem sie beispielsweise im Text selbst auf ein im Rowohlt-Verlag erschienenes Buch anspielt, in dem sich eine Mutter eines Abends aus dem Fenster stürzt. Doch neben der so indirekt zitierten Mareike Fallwickl wären über die deutsche Sprachgrenze hinweg auch Rachel Yoder, Doireann Ní Ghríofa oder vor allem Sarah Moss als Bezugspunkte dieses Romans zu nennen.

Herkunft, Mutterschaft, Überforderung als Themen des Romans

Neben der Reflektion ihrer eigenen Mutterschaft und ihrem Dasein als Ehefrau, Mutter und Übersetzerin ist es auch die eigene Herkunft, sowohl in familiärer als auch soziologischer Hinsicht, die sie als Tochter von Ausländern, so die Selbstbezeichnung, beschäftigt. Das Gefühl von Fremdheit und die Veränderungen in Bezug auf die eigenen Eltern sind Themen, die in dieser traurig-wütend-resignativ-selbsterkundenden Suada verhandelt werden.

Mag dem Ganzen zum Ende hinweg auch etwas die Luft ausgehen, so ist Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten doch ein durchaus eine literarisch interessante, wild sprudelnde Erkenntnissuche in Form einer Selbsterkundung, bei der man in Sachen und Verve, Rhythmik und inhaltlicher Polyphonie genau das sagen kann, was die Erzählerin über den Aufruhr in ihrem Inneren konstatiert:

All die Geister, die mich bevölkern, wütend mit den Fäusten drohen, Strafen prophezeien, oder mitleidig, ironisch kommentieren, manchmal glaube ich, ich sei ein Rahmen, eine Hülle für die Stimmen, die es sich bequem machen in mir, von meinen Ängsten zehren, dämonische Bewohner, werde von innen ausgehöhlt, aufgefressen.

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

  • Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten
  • ISBN 978-3-546-10076-2 (Claassen)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rachel Yoder – Nightbitch

Zwischen Bücherbabys, künstlerischer Selbstverwirklichung und ungewöhnliche Erziehungsansätze. Rachel Yoder schreibt in Nightbitch über die Anforderungen an eine junge Mutter – und ihre Metamorphose zu einer Hündin.


Alles beginnt zunächst noch recht gewöhnlich mit ein paar Haaren. Diese finden sich allerdings an Stellen, an denen sie nicht hingehören. Zudem macht das Volumen ebenjener Haare der namenlosen Protagonistin in Rachel Yoders Roman Sorgen, denn so ganz normal scheint diese neue Haarpracht nicht zu sein:

Zugegebenermaßen wirkte sie haariger als sonst. Ihre widerspenstige Mähne stand ihr um Kopf und Schultern wie ein Wespenschwarm, die Brauen schoben sich in ungehemmten Wachstum über ihre Stirn wie Raupen. Am Kinn hatte sie sogar zwei schwarze Bosten entdeckt, und im entsprechenden Licht – ehrlich gesagt, in jedem Licht – schimmerte dort auf ihrer Oberlippe, wo die Haare nach der letzten Laserbehandlung nachwuchsen, ein Bartschatten. Waren ihre Unterarme immer schon so buschig gewesen? Hatte der Haaransatz immer schon bis an ihren Kiefer gereicht? Und waren dunkle Büschel auf den Zehen eigentlich normal?

Rachel Yoder – Nightbitch, S. 10

Von einer Mutter zur Hündin

Von ihrem Mann belächelt nimmt die nur als „Die Mutter“ bezeichnete Frau immer mehr Veränderungen an sich wahr. Die Zähne werden spitzer und länger, es wächst ihr plötzlich Fell – nur ihr Mann will es nicht wahrhaben. Er tut sämtliche Veränderungen ab und pflegt weiterhin seine Haltung der Ignoranz, die er gegenüber seiner Frau und ihrer Rolle als Mutter an den Tag einnimmt.

Rachel Yoder - Nightbitch (Cover)

Obwohl er zusammen mit der Protagonistin einen jungen Sohn hat, glänzt er tagelang mit Abwesenheit und überlässt sämtliche Erziehungsaufgaben und Care-Arbeit seiner Frau. Verständnis für seine Partnerin gibt es bei ihm nicht, weder für ihre Erschöpfung noch für die Schwierigkeiten, die das Hineinfinden in die neue Rolle als Mutter bedeutet.

