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Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Was ist nicht schon alles über die Ewige Stadt geschrieben worden. Als Ziel der Grand Tour, Magnet für Touristen, Bildungsreisende und Künstler*innen seit jeher ist eine schon eine unmöglich zu überblickende Fülle an Büchern über die italienische Hauptstadt geschrieben worden. Braucht es da noch ein weiteres Buch über die Faszination Rom? Unbedingt, wenn der Verfasser des Ganzen Golo Maurer heißt.

Denn er legt mit Rom – Stadt fürs Leben einen persönlichen Blick auf jene Stadt vor, die ihn ebenso begeistert, wie sie ihn mit ihren Eigenheiten manchmal schier den Verstand zu kosten scheint. Aber selbst alle Verzweiflung ist hier doch auch nur eine etwas geartete Form von Rom-Liebe, an der er seine Leserinnen und Lesers enorm vergnüglich und sprachlich burlesk teilhaben lässt und mit der er auf den Spuren von Ferdinand Gregorovius wandelt.


Strenggenommen ist ja schon eigentlich fast alles über die Stadt am Tiber geschrieben worden, mit ihren Nebeneinander von Kirchen, Kunstwerken, dolce vita und sprezzatura. Alleine in diesem Herbst erscheinen dutzende Publikationen, die sich – besonders bedingt durch den Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse – mit dem Zauber Roms befassen. Auch Golo Maurer fügt sich in diese Riege an Titeln ein, ragt aber zugleich mit seinem persönlichen Blick auf die Stadt aus dieser Riege heraus.

Denn ihm gelingt mit Rom – Stadt fürs Leben eine großartige Einführung in das, was es heißt, Römer zu sein in einer Stadt, die mit ihren Eigenheiten von Zeit zu Zeit herausfordert, verzweifeln lässt, aber am Ende immer beglückt. Kundig und mit einem bewundernswerten Sinn für Sprache, Timing und Übertreibung lässt er uns alle an diesen Emotionen teilhaben, die die Ewige Stadt hervorzurufen im Stande ist.

Parolacce, ÖPNV und Marmortische

Golo Maurer - Rom - Stadt fürs Leben (Cover)

Dabei lässt Maurer bei seinem persönlichen Blick so gut wie nichts aus. Einführung ins Parolacce, den Gebrauch von Schimpfwörtern, über die Tücken des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Hauptstadt bis hin zum Lebensgenuss, reichend vom Zauber der Marmortische in Trattorien bis hin zum Barbier.

Acht Kapitel nebst Vor- und Nachrede bilden den Korpus dieses Buchs, das beginnend mit dem Historie Roms und ihren Hügeln über Themen wie die römische Politik bis hin zu den „Römischen Idyllen“ führt. Darin beschreibt Maurer seinen eigenen Blick auf das Leben in Rom in einem sprachlich höchst eleganten und mit Humor punktenden Erzählstil.

Mal ist es die Verzweiflung, wenn der Bus Assoziationen zu Herman Melvilles Moby Dick weckt, gleicht schließlich das Ausharren nach dem legendären Wal an Bord der Pequod dem Warten auf der Haltestelle, wenn sich keine Sichtung des begehrten Fahrzeugs einstellen mag. Mal lässt er sich über die unerschütterliche Liebe der Italiener zum Plastik und dessen Nicht-Entsorgung aus. Sein Groll über das Land, in dem nicht nur die Zitronen blühen, sondern ebendiese gleich in Plastik eingestretcht werden, ist nicht nur durch den Blick des Deutschen auf die Eigenheiten der Römer höchst komisch.

Abrechnung und Hommage

Rom – Stadt fürs Leben ist so nicht nur eine Abrechnung und Hommage an das Leben in der Ewigen Stadt, es ist auch ein schönes Mittel, sollte man von einem akuten Anfall von Sehnsucht auf das Dolce Vita in der italienischen Hauptstadt heimgesucht werden. Man schlendert mit dem Autor durch die Trattorien oder wird bei einer wagemutigen Wanderung von Rom nach Neapel (die in Ton und Gestus an die großen Abenteuer der Grand Tour vergangener Zeiten gemahnt) sogar gefährlichen Raubtieren ansichtig.

