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Timothy Garton Ash – Europa

Eine persönliche Geschichte

Wie soll man von Europa reden, wie seine Geschichte und seine Entwicklungen zusammenfassen? Der Brite und stolze Europäer Timothy Garton Ash entscheidet sich in seinem Buch Europa für eine persönliche Herangehensweise, indem er die mannigfaltigen Berührungspunkte seines Lebens mit der europäischen Idee in den Mittelpunkt stellt.


Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Brite, Professor für Europäische Studien an der University Oxford, ein Buch schreibt, das Europa lobpreist. Timothy Garton Ash weist selbst in seinem Buch auf die Umstände hin, die Großbritannien aus der Europäischen Union ausscheiden ließen – und lässt keine Zweifel an seinem Schmerz über diesen Zustand. Denn Europa ist trotz aller Krisen und Probleme eine ebenso richtige wie wichtige Idee, an der auch der Brexit nichts ändert, wie Garton Ash meint.

Die Geschichte Europas seit 1945

Dieser Idee, ihrer Entstehung und Entwicklung geht er im Lauf der folgenden gut 430 Seiten ausführlich nach. Da die Geschichte Europas aber ebenso heterogen wie ihre Mitgliedsstaaten ist, wählt Timothy Garton Ash einen klugen Erzählansatz, den auch schon der Untertitel des Buchs verrät. Anstelle einer Analyse der Gleichzeitigkeit und Verschiedenheiten in der Historie der EU geht der Brite radikal subjektiv an sein Erzählprojekt heran. So nimmt er seine eigene Geschichte in den Blick, die auf das engste mit den entscheidenden Entwicklungen und Weichenstellungen der Europäischen Union verknüpft ist, wie die folgenden Seiten eindrücklich unter Beweis stellen.

Timothy Garton Ash - Europa (Cover)

Angefangen vom Jahr 1945 in der Stunde Null (die es so einheitlich in Europa niemals gab, wie Garton Ash zeigt) blickt der Historiker auf den Neubeginn der europäischen Idee und Gemeinschaft. Dafür begibt er sich nach Deutschland, das schon sein eigener Vater nach dem D-Day als englischer Soldat befreite, und das nun zu seinem Ausgangspunkt für seine Geistesgeschichte Europas wird. Ausgehend von der Idee nach der Erfahrung der Kriegsgräuel, einen besseren Ort zu schaffen, der solchen Schrecken wie dem Zweiten Weltkrieg verhindern sollte, geht es dann zurück in Timothy Garton Ashs eigene Jugend.

In dieser lernte der 1955 geborene Brite erstmals die 68er-Bewegungen kennen, erfuhr die Aufbruchsstimmung rund um die Solidarnosc-Bewegung in Polen mit ihrem Führer Lech Walesa, war in Deutschland Zeuge eines geteilten Landes und erlebte dieses Europa als einen Ort der Vielfalt und Ungleichzeitigkeit, was er in seinem Buch mit dem Begriff eines Kaleidoteppichs umreißt, der für ihn Europa ausmacht:

Der Kaleidoteppich als Symbol Europas

Welche Metapher kann diese Vielfalt auch nur annähernd erfassen? Palimpsest? Millefeuille? Patchwork-Quilt? Das Beste, was mir einfällt, ist eine Kombination aus Kaleidoskop und Wandteppich: ein Kaleidoteppich. Europa ist ein Wandteppich in dem Sinne, dass er von vielen Händen bearbeitet wurde, um ein einziges, einzigartiges Bild zu schaffen – eine Straßenszene vielleicht oder eine Landschaft oder ein Ereignis wie den Palio, das Pferderennen zwischen benachbarten Gemeinden auf dem Hauptplatz von Siena, das erstmals für das Jahr 1239 dokumentiert ist und immer noch alljährlich stattfindet.