Derweil droht die junge Mutter zunehmend an ihrer neuen Rolle als Mutter zu verzweifeln. Eine Karriere als Künstlerin hat sie trotz vielversprechender Ansätze aufgegeben, stattdessen bestimmen nun Muttermilch und eintönige Tage zuhause das Leben der jungen Frau. Durch Zufall besucht sie in der lokalen Stadtbücherei die Gruppe der Bücherbabys – mit den anderen Müttern dort aber fremdelt die Künstlerin sehr. Sie sucht sich einen anderen Weg aus der neuen Isolation, die das Dasein als Mutter für sie bedeutet. Nightbitch heißt ihr Alter Ego, das sie sich erschafft – und das sich bald auf haarige Weise verselbstständigt.

Mein hündisches Herz

Ähnlich wie bei einem Werwolf wird auch in der Mutter der animalische Trieb immer stärker. So übt das rot glänzende Fleisch in der Kühltheke plötzlich einen immer stärker werdenden Reiz auf die junge Frau aus. Gierig schleppt sie es kiloweise nach Hause. Vor der Haustür tauchen nächtens Hunde aus der Nachbarschaft auf. Sie selbst verwandelt sich auch in Tier, reißt plötzlich Kaninchen und übt mit ihrem Sohn den Gang auf allen vieren und lässt diesen dann schon mal in einer Hundehütte übernachten.

Nightbitch erzählt von der Verwandlung in eine Hündin und vom Animalischen, das wir in unserem Alltag zu unterdrücken versuchen. Rachel Yoder erzählt plakativ, manchmal geradezu grell, von überforderten Müttern, Selbsthilfekursen und diesem unersättlichen Verlangen nach Fleisch und Tod. Das klingt in seiner theoretischen Anlage zunächst reichlich plump, entwickelt dann aber einen Sog, der auch viele Einsichten über Mutterschaft und Überforderung beschert.

Fazit

Mit Nightbitch sortiert sich die Autorin irgendwo zwischen Sarah MossSchlaflos, Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Doireann Ní Ghríofas Ein Geist in der Kehle ein. Yoder gelingt ein Roman, der von den Schwierigkeiten erzählt, die es bedeutet, Mutter zu werden und seine eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Partnerschaftliches Unverständnis, überhandnehmende Anforderungen und die Potentiale, die plötzlich in einer tierischen Metamorphose lauern.

Das beleuchtet ihr Buch auf unterhaltsame Art und Weise, das sich von der Komik bis zum Horror unterschiedlichster Stilelemente bedient, die Yoder tatsächlich zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführt.


  • Rachel Yoder – Nightbitch
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-608-98687-7 (Klett-Cotta)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Mutterschaft und Lyrik, Selbsterkundung und Biografiearbeit, Stillen und Übersetzungsarbeit- all das bringt die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa in ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle zusammen und erschafft das Doppelporträt zweier außergewöhnlicher Frauen.


Die Lesart ihres Textes schreibt Doireann Ní Ghríofa ihren Lesenden dabei unmissverständlich vor und wiederholt es im ganzen Text von Ein Geist in der Kehle fast mantraartig: Dies ist ein weiblicher Text. So ist das erste Kapitel überschrieben, so hebt der Text gleich zweimal zu Beginn an und mit diesen Worten beschließt Ghríofas ihr Buch.

Dies ist ein weiblicher Text, erdacht beim Falten der Kleidung anderer. Ich trage ihn bei mir im Geist und er wächst, allmählich und sacht, während meine Hände Tausende Pflichten verrichten.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Doch was macht einen Text über die bloße Zuschreibung hinaus zu einem weiblichen Text? Hier sind es zuallererst die Themen und Figuren, deren Weiblichkeit in unterschiedlichen Facetten erkundet wird. Die eine Figur ist die Ich-Erzählerin, die sich mithilfe des Mittels der Autofiktion deckungsgleich mit der Autorin Doireann Ní Ghríofa präsentiert. Sie erzählt von ihrem Alltag als Mutter, der Care-Arbeit und ihrer steten Tätigkeit für eine Muttermilch-Bank, für die sie sich selbst Muttermilch aus ihrer Brust abpumpt. Über zehn Jahre hinweg hat sie Kinder geboren und versorgt. Das vierte Kind droht nun zu einer Risikoschwangerschaft zu werden. Kaiserschnitt und Kinder-Intensivstation folgen, ehe das Familienleben wieder in ruhigere Bahnen findet.