Liest man Maurers Buch, mag man zwar von manchen Aspekten des Lebens dort auf den Hügeln Roms abgeschreckt sein – umso größer ist aber die Begeisterung für die Stadt, hat man dieses Buch beendet. Es weckt Sehnsucht und zeigt uns Deutschen auf, wie es gehen kann, mit der Kunst des schönen Lebens.

Unterhaltsam, sprachlich elegant, hochkomisch, ehrlich sind die Betrachtungen von Leben und Leben Lassen, vom Wandel in der Stadt und der Faszination für sie, die sich doch seit jeher erhalten hat und dies gewiss noch lange tun wird. Nicht nur im Zuge des Gastlandauftritts als Einführung in das römische Leben dieses modernen Gregorovius ist dieses Buch höchst lesenswert!


  • Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben
  • ISBN 978-3-498-00380-7 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht

Das Kino als Fluchtpunkt und als Errettung aus aller Trübnis und Not – Florian L. Arnold erkundet das in seinem neuen Roman Das flüchtige Licht und findet für die Welt des Films überzeugende literarische Bilder. So gelingt ihm eine Hommage an das Kino, die Stadt Rom und die Freundschaft der Kindertage, deren unterschiedlicher Facetten er in seinem Roman nachspürt.


Viel ist schon über Rom geschrieben worden und immer wieder ist der Ewigen Stadt auch in Filmen ein Denkmal gesetzt worden. Das reicht von den Kinoarbeiten Fellinis und Viscontis bis hin zu Paolo Sorrentino, der in La grande bellezza der römischen Hauptstadt ein Oscar-gekröntes Filmwerk widmete.

Der Ulmer Autor Florian L. Arnold erschafft aus der Arbeit all dieser Regisseure nun eine literarische Synthese über den Mythos Rom. Das Ganze verbindet er mit einer Hommage an das Kino und dessen lebensrettende Kraft.

La grande infanzia

Zunächst fühlt sich dabei alles wie in einem surrealen Gemälde von Giorgio de Chirico an. Eine Gruppe von Kindern wächst in einem rätselhaften Viertel einer nicht näher benannten Stadt auf, deren verwinkelte Gassen und Häuser die Kinder durchstreifen. Arnolds selbst gestaltetes Cover greift diese eigentümliche Stimmung jener Stadt auf, in der Spucino, Elio, Gianni und Aurelio eine verschworene Freundesgruppe bilden.

Florian L. Arnold - Das flüchtige Licht (Cover)

Auch der auch der rothaarige Enzo hätte gerne Zugang zu dieser Bande. Doch der „Junge mit dem Faunsgesicht“ ruft bei den anderen Kindern nur Ablehnung und Spott hervor. Nicht nur aufgrund seines Halbwaisen-Status wird er von den anderen Kindern gehänselt und mit abschätzigen Bezeichnungen wie „Das Gerippe“ oder „Der Zwerg“ versehen. Sogar bis hin zu Wünschen nach dem Tod Enzos reicht die Palette kindlicher Bosheit und Niedertracht.

Eines Tages verschwindet Enzo dann tatsächlich aus diesem Teil der Stadt, um durch Zufall in die Dreharbeiten eines Films des „Monsignore“, eines berühmten Regisseurs, zu stolpern. Dieser erkennt in Enzo das fehlende Puzzlestück für seinen Kinofilm Legenda, für den er den Jungen kurzerhand besetzt. Nicht nur für den Regisseur eine Fügung, sondern auch für Enzo ein Erweckungserlebnis, ist er doch von dieser magischen Welt des Films und seiner Erschaffer wie verzaubert.

Cinema paradiso

Aber nicht nur Enzo ist von der Welt des Films wie verzaubert. Auch für Gianni wird im Erwachsenenalter die Welt der Lichtspielhäuser zu dem Ort, an dem er sich am lebendigsten fühlt. Dort in der Welt der Filme findet er das, das ihm in der realen Welt nicht bieten kann.