Aber es ist auch ein Kaleidoskop, denn immer wieder tauchen dieselben bunten Elemente in neuen Kombinationen auf: die immer wiederkehrende visuelle Grammatik von Kirche, Schloss, Marktplatz und Rathaus, Anspielungen auf Rom, Elemente der Gotik, des Barock, des Jugendstils oder des Brutalismus der 1960er Jahre; Leitmotive wie der Minotaurus, die Sirenen oder die Madonna mit dem Kind, Cafés in allen möglichen Formen und Arten; der griechische Kaffee, der dem türkischen so merkwürdig ähnelt, Kohl in unendlichen gastronomischen Variationen. Überall findet man Feinheiten, die einzigartig sind, oder das, was in vielen europäischen Sprachen als „typisch“ bezeichnet wird, neben anderen, die verblüffend vertraut sind. Wenn man die Nationalhymne Liechtensteins anstimmt, hört man die Melodie von „God save the queen“. Das Gleiche, und doch anders, anders und doch gleich.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 72

Doch eine einzige Erfolgsgeschichte ist dieses Europa natürlich nicht, was immer deutlicher wird, je näher sich das Buch an die Gegenwart heranarbeitet. So gelang es im Laufe der 68-Bewegung und durch den langsamen Zerfall der Sowjetunion, viele Länder aus ihren Diktaturen zu befreien. Von Portugal über Spanien bis hin nach Osteuropa – viele langjährige Machthaber und ihre Staatsparteien verschwanden und die Demokratie trat ihren Siegeszug an.

Europa in Gefahr

Ebenso wie aber beispielsweise Länder wie Ungarn oder Polen das Joch der Diktatur abstreiften, ebenso zerbrechlich war aber die neue Freiheit, was sich aktuell in Ungarn unter Premier Viktor Orban am deutlichsten zeigt. Aber auch Polen mit der regierenden PiS-Partei war ein Negativbeispiel eines solchen Rückfalls in autokratische Zeiten, obgleich man dem Land nun nach der Abwahl der Partei unter ihrem Strippenzieher Jaroslaw Kaczynski einen raschen Weg zurück zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wünscht.

Die Demokratie, sie ist ein bedrohtes Gut, das zeigt Timothy Garton Ash in seinen Ausführungen sehr deutlich. Nicht nur der aktuell grassierende Rechtsruck in fast allen Ländern Europas, der durch Probleme mit der Migration verstärkt wird – auch sein eigenes Heimatland entschied sich lieber, populistischen Lügen und Unwahrheiten zu folgen, statt sich auf die Stärken der Europäischen Gemeinschaft zu besinnen, was Garton Ash lesbar schmerzt:

Ich verspürte einen beinahe körperlichen Schmerz, als nach dem Brexit die europäischen Flaggen an offiziellen Gebäuden in Großbritannien abgenommen wurden und wir stattdessen mit dem Schauspiel der Churchill-Parodie Boris Johnson konfrontiert waren, der jetzt allein von zwei Union Jacks flankiert wurde. Etwas Größeres war verloren gegangen, so wichtig wie die Freizügigkeit oder die Mitgliedschaft im Binnenmarkt: das Bestreben, gleichzeitig unser nationales Selbst und mehr als nur unser nationales Selbst zu sein.

Timothy Garton Ash – Europa, S. 177

Gut lesbar, unterhaltsam, minimal elitär prunkend

Hier wird auch die Erzählweise dieses sehr gut lesbaren Buchs offenbar. Denn anstelle von Fußnoten und Zitaten entscheidet sich Garton Ash, seine Quellen nur auf der Verlagshomepage nachzuweisen und auf lange Zitate und Zeugnisse seiner eigenen Bildung zu verzichten. Stattdessen ist sein Buch ganz in der angelsächsischen Tradition der Geschichtsschreibung verhaftet. Das bedeutet einen flüssigen, barrierefreien Stil, der sich auch subjektive Wertungen und Einordnungen erlaubt. Seine Ausführungen sind nachvollziehbar, gut lesbar und wirklich unterhaltsam (übersetzt durch Andreas Wirthenson).

Manchmal gerät das Ganze dabei doch etwas arg elitär prunkend, etwa wenn Garton Ash immer wieder auf seine Kontakte und Zugänge zu den Schaltzentralen der Macht verweist. Von Gesprächen im Kanzlerbungalow mit Helmut Kohl über Hintergrundgespräche mit Tony Blair bis hin zu Konsultationen mit Ang Suu Kim oder Viktor Orban stellt sein Buch die Weltläufigkeit seines Verfassers sehr gerne aus.

