Ein Elysion und ein Sommer, der scheinbar niemals zu Ende geht. Davon erzählt Polly Samson in ihrem Roman Sommer der Träumer, der auf griechischen Insel Hydra im Jahr 1960 spielt. Darin erzählt sie von (Überlebens-)Künstlern, Liebe, Eifersucht und dem Ringen um künstlerischen Erfolg. Und mittendrin die junge Erzählerin Erica, die nach dem Tod ihrer Mutter ihren Platz im Leben sucht.
Der Buchmarkt hat erkannt – was uns Leser*innen gerade fehlt. Unbeschwerte Sommerurlaube in fernen Ländern. Pandemiebedingt ist eine allzu exzessive Reisetätigkeit nicht möglich, weshalb uns die Verlage in diesem Bücherfrühling umso mehr mit Sommerbüchern im Dutzend versorgen. Egal ob Sommer in einer amerikanischen Kleinstadt in den 80ern (Benedict Wells mit Hard Land), in Wicklow im Irland 1959 (Sebastian Barry mit Annie Dunne) oder in der deutschen Provinz (Ewald Arenz mit Der große Sommer): Sommerbücher liegen im Trend. Der Ullstein-Verlag und Polly Samson erweitern die Palette neu erschienener Romane nun um den Schauplatz Griechenland. Dorthin verschlägt es die jugendliche Erica zusammen mit ihrem Bruder Bobby.
Ihre Mutter ist gestorben, das Auskommen zuhause mit dem Vater schwierig, und so beschließen die Geschwister, nach Griechenland aufzubrechen. Die Mutter hat den beiden einen Wagen und ein ebenso geheimes Sparkonto mit tausend Pfund Inhalt hinterlassen. Zudem hat Charmian Clift, eine frühere Mitbewohnerin im Haus der Familie, ihr neues Buch namens Peel me a lotus an die Familie geschickt. Darin erzählt sie von ihrem Leben auf einer griechischen Insel namens Hydra. Da sich Erica von Charmian Auskünfte über das Leben ihrer Mutter und deren Geheimnisse erhofft, steht der Beschluss der jungen Menschen schnell fest. Zusammen mit Ericas Freund machen sie sich gen Griechenland auf, das Land der Griechen mit der Seele suchend.
Eine pulsierende Gemeinschaft
Auf Hydra erwartet sie eine lebhafte Gruppe von Malern, Schriftsteller*innen und Einheimischen. Schnell wachsen die so unterschiedlichen Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen. Man zieht in Häuser, organisiert sich in Gruppen, erkundet die Insel und feiert rauschende Feste, stets auch auf der Suche nach der nächsten künstlerischen Eingebung. Das Zentrum der pulsierenden Gemeinschaft ist dabei stets Charmian Clift, die als mütterliche Inspirations- und Seelenhilfe fungiert. Auch Erica sucht beständig ihre Nähe.
Man liebt und streitet sich, Liebe, Treue und Affären sind ein beständiges Klatschthema. Es kriselt in so mancherlei Beziehung, mancher verschwindet im Laufe des Sommers von der Insel, andere Künstler stoßen wieder zur Gemeinschaft, wie etwa der junge kanadische Poet namens Leonard. Es hat den Anschein, als würde der Sommer auf der Insel für die Künstlergemeinschaft nie zu Ende gehen. Doch auch im vermeintlichen Paradies ist alles endlich.
Von großer Beschreibungsfreude
Davon erzählt Polly Samson in ihrem Buch auf detailgenaue Art und Weise. Ihr Buch atmet förmlich den Geist jenes Sommers vor siebzig Jahren, in dem alles noch nicht so kompliziert schien (aber in Wahrheit natürlich auch war). Wem der Griechenlandurlaub fehlt, bei dem kommt während der Lektüre sicher das ein ums andere Mal Nostalgie auf.