Jeder ging ins Kino, das war nichts Außergewöhnliches, jedoch: Keiner kam so zerbrochen, verformt, mit Träumen angefüllt wieder heraus wie er. Im Kino war alles ohne Vorsicht und ohne Scham, dort war er der Liebende, auf der Leinwand sah er die eigenen Gefühle, erkundete er erschüttert und oft erstaunt seine Untiefen, seine Empfindungen, die er draußen, im zweidimensionalen Raum seines Lebens, nicht kannte. Manchmal kam er beruhigt aus dem Kino, weil er dort eine flüchtige Zärtlichkeit für andere Menschen empfunden hatte, während er draußen, im Ernst des Lebens, noch nicht einmal eine echte erste Liebe gefunden hatte, nun, da er vierunddreißig war.

Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht, S. 70

Der Cineast wird zum Filmjunkie, abhängigen von der Welt des Zelluloids. Manisch sucht er die unterschiedlichsten Kinos auf, wo er dann zufällig auf die Spur seiner eigenen Vergangenheit gerät, als er eines Tages auf der Leinwand einen rothaarigen Schauspieler erkennt, den er aus seiner eigenen Kindheit noch so gut kennt.

Lichtspiel

Nicht nur hier fallen Illusion und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Mit harten Schnitten und einer collageartigen Erzählweise montiert Arnold die Leben und Themen seiner Figuren zusammen. Der Monsignore als großer Bilderdenker und noch vielmehr als Menschenlenker. Enzo als Ruheloser, der für die Welt des Kinos und des Films alles gibt, um dem Monsignore und vor allem Luisa nahezusein, die er bei den Dreharbeiten kennenlernte. Gianni und dessen farbloses Leben, das erst im Kinosaal wieder an Farbe und Tiefe gewinnt. Vor allem aber sind es auch die Träume der Kindheitstage, die seit dem Aufwachsen in den verwunschenen Gassen des Stadtviertels zerstört wurden und die nur noch in Filmen auf der Leinwand Bestand haben.

Überhaupt, die Läufe des Lebens, sie sind auch ein Motiv dieses Romans. Von der Verschworenheit der Kinderbande bis hin zur Entfremdung im Erwachsenalter, als man sich aus den Augen verloren und sich die Lebenswege gabelten, die hin zu so unterschiedlichen Karrieren als Angestellter, Filmstar, Clown oder Autohändler führten, Arnold zeichnet all das in seinem Roman manchmal skizzenhaft, dann wieder in präzisen Nahaufnahmen nach.

Das flüchtige Licht ist ein Gesamtkunstwerk, das in seinen unterschiedlichen Erzählsträngen, lyrischen Kurzaufnahmen und Spots, Zeichnungen des Autors, der verbindenden Sprachmacht und den unterschiedlichen Perspektivwechseln viele Elemente zu einem stimmigen Ganzen findet.

Fazit

Arnolds Roman funktioniert als Verneigung vor einem Rom, das sich als Kunstmotiv schon lange von der Wirklichkeit entkoppelt hat, wie auch vor dem Leben und dessen Überraschungen, das es für uns alle bereithält. Das flüchtige Licht spürt der Verzauberung der Welt nach, gibt der Entzauberung der Welt aber ebenso Raum. Denn so wie das Licht auf der Leinwand tanzen und uns in anderen Welten entführen kann, ebenso flüchtig ist dieses Licht doch auch. Es kann verschwinden und Menschen im Dunkeln zurücklassen.

Das zeigt dieser Roman gekonnt und gleicht damit einem guten Arthaus-Film. Nicht alles erschließt sich sofort, manches wird man auch erst bei einer zweiten Lektüre entdecken. Aber so schenkt dieser Roman neue Perspektiven und erzählt von der Kraft der Träume und der Fantasie, vom Kino und Kindheit – und nichts weniger als von dem Zauber, der von Filmen ausgehen kann. So gelingt Arnold der eine gelungene stilistische und inhaltliche Synthese, die Lust macht, nach der Lektüre schnellstmöglich Rom oder mindestens ein gutes Kino in der Nähe aufzusuchen.

Eine weitere Meinung zu Das flüchtige Licht gibt es auf dem Blog Begleitschreiben.


