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Rahul Raina – Bekenntnisse eines Betrügers

Bildung, sie ist ein hehres Ideal, kann aber auch zur tödlichen Bedrohung werden, wie Ramesh Kumar in Bekenntnisse eines Betrügers am eigenen Leib erfahren muss. Denn seine Tätigkeit als „Bildungsberater“ bringt ihn in Rahul Rainas Roman erheblich in die Bredouille und sorgt für entführte Menschen und abgetrennte Fingerglieder. Ein unterhaltsames Buch voller Kidnapping, versehen mit Krimielementen und Gesellschaftskritik.


Ramesh Kumar – Bildungsberater. So steht es auf meiner Visitenkarte.

Sie wollen, dass Ihr kleiner Liebling 99,4 Prozent der Prüfungsfragen richtig beantwortet, ein Absolvent des Indian Institu[t]e of Technology wird und über den Rest von uns herrscht? Dann kommen Sie zu mir. Sie wollen, dass Ihr kleiner Racker bis an die Spitze der staatlichen Verwaltung aufsteigt, einen Durchmarsch in ein Eckbüro an der Wall Street oder in London antritt, oder, wenn alles schiefläuft, Gott behüte, wenigstens in Bangalore? Ich bin Ihr Mann. Jede Prüfung, jedes Fach in nur vier Wochen. Oder Sie kriegen Ihr Geld zurück. Und genau darauf haben sie es alle abgesehen, jeder Einzelne von ihnen.

Rahul Raina – Bekenntnisse eines Betrügers, S. 14 f.

So beschreibt Ramesh Kupar selbst sein Geschäft, mit dem er sich eine einigermaßen erträglicher Business in einer Nische erschaffen hat. Für faule Kinder aus den obersten Kasten Delhis schreibt er die Tests, arbeitet sich in Wissensfelder ein und übernimmt so die intellektuelle Arbeit für die ihn seine Arbeitgeber meist recht schlecht bezahlen.

Der Bildungsberater übernimmt

Rudraksh Saxena nimmt sich aus dieser Reihe nicht aus. Der verzogene und privilegierte Rudraksh, genannt Rudi, frequentiert lieber Cola, WhatsApp-Chats und einschlägige Filme, als seine Vorbereitungen auf die All India-Auswahltests voranzutreiben. Und so kommt Ramesh ins Spiel, der sich einen Monat lang in alle Bildungsfelder einarbeitet, um an Rudis Stelle statt die mehrtägigen Auswahltests zu schreiben.

Rahul Raina - Bekenntnisse eines Betrügers (Cover)

Als Sohn eines Teehändlers nahm sich einst eine Nonne seiner an und trieb die Bildung des Jungen voran, der seine überragenden Fähigkeiten nun auch bei den aktuellen All India-Tests wieder einsetzt – und als Rudi überraschend den zweiten Platz belegt, was größtes nationales Interesse hervorruft, da Rudraksh der beste indische Teilnehmer der Tests ist und so ein Run auf den Jungen einsetzt.

Durch geschickte Erpressung und Nötigung der Eltern, die Ramesh seinen Lohn eigentlich vorenthalten und ihn aus der Erfolgsgeschichte ihres Sohnes tilgen wollten, mausert sich dieser zum „Manager“ von Rudi, was tatsächlich eine Rundum-Betreuung des Hochstaplers und Blenders bedeutet.

Als ein Fernsehsender eine Quizshow mit Rudi ins Programm nehmen möchte, muss Ramesh all sein Talent zur Organisation und fürs Babysitten aufbringen, um Rudi für den Job vorzubereiten. Doch der Erfolg bringt auch Neider mit sich, die auch vor Entführungen und eindringlichen Drohbotschaften nicht zurückschrecken…

Gesellschaftskritik und Spannung im heutigen Indien

Bekenntnisse eines Betrügers ist ein Roman mit Spannungselementen und viel Gesellschaftskritik, auch wenn man es angesichts der mitunter flapsig-derben Sprache und des misslungenen Covers so nicht meinen möchte.

Zusammengesetzt aus Rückblenden und Schilderungen, wie Rudi und Ramesh in die Entführung schlitterten, die den Ausgangspunkt des Buches bildet, erzeugt Rahul Raina das Bild eines modernen Indien, in dem mehr Sein als Schein herrscht. Die Gesellschaft innerhalb des Kastensystems setzt auf bequeme Täuschungen des Status Quo und gibt sich lieber mit arglistigen Täuschungen zufrieden, als wirklichen Wettbewerb und Aufstieg aus anderen Gesellschaftsschichten zuzulassen.