Muttermilch und Lyrik

In dieser Zeit wird die irische Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill zum Bezugspunkt und Rettungsanker für die Erzählerin. Sie verfasste einst das 36 Strophen umfassende Lamento caoineadh airt uí laoghaire, welche als bestes Gedicht des 18. Jahrhunderts aus Irland respektive Großbritannien gilt. Flucht und Vertreibung, die Ermordung des eigenen Gatten und die Selbstbehauptung sind Themen im Leben dieser Dichterin, der die Erzählerin durch das von ihr selbst unwissenschaftlich erklärte Mittel der Tagträume immer näherkommt.

Ich beginne mit einem unwissenschaftlichen Mischmasch aus Tagträumen und Tatsachen, zusammengerührt, während ich Porridgepampe in einen Mülleimer schabe, Schulranzen und Mäntel zusammensammle, Kinder ins Auto drängle, mir an der Ampel Flüche verkneife, drei Jungen Abschiedsküsse gebe und wieder nach Hause fahre. Die ganze Zeit über habe ich ein Auge auf Eibhlín Dubh und eines auf meiner Tochter in ihrem Kindersitz.

Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle, S. 11

Die Dichterin und ihr wechselvolles Leben löst in der Erzählerin fast so etwas wie eine Obsession aus. Sie versucht sich an einer eigenen Übertragung der Verse Eibhlín Dubhs, beginnt zu forschen und sichtet Archive, um den Lebensspuren der Dichterin nachzugehen. Dabei kommt es zu einer reizvollen Überblendung der Leben, die sich doch mehr ähneln, als es auf einen ersten Blick hin den Anschein haben mag.

Tagträumend der Dichterin nahekommen

Doireann Ní Ghríofa - Ein Geist in der Kehle (Cover)

Dabei versenkt sich die Erzählerin ganz tief in den anstrengenden Alltag, der Mutterschaft bedeutet. Schlaflose Nächte, wenig eigene Zeit, dabei aber der stete Wunsch nach weiteren Kinder und die genaue Beobachtung des eigenen Körpers. So beschreibt Doireann Ní Ghríofa detailliert die Gewinnung von Muttermilch, ihre schwankende Milchproduktion der Brüste oder die Sterilisation ihres Mannes. Für sich genommen ist das nicht sonderlich kunstvoll oder literarisch überzeugend (außer man sieht Ghríofa in diesen Parts in der Tradition des Naturalismus).

Das Ganze gewinnt aber durch die Überblendung mit dem Leben Eibhlín Dubhs an Qualität. Auch diese erfährt Verluste, sieht ihre Kinder aufwachsen und legt all ihre Empfindungen in ihr Langgedicht – zumindest in der Imagination der Erzählerin, wodurch die Parallelmontage dieser so unterschiedlichen wie auch gleichen Frauen ein Vergleich von Mutterschaft über die Grenzen der Jahrhunderte ermöglicht wird.

So wird aus dem Text tatsächlich das, was uns Doireann Ní Ghríofa immer wieder einbimst – ein weiblicher Text, der in der Tradition von Sarah MossSchlaflos steht. Sie beschreibt schonungslos Mutterschaft, findet aber auch Raum für die Rettung aus der nicht sonderlich intellektuellen Anforderung durch geistige Arbeit, die hier aus der Einfühlung in Eibhlín Dubh besteht.

Im Spannungsfeld zwischen Lyrik und Autofiktion

Ein Geist in der Kehle bewegt sich im Spannungsfeld der irischen und englischen Sprache, zwischen Lyrik und Autofiktion, historischer Rekonstruktion und Mutterschaftsschilderung. Dementsprechend ist es auch nur konsequent, dass der btb-Verlag zwei Übersetzer gefunden hat. Cornelius Reiber übertrug die Prosa-Passagen, während der Musiker und Lyriker Jens Friebe für die den Kapiteln vorangestellten irischen und englischen Verse eine deutsche Entsprechung fand. Zudem übertrug Friebe das gesamte, im Anfang befindliche Gedicht caoineadh airt uí laoghaire beziehungsweise the keen for art ó laoghaire, das vor Doireann Ní Ghríofas deutschem Debüt sicherlich nur Eingeweihten der Lyrik Irlands ein Begriff gewesen sein dürfte.