  • Florian L. Arnold – Das flüchtige Licht
  • ISBN 978-3-947857-20-3 (Mirabilis)
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 €
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Elsa Morante - La Storia (Cover)

Elsa Morante – La Storia

Mit La Storia wagt der Wagenbach-Verlag die Neuausgabe des antifaschistischen Monumentalromans von Elsa Morante aus dem Jahr 1974. In der Übersetzung von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski gibt es die Geschichte von Ida und ihren beiden gegensätzlichen Kindern zur Zeit des Zweiten Weltkriegs nun (wieder) neu zu entdecken. Ein Buch, das zur im wahrsten Sinne des Wortes zur rechten Zeit kommt.


Es ist eine augenfällige Diskrepanz zwischen dieser Neuausgabe des Wagenbachverlags und der Originalausgabe von La Storia im italienischen Verlag Einaudi im Jahr 1974. Denn einst bestand die Autorin Elsa Morante auf einer preisgünstigen Taschenbuchausgabe, um eine möglichst hohe Verbreitung ihres Romans zu erzielen. Nun, genau fünfzig Jahre und einige Preissteigerungen später, gibt es den Roman für stolze 38 Euro als Hardcover bei Wagenbach neu zu erwerben. Einer möglichst großen Verbreitung leistet ein derartiger Preis in Zeiten eh schon zurückhaltenden Konsumstimmung wahrscheinlich keinen großen Vorschub.

Nachvollziehbar, klug und notwendig ist diese Neuedition aber unbedingt. Schließlich gibt es hier einen Roman (wieder) zu entdecken, der psychologisch genau, historisch akkurat und eindringlich von den Kriegsgräueln, vom Leben unter dem Faschismus und vom Durchschlagen dreier unterschiedlicher Figuren erzählt. Ein Meilenstein der italienischen Nachkriegsliteratur, dem man sein Altern nahezu nicht anmerkt und der in der psychologischen Durchleuchtung und dem Sinn für widerständiges, manchmal erratisches und sprunghaftes Verhalten seiner Figuren zeitgenössischen italienischen Autor*innen wie Elena Ferrante vorangegangen ist.

Der Zweite Weltkrieg in Rom

Hauptsächlich chronologisch angeordnet läuft dieser Roman, obschon 1900 ansetzend, schnell auf das Jahr 1941 zu, in dem die Haupthandlung von La Storia einsetzt. Sechs Jahre umfasst die Handlung, die auch die einzelnen Kapitel des Romans bilden. Im Telegrammstil vorangestellte Zusammenfassung des politischen Geschehens, das im Menetekel des 2. Weltkriegs enden sollte, zeichnen diese kurzen Geschichtssplitter nach, ehe Morante in den folgenden Kapitel die Auswirkungen des großen Weltgeschehens auf die „kleinen“ Menschen in der Romanhandlung selbst beschreibt.

Elsa Morante - La Storia (Cover)

Dies gelingt ihr, indem sie die Römerin Ida in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Zum Zeitpunkt der Handlung zwar erst 37, dennoch bereits verwitwet, lebt die Grundschullehrerin mit ihrem Sohn Nino im römischen Stadtviertel San Lorenzo.

Als ob die Erziehung ihres Wildfangs von Sohn nicht schon herausfordernd genug wäre, wird Ida im Zuge der Vergewaltigung durch einen deutschen Soldaten im Jahr 1941 schwanger und gebärt den kleinen Giuseppe, genannt Useppe. Während nun der Zweite Weltkrieg auch in Rom unter Benito Mussolini auf seinen grausamen Höhepunkt zusteuert, wird die Lage für die drei Figuren immer komplizierter.

Aufgrund einer möglichen jüdischen Familienkomponente kippt die Nervosität von Ida zunehmend ins Panische. Die Lebensmittel werden immer weniger, die Not immer größer. Der kleine Useppe leidet ebenso wie seine Mutter Mangel – und der halbstarke Nino hat sich den Partisanen angeschlossen, um die Deutschen zu bekämpfen, die Rom kontrollieren. Für ihn kommt diese Zeit einem großen Abenteuerspielplatz gleich, der auch das Austesten der eigenen Grenzen und Männlichkeit erlaubt, während sich seine Mutter immer enger in ihr soziales und psychologisches Schneckenhaus zurückzieht.

Dann wird im Zuge des Kriegsgeschehens auch noch das Zuhause der Familie ausgebombt. Immer enger zieht sich die Schlinge des Leids und Elends um die Kehlen von Morantes Figuren.

