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Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei

Die Wühlmaus ermittelt. Yonatan Sagiv schickt mit Der letzte Schrei einen neuen Ermittler mit nicht ganz klarer geschlechtlicher Identität und einem Gespür für Fährten, Flirts und Fettnäpfchen auf die Straßen Israels. Auf der Suche nach einem vielversprechenden Teenagerstar blickt er in verschiedene Milieus und lernt die Schattenseiten des Popbusiness kennen.


Prince Connan ist tot. Die größte Gelegenheit meines Lebens rinnt mir durch die Finger, mein Vater betrügt nach siebenundvierzig Ehejahren meine Mutter, überall im Land brennt es, als müsste sich das Erdreich in einem fort erbrechen. Und ich bin hier auf dieser sklerosen Party mit einem Haufen Provinznudeln, die darauf bestehen, Fashion zu sagen statt Mode, und bete wie die allerletzte Miserable, ein Prinz mit flachen Witzen möge kommen und mich aus diesem Elend erretten, in das er mich selbst geworfen hat.

Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei, S. 205

Ja, es sind wirklich einige Fronten, an denen Oded Chefer gefordert ist. Die Wühlmaus lebt gerade in der Wohnung eines Freundes, hat sein eigentliches Apartment untervermietet. Für den PR-Spindoctor Binyamin Direktor soll er dem Verschwinden eines Mädchens klären, das im Begriff steht, der neue Star Israels zu werden. Privat ist sein Familienleben auch recht turbulent – und zudem lässt er sich von Männern sehr schnell den Kopf verdrehen. Eine Tatsache, die seiner Objektivität in Sachen Ermittlungen der verschwundenen Teenagerin nicht unbedingt zuträglich ist.

Und so ermittelt sich Oded mal erfolgreicher, mal reichlich unelegant und tappend durch die Welt der Teenagerin und trifft neben all den Ablenkungen auch durchaus auf Spuren, die ihn auf die Fährte ermordeter Transsexueller, viel falschem Schein und vielversprechender Dates bringen.

Ein Krimi mit LGBTIQA+-Hintergrund

Yonatan Sagiv - Der letzte Schrei (Cover)

Immer wieder wird aus verschiedenen Richtungen die Forderung vorgebracht, die Literatur solle diverser werden und die Pluralität der unterschiedlichsten Lebensformen in den Blick nehmen. Der letzte Schrei trägt diesen Forderungen Rechnung und zeigt ein Israel, das so ganz anders ist als das Bild des religiös geprägten Lands, das in unserem Denken noch vorherrscht. Transsexuelle, Diskussionen über gendergerechte Sprache, die Vielfalt von LGBTIQA+-Leben und dessen Repräsentation in der Öffentlichkeit, all das bildet dieser Krimi ab, was Verfechter*innen konservativer Geschlechterlehre verschrecken dürfte.

So referiert ein Charakter über die Fülle der Identitäten und wirft Oded Dinosaurier-Cisgenderbewusstsein vor, da er die Fülle an agender, non-binären, genderfluiden, queeren, bigender, pangender oder non-conforming-Identitäten ignorieren würde (S. 82).

Was in seiner ganzen Theoriehaftigkeit und dem Demühen um Diversität in literarischen Texten schnell dröge oder überfordernd werden kann, wird von Yonatan Sagiv durchaus unterhaltsam und ironisch in seinen Krimi eingebracht und eingebunden.

Zu den spannendsten Aspekten dieses Buchs gehört auch die geschlechtliche Identität ihrer Hauptfigur Oded Chefer. In seinen Zuschreibungen lässt sich die Wühlmaus nicht ganz eindeutig festlegen und entzieht sich mit seinem Verhalten und seinen Schilderungen einer eindeutigen Zuordnung.

Mein Herz fängt heftig an zu schlagen. Jetzt bin ich geliefert. Jetzt hat er mich. Jetzt werde ich die ganze Wahrheit gestehen müssen. Unmöglich, dass, wenn er meine Angaben noch einmal durchgeht, dieser Polizeioffizier nicht über den Namen stolpert. Oded Chefer – der bekannte und gefeierte Privatdetektiv, der die beiden Mordfälle gelöst hat, die in den letzten zwei Jahren das ganze Land in Atem gehalten hatten. Die brillante Ermittlerin, die Schulter an Schulter mit Oberinspektor Yaron Malka dafür kämpft, die die Kriminalität einzudämmen, die auf den Straßen unseres Landes tobt. Und nicht zuletzt die Spürnase de jour der Reichen und Prominenten. Der Mann und der der Mythos. Die Frau und das Mysterium.

Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei, S. 157

Geschlechtliche Ambiguität im Krimi

Diese Ambiguität zählt zu den interessantesten Aspekten des Buchs und entwickelt den Gedanken fort, den so schon etwa Tom Hillenbrand in Qube oder Stuart Turton in Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle mit ihren Krimis präsentieren, in denen sie geschlechtlich vielfältige Erzähler*innen wählten und ermitteln ließen. Der entscheide Unterschied ist, dass in diesen Titeln ein Erzähler in mehrere Figuren und Körper schlüpfte, ohne selbst die geschlechtliche Vielfalt mitzubringen, sondern diese nur für einen bestimmten Zeitraum anzunehmen und zu erfahren. Hier geht Yonatan Sagiv nun weiter und vereint das Weibliche und Männliche mit schwankenden Ausprägungen in der Figur des Oded Chefer.

Generell ist festzustellen, dass sich der zeitgenössische Krimi auch hier in Deutschland langsam öffnet und auch Figuren jenseits des binären Denkens zeigt, so auch jüngst der Suhrkamp-Verlag mit Candas Jane Dorseys Drag Cop, der eine ambisexuelle Ermittlerfigur in den Mittelpunkt stellt.

Diesbezüglich ist Der letzte Schrei wirklich modern und innovativ. Ansonsten bietet Yonatan Sagivs Krimi eher konventionelle Genreunterhaltung, die über die übliche Variation der Ermittlungstropen und Erzählansätze nicht hinauskommt. Oded Chefer sammelt Spuren, entdeckt die Hintergründe des Verbrechens, ermittelt in Zusammenarbeit mit der Polizei den Täter und überstellt diesen anschließend der Justiz. Das ist nicht schlecht, aber eben auch nicht viel mehr als Krimiunterhaltung von der Stange – eben aber mit einem ungewöhnlichen Protagonisten. Und mit Israel besitzt dieser Krimi einen Handlungsort, der abseits der populären Krimis von Dror Mishani gegenwärtig auch nicht allzu häufig vertreten ist.

Fazit

Der Verlage Kein & Aber weist mit Ayelet Gundar-Goshen, Yishai Sarid oder Noa Yedlin ja ein eh schon spannendes Literaturprogramm aus dem israelisch-palästinensischen Kulturraum auf. Zu diese Stimmen gesellt sich nun auch Yonatan Sagiv, der einen zwar recht konventionellen Krimi vorlegt, dafür aber mit einem originellen Ermittler überzeugen kann, dem man noch weitere Einsätze gönnt.


  • Yonatan Sagiv – Der letzte Schrei
  • Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
  • ISBN 978-3-0369-5865-1 (Kein & Aber)
  • 400 Seiten. Preis: 25,00 €
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Adania Shibli – Eine Nebensache

Nein, eine Nebensache ist es wirklich nicht, die Adania Shibli schildert, auch wenn sie das für manche Figuren in Shiblis Buch sein mag. Die 1974 in Palästina geborene Autorin erzählt in Eine Nebensache von dem Missbrauch und Mord an einem Mädchen in der Wüste Negev im Jahr 1949 und von einer Frau, die sich 25 Jahre später auf die Spuren des ermordeten Mädchens begibt.


Die einzige Bewegung war das Flirren einer Fata Morgana. Kahle, weite Flächen schichteten sich bis an den Rand des Himmels und zitterten in der Luftspiegelung, während das glühende Licht der der Nachmittagssonne die Silhouette sandiger blassgelber Hügel fast verwischte. Die Erhebungen waren kaum zu unterscheiden und schlängelten ziellos aneinander vorbei, ab und an durchbrochen von den dünnen Schatten trockener Distelstauden und von Steinen, die wie Tüpfel über die Hänge verteilt lagen. Mehr war da nicht. Die Ödnis der Negev-Wüste erstreckte sich endlos unter der Last der Augusthitze.