Delhi ist der zentrale Handlungsort des Romans, der Rahul Raina als chaotische Stadt voller Widersprüche, Armut und wenig eingelöster Aufstiegsversprechen zeichnet, in der so manches Mal nur ein Kidnapping zum erwünschten Erfolg führt.

Dabei gelingen ihm in ihrer Doppeldeutigkeit schöne Szenen, die immer wieder über die Handlung hinaus auf gesellschaftliche Probleme und Missstände verweisen, etwa wenn der durch die Quizshow zum Fernsehstar und Schwiegermutter-Liebling avancierte Rudraksh als Frau verkleidet mit der U-Bahn durch Delhi reisen muss und sich dabei ständig sexueller Avancen und Übergriffigkeiten erwehren muss.

Hier zeigt Raina klar Missstände auf, genauso wie er durch seinen „Bildungsberater“ die Fixierung der indischen Gesellschaft auf leicht zu manipulierende Auswahltests und geschlossene Machtzirkel hinweist und so im Gewand eines zeitgenössischen Romans auch die Klassenfrage verhandelt.

Fazit

In diesem Sinne ist Bekenntnisse eines Betrügers ein unterhaltsames, in flapsiger Sprache und mit Krimielementen garnierter Roman, der ungeschönt auf die Probleme der indischen Gesellschaft blickt und die Aufstiegsversprechen derselben ad absurdum führt. Auch wenn man es angesichts des Covers und den parodistischen Zügen nicht gleich vermuten würde – aber hier steckt wirklich etwas im Buch, das der Lektüre lohnt!


  • Rahul Raina – Bekenntnisse eines Betrügers
  • Aus dem Englischen von Alexander Wagner
  • ISBN 978-3-0369-5868-2 (Kein & Aber)
  • 400 Seiten. Preis: 25,00 €
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Gu Byeong-Mo – Frau mit Messer

Braucht es eine Altersgrenze für Auftragskillerinnen? Dieser Frage geht die Südkoreanerin Gu Byeong-Mo in ihrem Roman Frau mit Messer nach. Sie erzählt von einem altbekannten Topos mit einer ungewöhnlichen Heldin.


Die USA oder Cool Britannia als Impulsspender für das globale kulturelle Leben, das war einmal. Schon längst sind die westlichen Nationen von einem anderen Land abgelöst worden, das sich zum Taktmacher der kulturellen Revolution aufgeschwungen hat. Die Rede ist von Südkorea.

Die Boyband BTS bricht mit ihrem K-Pop ebenso Herzen wie Tourneerekorde, Bong Joon-ho durfte sich unlängst für seinen Film Parasite den Oscar abholen, die Serie Squid Games schlug alle Rekorde – und auch in der Literatur ist der Einfluss Südkoreas unübersehbar. Da wäre beispielsweise Sang Young Park mit seinem sehr zeitgeistigen Roman Love in the big city (das mich zu einer ähnlichen Einleitung der Besprechung inspirierte, wie ich beim Korrekturlauf der Rezension feststellte) oder Young-ha Kim, der in seinem Roman Aufzeichnungen eines Serienmörders ebenjenen Serienmörder mit einer Alzheimererkrankung konfrontiert.

Zu diesen interessanten Stimmen gesellt sich nun auch Gu Byeong-Mo, die in Frau mit Messer das altbekannte Thema des alternden Auftragskillers auf interessante Art und Weise umarrangiert und inszeniert.

Altbekanntes Motiv, frischer Zugang

So ist das Thema des dienstmüden Auftragskillers von Luc Bessons Film Leon der Profi bis hin zu Martin Booths The American ausgiebig verhandelt worden und in der Popliteratur wirklich als arriviert zu bezeichnen. Dieses Thema ist auch bei Gu Byeong-Mo dasselbe, doch ihre Heldin Hornclaw unterscheidet sich erheblich von all den ausgebrannten Männern, die doch schlussendlich immer noch einmal für einen letzten Job ranmüssen.