So erschafft sich Doireann Ní Ghríofa mit ihrem Prosadebüt Ein Geist in der Kehle eine ganz eigene Nische. Klugerweise hat der herausgebende btb-Verlag auf eine Gattungsbezeichnung verzeichnet, denn das was Ní Ghríofa im Inneren ihres Werkes bietet ist zu disparat und zu eigenständig, um sich auf eine Bezeichnung wie Roman verengen zu lassen. Ein außergewöhnliches Buch über Mutterschaft und Lyrik!


  • Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle
  • Aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe
  • ISBN 978-3-442-76231-6 (btb)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Sarah Moss – Schlaflos

Insomnia – dieser Klassiker der Band Faithless könnte auch für Anna, die Heldin von Sarah Moss‚ Roman Schlaflos, das Lied der Wahl sein. Denn ähnlich wie es Maxi Jazz, der im vergangenen Jahr verstorbene Frontsänger der Band Faithless, in deren bekanntesten Song beklagt, fehlt auch Anna der Schlaf. Ihr Leben gleicht dem einer Insomnie-Patientin, aufgerieben zwischen der Mutterrolle und akademischen Ambitionen. Und dann sind da noch diese Knochenfunde im eigenen Garten…


Eigentlich sollte man meinen, dass der Lebensmittelpunkt von Anna und ihrer Familie qua Lage fast wie von selbst für Entspannung und Konzentration sorgt. Denn zusammen mit ihren Kindern Timothy und Raphael sowie ihrem Mann Giles lebt Anna auf Colsay, einer kleinen Insel auf den Hebriden vor der Küste Schottlands.

Es ist eine raue Insel mit kärglicher Natur, auf der die Familie im Haus von Giles‘ Vorfahren, den Cassinghams, ihren gegenwärtigen Wohnsitz bezogen hat. Ein paar verlassene Hütten, Steilklippen und ein Ferienhaus, das die Familie aktuell renoviert, um darin bald Gäste begrüßen zu können. Mehr gibt es auf der Insel nicht zu sehen, in deren Geschichte wir zusammen mit Anna im Lauf des knapp 500 Seiten starken Romans eintauchen.

Ein Fund im Garten

Auslöser für die vertiefte Beschäftigung mit der Insel und der Familie ihres Ehemanns sind Arbeiten im anzulegenden Garten der Familie. Eigentlich wollte Anna zusammen mit den Kindern Obstbäume pflanzen, doch ein Spatenstich ihres Sohnes Raph fördert etwas ganz andere zutage.

Er stand auf. „Das ist kein Kaninchen, Mami. Es gibt hier keine, weißt du nicht mehr? Hat Papa gesagt. Und keine Mäuse.“

„Könnte auch ein Dachs sein. Oder vielleicht hatte hier mal jemand eine Katze. Papa wird es wissen. Hol ihn einfach, ja?

Er sah sich nach mir um, als er über die Wiese lief. Ich wartete, bis die Hintertür zu war, und wischte dann mit den Fingern die Erde von der Decke. Sie war aus Wolle, gestrickt, mit braunen Flecken. Ich kratzte am Erdreich, oberhalb von Raphaels Spatenstich, und dort, wo ich es erwartet hatte, war die eierschalenfarbene Rundung eines sehr kleinen menschlichen Schädels.

Sarah Moss – Schlaflos, S. 71

Der Fund von Babyknochen im Garten ändert alles. Denn nach der Entdeckung alarmieren Giles und Anna die lokalen Behörden der Highlands und Islands-Polizei, für die allerdings Anna als die unmittelbare Tatverdächtige festzustehen scheint. Ihre stellenweise Überforderung im Umgang mit den Kindern, das einsame Leben dort auf Colsay, all das spricht in den Augen der auftretenden Polizisten gegen Anna, die mit regelmäßigen Besuchen auf der Insel den geregelten Takt dort durcheinanderbringen.