Die Auswirkungen des Kriegs, unmittelbar erfahrbar

La Storia erzählt anschaulich von den Auswirkungen des Krieges. Unbarmherzig und mit genauem Blick schreitet Elsa Morante den Weg ab, den der Faschismus unter Adolf Hitler und Benito Mussolini für Italien bereitet hat. Die Not und das Elend der Zivilbevölkerung steht in Morantes Roman ebenso im Blick, wie sie auch tief in die Seelen von Ida und ihrer beiden so gegensätzlichen Kindern blickt.

Den täglichen Kampf um eine Handvoll Brot, die Entbehrungen, die Stimmungen und Verfasstheit des proletarischen Roms zur Zeit des Weltkriegs und in der Nachkriegszeit, das zeigt La Storia in starken Bildern. Auch gelingt der 1912 im römischen Stadtteil Testaccio geborenen Autorin das Kunststück, schwierige, da kantige und nicht unbedingt zur Identifikation einladende Figuren zu zeichnen, die im Mittelpunkt ihres Romans stehen.

Der aufsässige Nino, seine überforderte und in ihrer Überspanntheit manches Mal kaum zu ertragende Ida, dazu noch der kindliche Nino, der zwischen liebenswerten Kleinkind und Simpel pendelt: es ist allesamt schwieriges und nicht unbedingt sympathisches, aber genau dadurch markantes Romanpersonal, mit dem Elsa Morante glaubhaft ihre antifaschistische Botschaft transportieren kann.

Über 750 Seiten lang begleitet sie akribisch ihre Figuren und deren Schicksale. Das vielfache Leid und familiäre Unglück, das Faschismus in seinen Konsequenzen bedeutet, wird hier eindringlich erfahrbar, ohne dass der moralische Zeigefinger in irgendeiner Form überdehnt wird.

Antifaschistische Lektüre in Zeiten von italienischem Postfaschismus

In Zeiten, in denen in Italien Postfaschisten regieren und auch hierzulande rechte Antidemokraten erstarken, die ebendiese Zeit des Faschismus bagatellisieren und verklären wollen, gewinnt die vom Wagenbach-Verlag angestoßene Neuausgabe noch einmal an Bedeutung. Dass hier wieder eine Zugänglichkeit zu Elsa Morantes Text geschaffen wurde, ist mehr als nur zu begrüßen.

Klaudia Ruschkowski und Maja Pflug haben den Text in ein ansprechendes Sprachgewand gekleidet, haben Dialektfetzen und Liedzeilen im Original belassen und tragen deren Inhalt nach – und sorgen mit dieser Arbeit auch maßgeblich dazu, dass La Storia so neu und frisch zugänglich ist, dass es unbedingt wieder (neu) entdeckt werden sollte.

Und wer bei dem Preis des Buchs nachvollziehbarerweise schlucken sollte – an dieser Stelle sei auch wieder einmal der Hinweis auf Bibliotheken und deren Bestand und die Möglichkeit einer E-Leihe bei den angebracht. Auch ein Anschaffungsvorschlag beim Personal kann dafür sorgen, dass solche wichtigen Bücher wieder an möglichst vielen Stellen zu lesen sind, eben ganz so, wie es sich Elsa Morante vor fünfzig Jahren wünschte. Es wäre wichtig und würde sich in diesen Zeiten in vielfacher Hinsicht lohnen!


  • Elsa Morante – La Storia
  • Neu übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski
  • ISBN 978-3-8031-3365-6 (Wagenbach)
  • 768 Seiten. Preis: 38,00 €
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Francesca Melandri – Alle, außer mir

Es war eine Nachricht aus Italien, die im August aufhorchen ließ. Der häufigste Name in Mailand lautet nämlich seither Hu. Nicht mehr typisch italienische Namen wie Ferrari oder Rossi dominieren, sondern der chinesische Nachname Hu. Zwar handelt es sich bei den meisten Hus um chinesischstämmige Italiener*innen der vierten oder fünften Generation, die schon lange in Italien leben. Allerdings zeigt sich hier phänotypisch schon, dass auch Italien ein Land ist, in dem sich vieles wandelt. Über diesen Wandel hat Francesca Melandri ein gnadenloses Buch geschrieben. Es trägt den Titel Alle, außer mir und ist ein Familienepos, das wie ein Scheinwerfer mit hoher Wattzahlen auch die nicht so hellen Seiten des gestrigen und heutigen Italiens beleuchtet. Große Literatur, die – wie es großer Literatur oftmals zueigen ist – auch durchaus schmerzen kann.