Gu Byeong-Mo - Frau mit Messer (Cover)

Ihre Heldin ist eine 65-jähre Frau, die eigentlich das perfekte Renteneintrittsalter hätte. Doch sie kann vom Morden nicht wirklich lassen, kommt in der U-Bahn bedrohten Frauen zu Hilfe und erledigt ihre Auftragspersonen dabei bevorzug mit – wer hätte es bei dem Titel anders erwartet – mit Messern, die sie in verschiedenen Ausfertigungen mit sich führt. Tätig ist sie für eine Agentur, die die Killer verwaltet und Auftraggeber und Mörder zusammenbringt.

Das Alter setzt ihr inzwischen zu – ebenso wie ein junger, ungestümer Kollege, der sie beständig provoziert, herausfordert und auf die Probe stellt. Die Auftragsmorde – oder „Schädlingsbekämpfung“, wie Hornclaw ihr Metier für sich getauft hat- gingen ihr auch schon einmal leichter von der Hand. Und so stellt sie sich folglich die Frage, ob es nicht Zeit für die Rente wäre, insbesondere da Hornclaw in letzter Zeit zunehmend beunruhigende Faktoren wie die Entwicklung von Empathie und Mitmenschlichkeit an sich entdeckt hat.

Wie konnte sie in so einem kritischen Augenblick die Zielperson verlieren und stattdessen einem Fremden helfen? Wenn der Anblick eines sich abmühenden Mannes, der ungefähr in ihrem Alter ist, bei ihr zu solchem Mitleid führt … tja, sie hat die ganze Zeit ganz gut ohne das alles gelebt und tatsächlich nur deswegen überlebt, weil solche Gefühle in ihr abgestumpft sind. Aber jetzt sind sie plötzlich da.

Gu Byeong-Mo – Frau mit Messer, S. 157

Doch die Frau mit Messer kann von ihrem Job nicht lassen – und spätestens als das Kind von lokalen Standbesitzern entführt und von den Entführern eine Botschaft an Hornclaw gesendet wird, ist klar, dass die Killerin noch einmal die Messer wetzen muss.

Genretypische Motive, modern interpretiert

Frau mit Messer ist ein Buch, das einerseits voller genretypischer Tropen wie dem treuen und klugen Hund ist, der als verständiger Mitbewohner zuhause wohnt und auf seine Besitzerin wartet. Natürlich fliegen Granaten durch die Luft und Autos auf Dächer, natürlich wird auch bei Frau mit Messer geballert, gemeuchelt und gehetzt. Aber das alles arrangiert Gu Byeong-Mo auf frische und manchmal durchaus ungewöhnliche Art und Weise, wenngleich der Showdown dann ganz klassisch mit hohem Bodycount und der üblichen Entwicklung seinen Lauf nimmt.

Bei ihr findet sich non-binäres Verwaltungspersonal, der Plot wird nicht immer linear erzählt und mit der alternden Killerin steht eine unangepasste Frau im Mittelpunkt, die Schwäche zeigen darf und gerade dadurch ihrem typischen Berufsbild eigentlich widerspricht. So stellt das Buch subtil zwinkernd die Frage nach einer Altersgrenze für Killer*innen und nimmt die gegenwärtige soziale Situation Südkoreas in den Blick. Letzten Endes läuft das Buch auf sein erwartetes Ende zu, aber die ungewöhnliche Heldin hebt Gu Byeong-Mos Buch über das Gros ähnlicher Romane, die von alternden Auftragskillern handeln, heraus.

Nur eine Kleinigkeit bleibt zu bemäkeln. Wenn man schon eine neue südkoreanische Stimme präsentiert, dann hätte man in meinen Augen auch auf eine Übersetzung aus dem südkoreanischen Original zurückgreifen sollen, statt die amerikanische Übersetzung dann ins Deutsche zu übertragen, obgleich Wibke Kuhn gute Arbeit leistet. Davon abgesehen gibt es hier spannend variierte Thrillerkost, die einmal mehr zeigt, wie Südkorea sich den westlichen Pop einverleibt und weiterentwickelt hat.


  • Gu Byeong-Mo – Frau mit Messer
  • Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
  • ISBN 978-3-550-20150-9 (Ullstein)
  • 288 Seiten. Preis: 22,99 €
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Jörg Maurer – Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt

Es ist der Fluch der Serie. Was einmal Erfolg hatte, muss weitergeführt werden, bis es sich selbst irgendwann totgelaufen hat. Das sah man etwa bei der britischen BBC-Serie Sherlock, die Benedict Cumberbatch und Martin Freeman endgültig zu Stars machte. Was als spannend und stringent inszenierte 90-Minüter begann, wurde zusehends zu einem abstrusen Spektakel der Marke Schneller, Höher, Weiter, das sich in Selbstzitaten und immer wirrer werdenden Drehbüchern erschöpfte, bis das Team selbst keine Lust mehr zu haben schien.