Schlaflos in Colsay

Dabei ist verträgt das Leben von Anna überhaupt keine weitere Unruhe. Denn der Plan hinter dem Umzug auf die Hebrideninsel war eigentlich die Finalisierung von Annas geplanter Publikation über den historischen Widerspruch zwischen der Feier der Kinder und der Kindheit sowie der zeitgleichen Zunahme von Waisenhäusern und Gefängnissen. Die Arbeiten im Archiv sind abgeschlossen und nun sollte eigentlich die Schreibarbeit und der Feinschliff ihrer These im Vordergrund stehen.

Sarah Moss - Schlaflos (Cover)

Doch damit ist es nicht weit her, denn statt Arbeit an der eigenen Karriere, droht Anna an ihrer Rolle als Mutter zu verzweifeln. Ihr Mann ist so gut wie absent im Zuhause, stattdessen konzentriert er sich auf seine wissenschaftliche Arbeit, nämlich die Beobachtung der auf der Insel brütenden Papageientaucher. Während sich Raphael mit Vorliebe in apokalyptischer Themen wie den Untergang von Zivilisationen und dem Ende der Menschheit stürzt und die Nerven seiner Mutter mit technischen Fragen und Utopien strapaziert, ist es der jüngere Moth, der den strapazierten Geduldsfaden dann ein ums andere Mal zum Reißen bringt.

Denn das betreuungsintensive Kind braucht ständig Aufmerksamkeit, kann nachts nicht schlafen und verlangt ständig nach der Rezitation des Grüffelo, was in der enervierenden Absehbarkeit der allumfassenden Bedürfnisse ihres Kindes Anna an den Rand der Verzweiflung bringen – und oftmals sogar weit darüber hinaus, mit entsprechenden Konsequenzen.

Liebe ist nicht genug, wenn es um Kinder geht. So einfach ist das wohl.

Sara Moss – Schlaflos, S. 171

Überforderungen einer Mutter

Schlaflos ist ein Buch, das von der Überforderung als Mutter handelt und beispielsweise wie auch Elena Ferrantes Frau im Dunkeln der negativen Seite der Mutterschaft – beziehungsweise aufs Schlagwort verkürzt dem Thema Regretting Motherhood literarischen Raum gibt.

Das beständige Einfordern von Nähe durch das jüngere Kind, die schon fast autistische Konzentration des Älteren auf die Endlichkeit der eigenen Existenz, noch dazu die mangelnde Unterstützung ihres Mannes, dessen Mithilfe im Haushalt und der Betreuung der eigenen Kinder sie energisch einfordern oder gegen Sex ertauschen muss. Und über allem liegt die Hoffnung auf erholsamen Schlaf, der aber nur eine Wunschvorstellung bleiben wird.

All das schildert Sarah Moss ungeschönt und ehrlich durch die Augen ihrer Ich-Erzählerin Anna, die aber trotz aller Überforderung auch immer noch zu Ironie in der Lage ist, etwa wenn sie bei der Konzeption ihres Buchs trocken feststellt, dass sie in der Danksagung auch ihrem Mann Giles danken muss, auch wenn sie noch nicht weiß, wofür eigentlich.

Diese Kämpfe an verschiedenen Fronten werden durch den Schauplatz der menschenleeren Insel noch einmal verstärkt. Und wenn dann einmal weitere Figuren dort auf Colsay auftauchen, dann sind es in der ersten Hälfte des Romans doch nur Männer, die Anna erzählen, was sie in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder falschmacht.

Historische Parallelen

Sarah Moss ergänzt diese Erzählung um Briefe, die immer wieder die Handlung in der Gegenwart unterbrechen. In diesen Briefen schreibt eine May Moberley über ihre Zeit auf der Insel Colsay in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert, die sich mit dem Voranschreiten des Romans langsam zu einem Handlungsbogen verdrehen. Denn die Themen der Kindersterblichkeit und Vernachlässigung sind nicht nur theoretische Themen, mit denen sich Anna in ihrer Zeit in Oxford beschäftigte, ehe die Familiengründung sämtliche akademische Ambitionen in weite Ferne rücken ließ. Auch ganz praktisch vor Ort ist dieses Thema mit ihr und der Familie ihres Mann verknüpft, wovon Sarah Moss durchaus kunstvoll erzählt.