Ausgangspunkt der Handlung ist ein schwarzer junger Mann, der plötzlich im Treppenhaus der Lehrerin Ilaria Profeti steht. Er behauptet, mit Ilaria verwandt zu sein. In seinem Pass steht der Name ihres Vaters. Von drei Geschwistern weiß Ilaria – doch wer ist dieser Mann, der ihr eine unglaubliche Geschichte erzählt? Und warum sollte ihr Vater ein Kind in Äthiopien haben? Attilio selbst kann keine Auskunft mehr geben. Über 90 Jahre alt ist er in seinen Erinnerungen an die Welt von gestern versunken.

Die Abgründe der italienischen Geschichte

Ausgehend von dieser unerhörten Begebenheit spannt Francesca Melandri in ihrer Erzählung einen Bogen über drei Generationen und ein ganzes Jahrhundert italienischer Geschichte. In Episoden erzählt sie sich zurück bis in Attilio Profetis Kindheit. Seinen Weg vom Sohn eines Eisenbahners bis hin zum einflussreichen und finanziell mehr als gut gestellten Vater von vier (oder fünf?) Kindern, schildert Melandri, sodass immer mehr Puzzlestücke im Laufe dieses voluminösen Romans (über 600 Seiten) zueinander finden und ein Bild ergeben. Ein rundes Bild zwar, aber kein schönes. Denn es sind viele Adjektive, die Attilio im Laufe seines Jahrhundertlebens gesammelt hat: korrupt, rassistisch, bigamistisch, faschistisch, um nur ein paar zu nennen.

Francesca Melandri - Alle, außer mir (Cover)

So nimmt Attilio als Schwarzhemd am Abessinienkrieg teil, wirkt willfährig am faschistischen Regime des Duce Benito Mussolini mit. Für den Rassenforscher Lidio Cipriani beteiligt er sich in Äthiopien und Eritrea an rassistischen Forschungen, nutzt später sein Wissen und seine Verbindungen, um im Nachkriegsitalien seine Machtansprüche und seinen Willen durchzusetzen. Bis in die Gegenwart reichen die Auswirkungen der Geschichte, etwa wenn der libysche Diktator Muammar Gadaffi nun 2010 zum Staatsempfang bei Silvio Berlusconi erscheint. Flucht, Rassismus und faschistisches Denken sind Themen, die Francesca Melandri in ihrem Buch mehr als eindrucksvoll behandelt.

Die etwaige Kontinuität der Geschichte ist genauso eine Frage, wie die, was man eigentlich von seinen Eltern und deren Geschichte weiß. Dass das oftmals gar nicht so viel ist, beweist Alle, außer mir auf literarisch hintersinnige Art und Weise. Dass sich das Buch dabei in Deutschland weitaus besser als in Italien verkaufte (nur knapp 10.000 Exemplare davon wurden in Melandris Heimat abgesetzt), das überrascht nicht.

Die Wunden der Vergangenheit

Denn es ist kein Finger, den Melandri in die Wunden der italienischen Vergangenheit legt. Es ist eine ganze Faust.

Es sind nicht nur die Verbrechen des Kolonialismus und die Kriegsverbrechen in Libyen, Eritrea oder Äthiopien, die die italienische Autorin schmerzhaft und teilweise äußert brutal illustriert. Sie zeigt auch die Korruption und die Verlogenheit der aktuellen italienischen Politik (Stichwort Bunga Bunga). Den Rechtsdrift, die grassierende Korruption, die Verlogenheit im Umgang mit Migrant*innen und der Wandel der italienischen Gesellschaft – all das sind Themen in Alle, außer mir. Dass das in Italien nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß, das verwundert bei der Gnadenlosigkeit und der Präzision dieses Buchs nicht.