Ähnliches lässt sich auch bei Jörg Maurer beobachten. Seine Reihe um Kommissar Hubertus Jennerwein begann der Musikkabarettist im Jahr 2009 mit dem Alpenkrimi Föhnlage. Inmitten all der bräsigen Regionalkrimis voller tumber Figuren, Kochrezepte und abgepauster Ortsschilderungen nahm mich (nicht nur als Bayer) diese Reihe ein. Toll geschrieben, mit schwarzem Humor und einem ironischen Blick auf das Voralpenland war Maurer damit eine Ausnahme, der sowohl das Krimigenre als auch den Witz hoch achtete und so einen Gegenentwurf zu Kluftinger und Co erschuf.

Krimis im Jahrestakt

Fortan folgte im Jahrestakt neue Krimis, die von sadistischen Klettern, im Häcksler verschwundenen Nobelpreisträgern oder alpenländischen Bestattern mit besten Kontakten zur italienischen Mafia handelten. Immer ein wenig durchgeknallt, drüber – aber genau das machte den Reiz der Serie auch aus. Hier schrieb einer, der überzeichnete, aber eben auch Spannung und Humor miteinander verband und so unterhaltsame Regionalkrimis erschuf.

Mit zunehmender Laufzeit wurden die Titel länger, das Format wandelte sich vom Taschenbuch zum Hardcover zum Paperback – doch die Qualität nahm ab. 2010 erschienen dann sogar zwei Jennerweinkrimis in einem Jahr. In seinem zehnten Fall Am Abgrund lässt man anderen gern den Vortritt war es dann der eingangs schon erwähnte Kommissar Kluftinger aus dem Allgäu, dem Jennerwein im Roman begegnete. Was andere als kultige Hommage verstanden, war für mich der Beweis, dass die Jennerwein-Reihe nun auf dem blödeligen und kriminallitarisch wenig überzeugenden Niveau von Klüpfel, Kobr und Co angekommen war.

Verlag (und Autor?) hielten es dann für eine gute Idee, im gleichen Jahr noch einen weiteren Krimi nachzuschießen, von dem (und allen weiteren) ich dann aber nach der Enttäuschung von Band Zehn der Reihe fortan die Finger ließ. Nun begegnete mir Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt in einer schwachen Minute auf dem Wühltisch des lokalen Buchhändlers. Ein günstiger Preis, eine winterliche Verfasstheit meinerseits und die Lust auf ein Guilty Pleasure nach einigen seriösen literarischen Backsteinen hatten die Entscheidung leicht gemacht. Hätte ich doch bloß die Hände davon gelassen!

Geiselnehmer mit gedankengesteuerten Bomben

Jörg Maurer - Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt (Cover)

Die Grundzutaten sind dabei altbekannt. Kommissar Jennerwein, der sich überraschenderweise als Hüttenbesitzer entpuppt, lädt sein Team und Weggefährten in ebenjene verschneite Hütte über dem Kurort ein, um die Weihnachtstage zu feiern. Doch in der Hütte kommt es dann zu einer Geiselnahme.

Was eigentlich eine gute Ausgangslage ist, wird in diesem Buch leider vollends zum Desaster (Obacht, nun wirds spoilerisch!). Das kriminaltechnisch hochbegabte Team merkt erst nach Stunden, dass einer der Gäste eine Bombe in die Hütte geschmuggelt hat und ein falsches Spiel spielt.

Der Geiselnehmer erpresst das Team mit dieser Bombe, die er per Gedankenströmen kontrolliert. Ein weiterer Gast mit unklarer Provenienz scheint auch ein doppeltes Spiel zu spielen, Snowboarder mit unklarer Provenienz schießen über nächtliche Pisten, eine Informantin unklarer Provenienz hat sich vor der Hütte in den Schnee eingegraben und dann hat der Geiselnehmer unklarer Provenienz auch noch den Ehemann der Gerichtsmedizinerin gekidnappt und in einen Gärtank eingeschlossen, der vollzulaufen droht. Drohnen werden unter Schneewehen gefunden und liefern Plätzchen vor die Hütte – und dann gibt es auch noch außerirdische Lebensformen, die eine Rolle spielen. Klingt völlig gaga? Ist es auch. Nichts ergibt wirklich Sinn oder löst sich befriedigend auf. Zudem überzeugt auch das Setting in der Hütte nicht.