Adania Shibli – Eine Nebensache, S. 5

So stellt sich die Wüste dar, in der eine Militäreinheit im August 1949 ihr Camp errichtet hat. Sie halten Manöver ab und patrouillieren im israelischen Grenzgebiet. Das Waffenstillstandsabkommen mit den Nachbarstaaten ist gerade einmal ein halbes Jahr alt, und so herrscht unter den Soldaten Wachsamkeit. Am Morgen des 12. Augusts entdecken Truppen in einer Oase eine Gruppe arabischer Männer, die von den Soldaten erschossen werden. Nur ein junges Mädchen und ihren Hund verschonen die Truppen, um beide mit ins Militärcamp zu nehmen.

Das Verbrechen der Soldaten

Adania Shibli - Eine Nebensache (Cover)

Nach einer übergriffigen Reinigung stellt der Kommandant das Mädchen seiner Truppe zur Verfügung. Er selbst versucht Normalität und Autorität vorzuschützen, während er nach einem Tierbiss deliriert und kaum mehr gehen und stehen kann. Und doch vergewaltigt auch er das junge Mädchen in seiner Unterkunft wie viele weitere Männer. Nach diesen Taten erschießen die Soldaten die Frau und verscharren sie anonym in der Wüste.

Es ist diese schwer fassliche Tat, die die namenlose Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Buchs nicht mehr loslässt. In einer Zeitung hat sie einen kleinen Artikel über den Vorfall gelesen, der sie seitdem umtreibt. Gerade die Tatsache, dass sich das Martyrium des jungen Mädchens auf den Tag 25 Jahre vor ihrer Geburt abgespielt hat, beschäftigt sie. Und zwar so sehr, dass sie beschließt, den Ort des Verbrechens aufzusuchen und nach Spuren der damaligen Tat zu suchen.

In Zeiten der Anspannung zwischen Israel und Palästina wahrlich kein leichtes Vorhaben, besonders wenn man an Panikattacken und einer Angststörung leidet. Und doch mietet sich die Frau mithilfe von Kollegen ein Auto, begibt sich aus den überwachten Sektoren von Ramallah gen Negev und versucht Spuren des Mädchens und seinen Todesort zu finden.

Ein Buch in zwei Teilen

Diese zwei Hälften ergeben Adania Shiblis Geschichte, die von Leid, Brutalität, dem komplizierten Miteinander in Israel und von einer unfasslichen Tat erzählt. Während der Soldat und das Mädchen im ersten Teil des Buchs wenig Profil erhalten und auch durch die auktoriale Erzählweise wie hingetupft wirken, ist es im zweiten Teil die namenlose Ich-Erzählerin, die umso präsenter und klarer wirkt, wenngleich sie keinen Namen erhält. Ihre vielen Ängste, der permanente Druck, unter dem sie steht, der allgegenwärtige Terror und die nie enden wollende Gewaltspirale, durch die Augen der Ich-Erzählerin bekommen wir all das mit.

Während sie vergeblich versucht, das Schicksal des Mädchens genauer zu lokalisieren und etwas Greifbares in Händen zu halten, lernt sie das Schicksal einer Kibbuz-Gruppe kennen und erlebt die Weite der Negev am eigenen Leib. Mit nur wenigen Szenen gelingt es Adania Shibli, das Leben im Grenzland, die Nachwirkungen von Gewalt und Krieg und die Gefährlichkeit von Männern ohne Kontrolle in Worte zu fassen.

Fazit

Eine Nebensache ist eine knappe, aber intensive Geschichte aus dem israelisch-palästinensischen Grenzland, die auch besonders durch ihr bitteres Ende eine große Eindringlichkeit entfaltet. Die Übersetzung von Günther Orth aus dem Arabischen überzeugt ebenfalls, sodass diesem Buch gerade in diesen Zeiten voller Krieg, Gewalt und Grenzüberschreitungen eine besondere Bedeutung zukommt.