Mit zusammengekniffenen Augen blicke ich über den Golf zu den Bergen von Troizen. Schönes breitet sich vor mir aus. Das Meer liegt wartend da, der Hafen verspricht Drama, der Fels hallt von den Glocken der vielen Inselkirchen wider. Ich stehe am oberen Ende der Stufen und sauge all das in mich auf. Die Hügel von gelben Blüten entflammt, die Berggipfel mit Rotgold überzogen, Quarz funkelt in den geweißten Mauern. Weinlaub ziert den weiß übertunnelten Anstieg. Reife Aprikosen zieren einen gewölbten Eingang, Wildblumen sprießen aus den Ritzen eingefallener Mauern und Ruinen. In einer Tür schüttelt eine Frau einen Teppich aus; selbst der Staub glitzert.
Polly Samson – Sommer der Träumer, S. 81
Diese Schilderungen sind Bonus und Malus des Buchs zugleich. Denn wenn der Berghirte mit seinem Esel über die Bergpfade der Insel zuckelt, im Gepäck rahmiger Joghurt, die Schwammfischer zurückkehren und auf dem Fensterbrett die Honigwabe im Sonnenlicht glänzt, dann schrammt das Ganze oftmals nicht am „Mamma Mia“-Kitsch vorbei, nein, dann ist es „Mamma Mia“-Kitsch. Man wäre nicht überrascht, spränge Pierce Brosnan „Dancing Queen“ knödelnd hinter der nächsten weiß gekalkten Häuserwand hervor.
Aber zugleich ist Polly Samsons Beschreibungsgabe so reich, ihre Schilderungen der Flora und Fauna der griechischen Inselwelt immer reich an präzisen Bildern (Übersetzung Bernhard Robben), sodass ich ihr nach dem abschließenden Lektüreeindruck diese Postkartenkitsch-Passagen gerne verzeihe.
Eine weibliche Coming of-Age-Erzählung
Ihre Prosa ist reich, geradezu überbordend an Beschreibungsfreude, die das Bild einer nahezu paradiesischen Insel heraufbeschwört. Doch es zählt zu den Qualitäten von Sommer der Träumer, dass das Buch eben nicht nur den Eskapismus feiert, sondern auch von der Suche nach einem Platz im Leben, vom Scheitern von Lebensträumen und der Brüchigkeit der Idylle erzählt. In die Künstlergemeinschaft, die sich auf Hydra trifft, ist die Vergänglichkeit schon eingeschrieben. Und diese Vergänglichkeit und Nostalgie kleidet Polly Samson in schöne Worte und Bilder und schafft so neben aller Nostalgie und allen Kitschmomenten auch einen ernsten Hintergrund ihrer Erzählung.
Zudem ist Polly Samsons Buch der rare Fall einer weiblichen Coming of Age-Erzählung. Ein Genre, das in diesem Bücherfrühling zumeist von Männern bedient wurde. Aber Polly Samson zeigt, dass auch sie mithalten kann im Konzert dieser nostalgischen Adoleszenzromane. Die Zutaten sind die ähnlichen, wie sie etwa die eingangs erwähnten Ewald Arenz, Callan Wink oder auch Benedict Wells in ihren letzten Büchern anwendeten: ein junger Mensch an der Schwelle zum Erwachsenenwerden, ein Sommer, randvoll mit Erlebtem, die Rückschau, aus der heraus die Handlung geschildert wird. Es ist alles drin. Und auch im Vergleich zu den anderen Titeln dieser Saison kann Polly Samson bestehen und aufgrund ihres Beschreibungsreichtums sogar leicht herausstechen.
Fazit
Polly Samson hat ein Buch über den Zustand des Paradieses und dessen Bröckeln geschrieben. Ein Buch, das vielleicht die ein oder andere Nostalgie- und Kitschschleife zu viel dreht, insgesamt aber eine bildmächtige Erzählung über einen längst vergangen Griechenland- und Künstlerbegriff darstellt. Ein starkes Buch, das Sehnsucht nach Griechenland weckt und in diesen unsicheren pandemischen Zeiten wenigstens eine Lehnstuhlreise auf die Insel Hydra erlaubt. Schöne Sommerlektüre mit Mehrwert!
- Polly Samson – Sommer der Träumer
- Aus dem Englischen von Bernhard Robben
- ISBN 978-3-550-20142-4 (Ullstein)
- 384 Seiten. Preis: 20,00 €