Bomber allerorten

Dass so eine eigentlich hochspannende Situation einer Geiselnahme auch schnell bleiern langweilig werden kann, das scheint auch Jörg Maurer gedämmert zu haben. Deshalb verschneidet er die Rahmenerzählung mit einem Schwank aus Jennerweins Schulzeit. In dieser machte auch ein Bomber die Schule unsicher, indem er immer wieder Stinkbomben platzierte und die Schulfamilie zur Weißglut und Jennerwein zu ersten kriminalistischen Ermittlungen trieb. Doch auch diese Erzählung läuft sich irgendwann tot, sodass man die Explosion auf der Almhütte herbeisehnt.

Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt könnte ein origineller Krimi sein, ist dann aber leider ganz vieles andere: schlecht geschrieben, kaum durchdacht, wenig überzeugend ausgeführt. Nichts wird stringent zu Ende geführt, alles wirkt lieblos zusammengeschustert. Man hat hier das Gefühl, dass Maurer selbst nicht richtig wusste, was er wollte. Ein einziges Desaster, über das man besser eine ganz dicke Decke aus titelgebenden Schnee decken sollte.

Viele weitere Krimi-Möglichkeiten

Man würde sich wünschen, Maurer hätte den Mut, eine derartig Reihe zu beenden und seine kreativen Ideen in ein neues Projekt zu stecken. Aber auch das scheint ein Fluch der Regionalkrimis zu sein, egal ob Jennerwein, Kluftinger oder andere Figuren: die Reihen werden totgeritten, bis sich nicht nur das Pferd, sondern auch der ganze Sattel in Luft aufgelöst haben.

Aber die Absatzzahlen scheinen zu stimmen, das Publikum kauft und liest treu – und von daher ist zu befürchten, dass die nächsten zwanzig Bände der Reihe schon in Planung sind. Warum nicht mal ein Osterfest mit einem bombenlegenden Eier-Verstecker, Silvester mit einem Bowle-Giftmischer oder Fronleichnamsumzug, der von einem Sniper aufs Korn genommen wird? Der (bayerische) Festkalender hält noch einige potentielle Ideen für weitere Gaga-Jennerweinkrimis bereit. Ich weiß allerdings nur eines: ich werde sie nicht mehr lesen.


  • Jörg Maurer – Im Schnee wird nur dem Tod nicht kalt
  • ISBN 978-3-596-70369-2 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 12,00 €
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Dennis Lehane – Gone, Baby Gone

Es ist wirklich ein Jammer. Da publiziert der Diogenes-Verlag nun seit geraumer Zeit die Werke eines der besten Krimischriftsteller dieser Tage – und kaum jemanden interessiert es. Mit Gone, Baby Gone ist nun eine weitere Perle aus der Backlist des umfangreichen Schaffens von Dennis Lehane zu entdecken. Nach den ersten drei Bänden der Kenzie/Gennaro-Reihe liegt nun Band 4 der Krimiserie in einer neuen Optik vor.


Ursprünglich bei Ullstein in der Übersetzung von Andrea Fischer erschienen, erfuhr das Buch 2007 einige Popularität. Der Grund war die Verfilmung des Buchs durch Ben Affleck mit Morgan Freeman, Ed Harris und Michelle Monaghan in den Hauptrollen. Es sollte nicht die einzige Verfilmung eines Buchs von Dennis Lehane durch Ben Affleck bleiben. Neun Jahre später nahm er sich mit In der Nacht erneut ein Werk des Bostoner Krimiautors vor.

22 Jahre nach dem Erscheinen des Buchs und 13 Jahre nach der Kinoverfilmung ist das Buch etwas in Vergessenheit geraten. Im Zuge der kontinuierlichen Publikation der Backlist des Lehane’schen Oeuvres gibt es das Buch nun in einer Neuübersetzung von Peter Torberg zu lesen. Und man kann wirklich von einer Wiederentdeckung sprechen. Denn das Buch ist, wie eigentlich fast alle Bücher Dennis Lehanes, große Klasse. Zwar beschreibt Lehane eine Welt, in der Handys noch eine rare Erscheinung sind und die Kommunikation erfolgt noch etwas altmodisch – die Geschichte selbst aber ist von solchem Zeitkolorit unberührt.