  • Adania Shibli – Eine Nebensache
  • Aus dem Arabischen von Günther Orth
  • ISBN 9783-949203-21-3 (Berenberg)
  • 116 SEiten. Preis: 22,00 €
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Ein Autor fragt sich

Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist

Als Schriftsteller*in kennt man die Situation. Man hat ein Buch geschrieben, ist auf Lesereise, signiert in Buchhandlungen und führt Interviews. Interviews, die sich meist ähneln. Da ist zumeist die Frage nach den biographischen Bezügen des Werks, die Frage nach dem Schreibprozess. Von Zeit zu Zeit sind die Interviewenden schlecht vorbereitet, haben das Buch nur in Auszügen oder gar nicht gelesen. Und spätestens nach der fünften gleichlautenden Frage fühlt man sich doch wie in einer Schleife gefangen. Wie wäre es denn da, wenn man die Fragesteller*innen gleich ganz wegließe? Wenn man sich der Einfachheit halber gleich selbst interviewt und sich den eigenen Fragen stellt?

Eshkol Nevo - Die Wahrheit ist (Cover)

Wie so etwas aussehen kann, das zeigt Die Wahrheit ist, das neue Buch des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo. Nevo zählt zu den wohl bekanntesten Autoren seines Landes, zuletzt wurde sein Roman Über uns publikumswirksam im Literarischen Quartett diskutiert.

Zweifelsohne hat Eshkol Nevo Erfolg – doch bei der Lektüre seines Buchs könnte man auf andere Gedanken kommen. Da wird ein Autor interviewt, der denselben Namen wie der bekannte Schriftsteller trägt, dessen Leben aber überhaupt nichts Glamouröses hat. Die Interviewerin stellt ihm Fragen zu seinem Schreiben, seiner eigenen Geschichte, biographischen Hintergründen, Verfilmungen seiner Bücher und viel mehr. Durch die Fragen ergibt sich langsam das Bild eines Mannes, dessen Fundament wankt.

Ein Autor wankt

Die Ehe mit seiner Frau kriselt oder ist vielleicht schon gescheitert. Filmproduzenten wollen seine Bücher für die große Leinwand komplett umschreiben. Sein Engagement als Redenschreiber für einen Politiker sollte besser geheim bleiben. Die Bindung zu seinen Kindern wird immer brüchiger, weshalb Nevo schon begonnen hat, seine eigene Tochter zu stalken. Und dann ist da auch noch eine Dysthymie, die ihn quält und vom Schreiben abhält. Dieser Autor wankt und schwankt.

Ohne Kapitel, nur durch die Fragen gegliedert, schreibt sich Nevo in diesem zu einem Buch gewordenen Selbst-Interview durch sein vermeintliches Leben (aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke). Keine Station aus Vergangenheit und Gegenwart wird ausgelassen. Allmählich ergibt sich durch die teilweise recht assoziativ und sprunghaft beantworteten Fragen das Leben des Interviewten.

Nun boomt nicht erst seit Annie Ernaux und Karl-Ove Knausgard das Genre der Autofiktion. Das Spiel mit Echtem und Erdachtem, das Anlocken der Leser*innen mit vermeintlicher Nähe und Authentizität, es fasziniert immer mehr Autoren. Auch Eshkol Nevo ist dieser Anziehung erlegen. Doch wie sieht es aus mit der Wahrheit? Wie ist das Buch gelungen? Die Wahrheit ist:

Das Besondere, es fehlt

Dabei sitzt der israelische Autor leider einem Fehler auf, den viele Autor*innen begehen, die sich in diesem Genre umtun. So sind viele der geschilderten Viten und Erlebnisse für meine Begriffe überhaupt nicht spannend und schaffen es auch nicht, durch literarische Gestaltungsmittel zu überzeugen. Auch Eshkol Nevo fällt für meine Begriffe leider in diese Kategorie.

Um mich persönlich bei der Stange zu halten, braucht es mehr als eine Schilderung des Lebens als weißer, mittelalter Mann mit Beziehungsproblemen. Geschichten und Schilderungen von Menschen mit depressiven Zügen, mit Amouren, Reisen und Schreibblockaden gibt es ja en Masse.

Wo ist das Besondere, das mich auf über 400 Seiten bei der Stange hält? Die interessanten Brüche in der Vita? Die sprachliche Meisterschaft, die aus einem durchschnittlichen Leben eines Schriftstellers etwas Unverwechselbares macht? Das alles habe ich in dieser Nabelschau namens Die Wahrheit ist leider nicht gefunden.