Fazit

Die Verbrechen des Kolonialismus, die Abgründe der eigenen Familiengeschichte, die Bigotterie unserer heutigen Flüchtlingspolitik. All das verhandelt Alle, außer mir auf mehr als ansprechende und geschickt montierte Art und Weise. Ein Buch, dass eine andere Geschichte Italiens erzählt, fernab von Dolce vita und Pastaseligkeit. Großartig gemacht und toll von Esther Hansen übersetzt. Ein verdienter Bestsellererfolg!


  • Francesca Melandri – Alle, außer mir
  • Übersetzt aus dem Italienischen von Esther Hansen
  • ISBN: 978-3-442-71686-9 (Wagenbach, Taschenbuch bei btb)
  • 608 Seiten. Preis: 12,00 €

Titelbild: Von Niccolò Caranti – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70002512

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John Williams – Augustus

Die Erfolgsgeschichte von John Williams mutet ziemlich kurios an. Zu Lebzeiten recht erfolglos brachte der amerikanische Professor und Schriftsteller nur vier Romane zuwege, darunter die Titel Stoner und Butcher’s Crossing. Der Erfolg blieb recht überschaubar und erst 20 Jahre nach seinem Tod avancierten die oben genannten Bücher zu Welterfolgen. Die einzige Ausnahme stellt sein letzter Roman Augustus dar, der ihm schon zu Lebzeiten den National Book Award einbrachte und die Kritik aufhorchen lies.

Genau 43 Jahre nach dieser Auszeichnung erscheint der Roman nun von Bernhard Robben ins Deutsche übertragen bei dtv. Im Vergleich zu den beiden schon zuvor publizierten Romanen lässt sich hier konstatieren – dieser Roman fällt aus dem Rahmen. Nicht nur wegen des Topos, das von den amerikanischen Settings komplett abweicht, sondern auch von der Schreibweise her.

augustus

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte des Gaius Octavius Cäsar, der unter seinem Namen Oktavian beziehungsweise Augustus zu einem der wichtigsten Persönlichkeiten der Geschichte wurde und diese entscheidend mitprägte. Für seine fiktive Biographie des Cäsaren wählt Williams die Form einer Collage. Chronologisch spannt der Autor den Bogen von den Jugendjahren Augustus über dessen Nachfolge des ermordeten Cäsars bis hin zu seinem Tod im Alter von 77 Jahren bei Neapel. Dabei lässt er Weggefährten und Augustus selbst in Briefen, Tagebüchern und Berichten erzählen. Viele der Protagonisten stehen in häufiger Korrespondez miteinander und berichten dabei von der Entwicklung Octavians hin zu Augustus. Dichter wie Vergil oder Horaz schreiben über ihn, Seneca und Cicero finden mit ihren Schriften auch Eingang in den Roman. Williams verwendet für seinen Roman sogar in den Text eingebaut Auszüge aus der Propagandaschrift Res gestae divi Augusti, die die Heldentaten Augustus‘ preisen.

Dies ist profund gestaltet, allerdings ist dieses Buch auch das forderndste aus Williams Feder. Die Lektüre von Augustus ersetzt ein ganzes Pro-Seminar der römischen Geschichte, so detailliert hat sich der Autor eingearbeitet. Neben den zahlreichen berühmten schon oben geschilderten Namen treten auch noch weitere historische Figuren wie der spätere Kaiser Tiberius oder Augusts Weggefährten wie Maecenas und Salvidienus auf. Da die Charaktere auch untereinander immer wieder schreiben, Tagebucheinträge an Erinnerungen montiert sind und das Personaltableau nahezu uferlos ist, braucht man für diese Lektüre schon jede Menge Konzentration bzw. Erinnerungsvermögen, um alle wichtigen Charaktere im Kopf zu behalten. Erleichterung verschaffen da die angefügte Zeittafel und das Who’s who im Alten Rom. Auch der angehängte aufschlussreiche Essay des Williams-Kenner Daniel Mendelsohns soll hier lobend Erwähnung finden.

Fazit: Zweifelsohne Williams‘ ambitioniertester Roman, dessen Lektüre einiges an Zeit bzw. Willen zur Einarbeitung verlangt. Wer dies mitbringt, wird mit einem kenntnisreichen und durchaus auch modernen Roman belohnt, der mit Gewinn (wiederzu-)entdecken ist!

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