Ein verschwundenes Kind in Dorchester

Einmal mehr macht Lehane sein Bostoner Kindheitsviertel Dorchester zum Schauplatz einer Erzählung. Dort wird das Detektivpaar Angela Gennaro und der Ich-Erzähler Patrick Kenzie von einem Ehepaar aufgesucht. Diese wollen, dass die beiden im Falle ihrer vermissten Nichte Amanda McCready ermitteln. Diese ist seit mehreren Tagen ohne ein Lebenszeichen verschwunden. Widerwillig übernehmen die beiden den Fall und stoßen auf eine überforderte Mutter, engagierte Cops und zahlreiche falsche Spuren.

So führen die Spuren im Fall des verschwundenen Kindes ins Drogenmilieu. Scheinbar ist Amandas Mutter in das Geschäft von Drogendealer geraten, die ihre Reviere neu unter sich aufteilen möchten. Doch je tiefer Patrick Kenzie und Angie Gennaro in das Geflecht eindringen, umso dünner werden die Spuren. Kann es sein, dass jemand ein falsches Spiel mit den beiden spielt?

Gone Baby gone ist ein hervorragend komponiertes Stück Kriminalliteratur. Das hat zum Einen mit dem Plot zu tun, der sowohl Patrick und Angie als auch uns als Leser lange Zeit über im Dunkeln tappen lässt. Lehane hat einen echten Krimiknoten entworfen, der sich nur zögerlich entwirrt. Hierbei kommt aber auch der andere Faktor des Buchs zum Tragen. Das ist sein Tempo und sein Timing.

Dennis Lehanes erzählerische Souveränität

Von den Pointen in den Dialogen bis hin zum übergreifenden Rhythmus dieses Buch ist hier alles wohlgesetzt. Obschon die Thematik des Buchs keine leichte ist, schafft es Lehane, die Komplexität, die dieses Thema bedingt, sehr gut im Buch einzubauen. Ohne allzu viel verraten zu wollen – aber einige Aspekte gehen auch ob ihrer Drastik doch erheblich an die Nieren. Lehane schafft es allerdings, die Entscheidungen, die einigen der Protagonist*innen hierbei abverlangt werden, angemessen ambivalent und realistisch zu schildern.

Das ist gut gemacht und zeigt, dass Lehane seinen Themen gewachsen ist. Und mit knapp 580 Seiten Länge ist das Buch das bisher dickste der Reihe. So etwas wie Langeweile kommt trotz zäher Ermittlungen und widersprüchlicher Spuren aber zu keinem Zeitpunkt auf. Erzählerische Klasse paart sich hier mit einem originellen Fall, dem wie eigentlich dem gesamten Werk Dennis Lehanes ein großes Publikum zu gönnen wäre. Vielleicht ist ja wenigstens mit den Besprechungen hier in der Buch-Haltung ein Anfang gemacht.

Der Übersichtlichkeit halber hier die richtige Reihenfolge der Kenzie/Gennaro-Reihe:


  • Dennis Lehane – Gone Baby Gone
  • Aus dem Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-257-30045-1 (Diogenes)
  • 576 Seiten. Preis: 17,00 €
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Johann Scheerer – Unheimlich nah

Wie wird man erwachsen, wenn man rund um die Uhr von Bewachern umgeben ist? Wie es sich anfühlt, zwischen dem Wunsch nach Freiheit und dem Bedürfnis nach Sicherheit aufzuwachsen, davon erzählt Johann Scheerer. Sein zweiter Roman Unheimlich nah setzt nach der Rückkehr seines entführten Vaters Jan Philipp Reemtsma ein.

Die Geschehnisse rund um die Entführung des berühmten Hamburgers beschrieb Scheerer vor drei Jahren in seinem Buch Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Entführung, die damals die Bundesrepublik in Atem hielt, schilderte Scheerer damals aus seiner kindlichen Sicht. Die Unsicherheit, die Verhandlungen mit den Entführern und seinen Wunsch nach etwas Normalität. Das waren Themen, von denen der Musikproduzent in seinem Debüt erzählte. Diese Themen haben sich im zweiten Buch nur wenig geändert.