Das ist schlüssig konzipiert und erzählt – und wirft über die erzählte Gegenwart hinaus einen Blick auf überforderte Mütter, die Umstände ihrer Überforderung und das Schicksal, das sich nicht nur in englischen Kinderheimen á la Dickens sondern eben auch in abgelegenen Orten wie den Hebriden oder Färöern dutzendfach abspielte.

Ihr gelingt es in Schlaflos, das Wirken eines Kontinuums zu beschreiben, das Frauen die Emanzipation ihrer vorgesehenen Rolle in Gesellschaft oder wissenschaftlichem Betrieb erschwert und das auch Gleichberechtigung als Utopie ausweist, um die man zwar kämpfen kann, die aber weder im 19. noch im 21. Jahrhundert Realität ist – zumindest für die Frauen in diesem Roman.

Dass das Buch darüber nicht einfach bitter und niederschmetternd wird, sondern durchaus auch so etwas wie Ironie und gekonnten Fatalismus aufblitzen lässt, das zählt zu den Qualitäten dieses von Nicole Seifert ins Deutsche übertragenen Textes und den Qualitäten seiner Autorin, der ein ehrliches Buch über die Seiten der Mutterschaft gelingt, über die man sonst eher wenig liest.


  • Sarah Moss – Schlaflos
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-293-20927-5 (Unionsverlag)
  • 496 Seiten. Preis: 15,00 €
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Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Wo ist die Literatur, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt? Das fragte sich Bernd Ulrich im vergangenen Jahr und beklagte im Feuilleton der Zeit, dass uns die Literatur in Zeiten der ökologischen Krise alleine lasse. Dass diese Klage ziemlicher Unfug ist, zeigt ja schon die Fülle an Büchern, die den Klimawandel und dessen Folgen für unser Zusammenleben thematisieren.

Das reicht von „gehobener“ Literatur wie etwa Roman Ehrlichs Malé, Jonathan Franzens Freiheit oder John von Düffels Der brennende See über das Gebiet der Lyrik (hier wäre beispielsweise Marion Poschmann eine Autorin, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt) bis hin zur Genreliteratur. Egal ob Wolf Harlanders 42 Grad, Uwe Laubs Dürre oder Dirk Rossmann mit seinen Oktopus-Thrillern – Literatur, in der der Klimawandel und seine Folgen präsent sind, gibt es en masse – und massentauglich ist sie noch dazu.


Das Feld der Klimawandel-Literatur ist ein weites, das qualitativ und in Sachen Anspruch viele unterschiedliche Schattierungen aufweist. Neben den eingangs genannten Namen gibte s ja auch noch viele weitere Titel, die auf breites Interesse stoßen und vielfach rezipiert werden. Maja Lunde wäre hier ein Name, die mit ihrem Klimaquartett zeigt, dass sich ökonomischer Erfolg und ökologischer Anspruch in der Themenwahl überhaupt nicht ausschließen, sondern breit nachgefragt werden. Der erste Teil ihres Klimaquartetts Die Geschichte der Bienen war schließlich das meistverkaufte Buch des Jahres 2017, das geschickt Unterhaltung mit einer Botschaft verband.

Auch die 1988 geborene Autorin Charlotte McConaghy ist eine Autorin, die die These von der Ignoranz des Klimawandels durch die Literatur erheblich zum Wanken bringt. Ihr Debüt Zugvögel war vor zwei Jahren ein großer Überraschungshit, der nicht nur hierzulande viele Leser*innen begeisterte, sondern auch in vielen anderen Ländern große Erfolge erzielte und in den Bestsellercharts weit nach oben kletterte.

Wölfe in Schottland

Nun ist sie zurück und legt mit Wo die Wölfe sind ihren zweiten Roman vor. Spielte ihr Debüt in einer nahen dystopischen Zukunft, in der die Vögel nahezu vollkommen verschwunden war, ist ihr neues Setting deutlich konkreter in der Gegenwart verhaftet, genauer gesagt in den unwegsamen Highlands von Schottland.