Natürlich, die geschilderten Episoden um Lesungen hinter der Grünen Grenze und Erlebnisse aus dem Alltag in Israel sind durchaus spannend. Aber diese Episoden nehmen sich gegen die wehleidigen An-und Abstoßung seiner Frau, vermeintliche Amouren oder Kindheitsgeschichten seiner zwei Freunde leider doch als Minderheit aus. Es dominiert das Kreisen um das eigene Ego. Und für besonders lesenswert halt ich das Ganze eben mitnichten.

Das, was Celeste Ng sagt

Hier kommt leider ein Satz zum Tragen, den die großartige, ebenfalls bei dtv verlegte Celeste Ng jüngst in einem Interview über ihre Leseerfahrung mit dem großen Ego-Isten Karl-Ove Knausgård äußerte:

The book I think is most overrated

My Struggle by Karl Ove Knausgård. What really frustrates me about it is that, for centuries, extremely average straight white men get volumes to tell every detail of their lives, while stories by anyone else (especially women and people of colour) have to fight to be published at all.

Das Buch, das ich für am überschätztesten halte

Mein Kampf (auf Deutsch unter den Titeln Sterben, Spielen, Lieben etc. publiziert) von Karl Ove Knausgård. Was mich daran ärgert ist, dass extrem durchschnittliche weiße Männer seit Jahrhunderten allen Platz eingeräumt bekommen, um jegliches Detail ihres Leben zu schildern, während die Geschichten von allen anderen (besonders Frauen und People of Color) um ihre Veröffentlichung kämpfen müssen.

Celeste Ng: I couldn’t finish Knausgård’s My Struggle. Time is finite. Guardian online

So muss ich für meinen Teil leider konstatieren: Die Wahrheit ist, dass ich diesen Ausflug Eshkol Nevos ins Genre der Autofiktion für etwas überflüssig halte. Ein Buch, das weder auf sprachlicher noch auf inhaltlicher Ebene wirklich überzeugen kann. Und das trotz der charmanten Idee des Selbstinterviews.

Andere Meinungen zum Buch gibts bei Spiegel Online sowie Letteratura und Buchrevier.

  • Eshkol Nevo – Die Wahrheit ist
  • aus dem Hebräischen von Markus Lemke
  • Deutsche Erstausgabe, 432 Seiten
  • ISBN 978-3-423-28219-2, dtv-Verlag
  • Preis: 22,00 €
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Chris Kraus – Das kalte Blut

Für diese Frage könnte man bei einer Quizshow schon einmal die obligatorische Million abräumen: worum handelt es sich beim Roten Herbstkalvill? Chris Kraus erklärt es in seinem Buch Das kalte Blut und macht den Apfel (so die richtige Antwort) zum Leitmotiv seiner Geschichte, die von den ungleichen Brüdern Konstatin, genannt Koja, und Hub Solm erzählt. Immer wieder taucht dabei jener Rote Herbstkalvill auf, der mal Zankapfel, mal Todesbote ist, und der das Schicksal der Brüder begleitet.

Erzählt wird uns die Geschichte in Form einer Lebensbeichte, die Koja gegenüber seinem Bettnachbarn in einem Münchner Krankenhaus 1974 ablegt. Er ist nämlich infolge eines in seinem Kopf steckenden Projektils in Behandlung, das nicht nur ihm sondern auch den Ärzten einiges Kopfzerbrechen bereitet. Wie dieses Projektil in seinen Schädel gelangte und welche unerhörte Lebensgeschichte dazu führte, dass nun das Zimmer von der Polizei bewacht wird, das erzählt Solm seinem Bettnachbar, der ausgerechnet ein Hippie ist.

Die Sympathie jenes Hippies kippt im Laufe dieser tausendzweihundertseitigen Geschichte immer mehr ins Entsetzen, als er die ganzen turbulenten Ereignisse und Taten aus Koja Solms Leben erfährt. Aufgewachsen als Deutschbalte in der Nähe von Riga erleidet die Familie nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Bedeutungsverlust und muss sich durchschlagen. Doch dann beginnt mit dem Aufstieg des Dritten Reichs auch der Aufstieg der Solm-Brüder. Jene werden zu wichtigen Kontaktpersonen für die Nazis im Baltikum, Himmelfahrtskommandos und Verbrechen gegen die Menschlichkeit inklusive. Doch die Identität als Kriegsverbrecher ist nur eine Facette im vielschichtigen Wesens Koja. Verhaftungen durch die Russen, Tätigkeiten als Doppelagent für Russland und Deutschland folgen, eine Karriere als Kunstfälscher und Mitbegründer des Bundesnachrichtendienstes findet sich ebenso in Kojas Lebenslauf genauso wie eine Emigration nach Israel.