Zwar ist nun die Unsicherheit durch die Entführung des Vaters verschwunden. Doch so etwas wie Normalität im Leben der Familie Reemtsma ist weiterhin Fehlanzeige. Scheerer beschreibt, wie nun durch Sicherheitsunternehmen die Familie abgeschirmt wird. Stets befindet sich ein Bewacher in Rufnähe Johanns. Das Hamburger Heim wird hochgerüstet, Überwachungskameras, Sicherheitszaun und Patrouillengänge gehören nun zum Leben der Reemtsmas dazu. Scheerer beschreibt besondere Urlaube unter Polizeischutz, die Monotonie der Tage, zu deren Routine nun auch immer das Abmelden und das Bescheidgeben gehört. Er erzählt von Schießübungen im Wald, Fahrsicherheitstraining und der Schwierigkeit von Partys und Dates mit dem Wissen um die Bewachung im Hinterkopf.

Einblicke ins Innere der Familie Reemtsma

Wie schon im ersten Teil gibt Scheerer auch hier Einblicke in das Familienleben, das durch die Entführung eine so unterwartete Zäsur erhielt. Die Entführung Reemtsmas beschäftigte damals ja die ganze Öffentlichkeit. Der Blick auf die Familie und die Nachwehen der Tat waren für die Boulevardberichterstattung damals aber nachrangig. Schon mit seinem ersten Band setzte Scheerer dem öffentlichen Narrativ seine Sicht entgegen. Diesen Weg geht er mit Unheimlich nah konsequent weiter.

Johann Scheerer - Unheimlich nah (Cover)

Der literarische Gehalt dieses Buchs ist in meinen Augen dabei eher zu vernachlässigen. Scheerer erzählt ohne klar erkennbaren Höhepunkt oder eine besondere kunstvolle Gestaltung. Auch bleibt die Introspektion der Figur etwas auf der Strecke, Scheerer konzentriert sich eher auf das Erzählen von episodisch Erlebtem. So liegen die Qualitäten eher in seinen einsichtsreichen Schilderungen und seinem Schlüssellochblick auf die Familie Reemtsma.

Was dann aber bei einem solchen Spitzentitel doch sehr überrascht, ist das schlampige Lektorat des Buch.

Anschlüsse stimmen nicht und in einem Absatz gelingt sogar das Kunststück, den Namen des Schauspielers Brad Pitt auf zwei verschiedene Arten falsch zu schreiben. Das muss man auch erst einmal schaffen, markiert doch schon jedes handelsübliche Rechtschreibprogramm solche Schnitzer.

Dass Jasmin den Jungsfilm so mochte, fand ich wahnsinnig aufregend. Ob es an Brat Pitts Oberkörper lag? Ich zog meinen Bauch ein, schob den Gedanken zur Seite und lehnte mich mich vorsichtig zu ihr hinüber. Unsere Knie berührten sich schon. Irgendwann auch unsere Schultern und Hände, und als sich im Film einen Moment lang nicht geprügelt wurde und Bratt Pitt mal ein Hemd trug, beugte sie sich zu mir rüber und küsste mich.

Johann Scheerer – Unheimlich nah, S. 250

Bei einem ordentlichen Lektorat hätten solche groben Schnitzer auffallen müssen. Für einen so beworbenen und als Spitzentitel kalkulierten Roman überrascht das schon. Hier wäre mehr Sorgfalt angeraten gewesen.

Fazit

Von solchen Ärgernissen abgesehen ist Unheimlich nah ein interessanter Blick durchs Schlüsselloch der Familie Reemtsma. Zudem steckt im Buch auch eine Coming of Age-Erzählung, deren Protagonist sich zwischen den Polen des Freiheitsdrangs und des Sicherheitsbedürfnisses bewegt. Literarisch nicht weltbewegend und von begrenzter Introspektion, aber eben doch auch einsichtsreich, was das Gefüge der Familie belangt. Und auch wenn die zeitgeschichtlichen Bezüge für jüngere Leser eher abstrakt bleiben dürften: Unheimlich nah ist auch für ein jüngeres Lesepublikum geeignet, ist doch das im Buch verhandelte Thema der Selbstfindung eines, das besonders auch ein solches Publikum ansprechen dürften.


  • Johann Scheerer – Unheimlich nah
  • ISBN 978-3-492-05915-2 (Piper)
  • 331 Seiten. Preis: 22,00 €
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