Charlotte McConaghy - Wo die Wölfe sind (Cover)

Dort lebten einst die Wölfe, wie der Originaltitel im Präteritum erklärt. Dass aus dieser Vergangenheit wieder ein gegenwärtiger Zustand wird, wie ihn der deutsche Titel andeutet, dafür will Inti Flynn sorgen. Sie ist wie ähnlich wie Charlotte McConaghys Debütheldin Franny Stone eine kantige und sozial nicht immer ganz trittfeste Frau, die sich mit Leib und Leben dem Schutz der bedrohten Tierarten verschrieben hat.

Für ein Umweltschutzprojekt wollen Inti und ihre Mitstreiter Wolfsrudel in den Highlands ansiedeln. Ein Projekt, das auf den Erfahrungen aus einem Projekt im Yellowstone-Nationalpark basiert. Dort wurden Wolfsrudel freigelassen, die für eine Renaturierung der ganzen Umgebung sorgten, dezimierten sie doch die Wildherden, was wiederum für gesunde Herdengrößen und weniger Verbiss im Park sorgte, was schließlich Flora und Fauna merklich guttat.

Eine widerständige Heldin

So soll es jetzt auch im schottischen Hinterland laufen, wie sich die Projektverantwortlichen ausgerechnet haben. Gegen den Widerstand der lokalen Bevölkerung, die um ihre Schafherden und die eigene Sicherheit fürchtet, lassen Inti und ihre Mitstreiter die Wölfe unter permanentem Monitoring frei.

Während sich die Wölfe nun in der kargen Umgebung zurechtfinden, ihr neues Leben beginnen und in den Rudeln die sozialen Ordnungen festlegen, brodelt die Stimmung im Dorf, insbesondere, als es zu den ersten toten Tieren und einem gelynchten Wolf kommt. Nicht einfacher wird die Lage durch Intis Affäre mit dem lokalen Polizeichef und die Tatsache, dass sie einen toten Farmer verscharrt hat, der zu Gewalt neigte und dessen Leiche Spuren von Wölfen aufweist. Würde dieser Umstand publik, wäre das Projekt vorzeitig gescheitert, weshalb Inti schroff und abweisend alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um am Projekt festhalten zu können.

Nature Writing und Krimi

In der Folge wechselt Charlotte McConaghys Roman zwischen Nature Writing und Krimiermittlungen, während in Inti ihr Kind heranwächst und die Dorfbevölkerung zunehmend aggresiv gegen die Biolog*innen und Forscher*innen rebelliert. Auch die Fragilität unseres Ökosystems und der Kampf um dessen Bewahrung sind Themen, die sich durch Wo die Wölfe sind ziehen.

Dabei gelingt McConaghy einmal mehr ein fesselndes Buch, das die mit seinen Schilderungen des Soziallebens der Wölfe ebenso überzeugt wie mit Rätselraten über die Hintergründe des Todes des Farmers. Inty ist eine widerborstige und doch sympathische Heldin, die im Zusammenleben mit anderen Menschen zu wenig Diplomatie und viel Vehemenz neigt, wenn es um ihr Anliegen der Wiederansiedelung der Wölfe geht.

Zudem katapultiert sich die Autorin mit dem Beginn ihres Buchs auf einen der ausichtsreichsten Plätze, was den besten ersten Satz des Jahres angeht:

Wir waren acht Jahre alt, da schnitt mein Vater mich auf, von der Kehle bis zum Bauch.

Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind, S. 9

Fazit

Zwischen krimitypischen Ermittlungen, Familiengeheimnissen, Wolfsrudeln und unwegsamer Natur sortiert sich dieses Buch ein, das abermals ein echter Pageturner ist, der die Fragen des Klimawandels und Möglichkeiten, diesem entgegenzuwirken, ebenso mitreißend wie engagiert verhandelt. Mit Wo die Wölfe sind beweist Charlotte McConaghy, das sich Anspruch, Massenkompatibiltät und solides Erzählhandwerk nicht ausschließen müssen und straft alle Debatten um mangelnde Repräsentation des Ökologischen und des Klimawandels in der Literatur Lügen. Da verzeiht man ihr sogar den einen Kitschausrutscher ganz am Ende des Romans.

Weitere Meinungen zu Wo die Wölfe sind gibt es unter anderem bei Constanze Matthes und Eulenmatz.


  • Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397100-2 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 22,00 €
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