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Elisabeth Herrmann – Totengebet

Vernau im Kibbuz

Eine junge Frau in einem Kibbuz in Israel in den 80er Jahren auf der Flucht. Ein Angriff auf den Berliner Rechtsanwalt Joachim Vernau – was verbindet diese Ereignisse?

Elisabeth Herrmann - Totengebet (Cover)

In Elisabeth Herrmanns neuem Krimi Totengebet sind die Beziehungen der Ereignisse zunächst genauso unscharf wie die Erinnerungen Vernaus an jene Nacht, die ihn in ein Berliner Krankenhaus brachte. Die Zeitungen machen mit Vernau als Helden von Berlin auf. Er soll einen jüdischen Mitbürger vor rechten Schlägern geschützt haben und dafür Läsionen in Kauf genommen haben. Doch Vernau misstraut den offiziellen Erklärungen, kommen ihm doch ganz andere Erinnerungsfetzen in den Sinn. Er erinnert sich an eine junge Frau namens Rachel Cohen, die ihn in dringlicher Mission aufsuchte und nach den nebulösen Ereignissen in jener Nacht spurlos verschwand. Vernau ahnt, dass hinter dem Auftauchen und Verschwinden der jungen Frau ein Geheimnis stecken muss, und so macht er sich auf eigene Faust daran, die Nacht zu rekonstruieren und den Spuren der jungen Frau zu folgen. Doch es scheint, als sei Rachel Cohen ohne Spuren verschluckt worden.

Die Geschichte, die sich hinter dem nichtssagenden Titel Totengebet verbirgt, ist reichlich verwinkelt. Elisabeth Herrmann lässt Joachim Vernau diesmal in ein Kapitel seiner Vergangenheit reisen, das er schon längst abgeschlossen glaubte. 1987 verdingte er sich nämlich mit ein paar anderen Freiwilligen als Helfer in einem Kibbuz in Israel. Die damaligen genossenschaftlichen Gemeinschaften boomten, und so half auch Vernau damals mit anderen Deutschen und Juden in einem solchen Kibbuz als Volunteer beim Pflanzen und Kultivieren der Wüste aus. Doch nicht nur Arbeit spielte damals eine Rolle, in jenem Sommer verdrehte auch eine israelitische Frau allen Männer im Kibbuz den Kopf. Wo liegt nun die Verbindung zwischen der Zeit der Selbstfindung im Kibbuz und dem Auftauchen der jungen Frau in Berlin?

Die Spur führt nach Israel

Ein Kibbuz in Israel in den 80er Jahren (c) Michael Coghlan
Ein Kibbuz in Israel in den 80er Jahren (c) Michael Coghlan

Der neue Fall von Joachim Vernau entfaltet sich erst langsam und spielt zu einem großen Teil in Israel. Wohltuend, dass sich Herrmann nicht in Wiederholungen ergeht und den gefühlt 3269. Krimi mit Bezug auf das Dritte Reich und den Nationalsozialismus schreibt, sondern sich einem anderen Thema aus der israelischen Geschichte zuwendet. Die Geschichte der Kibbuze und die Schilderungen des Lebens in Tel Aviv und auf dem Land in Israel besitzen einen ganz eigenen Reiz und sind durchaus originell zu nennen. Etwas aufgesetzt wirken hingegen die gelegentlich eingestreuten Seitenhiebe auf die AfD und den Rechtspopulismus – auch wenn einer der Charaktere hier für die BfD in den Berliner Senat möchte. Dieser etwas aufgepfropft wirkende Seitenstrang wollte sich für mein Empfinden nicht ganz harmonisch ins Buch einfügen.

Ansonsten bietet Elisabeth Herrmann nach dem Durchhänger Der Schneegänger wieder Krimikunst auf gewohnt gutem Niveau. Die konstruierte Handlung weiß zu unterhalten und mit einem exotischen Setting zu punkten.

Hier noch die Übersicht der bislang erschienen Krimis mit dem Berliner Anwalt Joachim Vernau:

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