Weil das aber mit erkenntnisreichen Passagen und neben allem Sinn für die großen Momente auch durchaus mit einem Sinn für Selbstkritik und dem Benennen von Fehleinschätzung einhergeht, sehe ich das diesem ebenso gut vernetzten wie gut erzählenden Professor und Träger des Aachener Karlspreises sehr gerne nach.

Fazit

Europa ist eine unterhaltsame Reise durch fast 80 Jahre europäischer Geschichte. Volten. Erfolge und Niederlagen, all das betrachtet Timothy Garton Ash in diesem persönlich Buch, das als Einführung in die EU hervorragend funktioniert. Neben allem Enthusiasmus für die europäische Idee lässt das Buch durch seinen Rückblick auf Vergangenes auch die Gegenwart besser verstehen. Nicht zuletzt macht Europa zudem klar, was nicht nur in diesem Jahr in Form der Europawahlen auf dem Spiel steht.

Denn einmal mehr gilt, was auch Garton Ashs Kaleidoteppich zeigt: Europa ist mehr, als die Summe seiner Einzelteile. Und wir sollten gut achtgeben darauf, damit dieser Teppich ebenso bunt und faszinierend bleibt, wie er es in den letzten achtzig Jahren war.


  • Timothy Garton Ash – Europa. Eine persönliche Geschichte
  • Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
  • Produktnummer 175045 (Buechergilde Gutenberg)
  • 448 Seiten. Preis: 32,00 €
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Stefan Hertmans – Der Aufgang

Erwies sich Stefan Hertmans in seinem Buch Krieg und Terpentin als Meister der Verknüpfung historischer Ereignisse (in diesem Falle des Ersten Weltkriegs) mit der eigenen familiären Biographie, führt er dieses Erfolgsmodell in Der Aufgang fort. Darin folgt er den Spuren des Vorbesitzers seines Hauses tief hinein in die Zeit des Nationalsozialismus und beleuchtet so die Facette flämischer Kollaborateure und Widerständler zur Zeit des des Dritten Reichs.


Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.

Stefan Hertmans – Der Aufgang, S. 7

So hebt das neue Buch von Stefan Hertmans an, das vom Diogenes-Verlag mit der Bezeichnung Roman versehen wurde. Tatsächlich ist das Buch eine spannende Mischung aus historischer Studie, persönlicher Befragung und Rekonstruktion.

Anfang der 80er Jahre erwirbt Stefan Hermans ein verfallenes Haus in der Drongenhof-Straße inmitten des Genter Stadtviertels Patershol. Kurz nachdem er das Haus wieder verkauft hat, stößt er auf das Buch seines alten Professors Adriaan Verhulst. Darin schilder diese seine Kindheit in jenem Haus, dessen kurzzeitiger Besitzer Hertmans war. Die Beschreibungen der familiären Vergangenheit und die Tatsache, dass ein echter Nationalsozialist in diesem Haus in Drongenhof wohnte, erschüttern Hertmans nachhaltig, sodass er zu recherchieren beginnt und die Biographie der ehemaligen Bewohner des Hauses langsam erarbeitet. So setzt er das Porträt des Hauses und der Familie Verhulst zusammen, die er im Folgenden chronologisch erzählt, immer wieder unterbrochen von Gängen durch das Haus mit bewegter Geschichte.

Vom flämischen Nationalisten zum Kollaborateur

Stefan Hermnas - Der Aufgang (Cover)

Dabei widmet er sich hauptsächlich Willem Verhulst, der schon früh als flämischer Nationalist auffällt. 1898 geboren heiratet er seine jüdische Frau Elsa, die sich für Willem scheiden lässt und 1926 stirbt. Ein Jahr später ehelicht er dann Hermina, genannt Minje, eine bibeltreue Niederländerin, mit der er drei Kinder hat. Neben seinem Eifer für die flämischen Separatismus ist es auch schon bald Hitler, dessen Bewegung Verhulst begeistert und zu seinem Antrieb wird.

Nach der Machtergreifung und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird er zu einem überzeugten Unterstützer der Nazis und nimmt nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Belgien auch eine führende Rolle als Kollaborateur ein. In Gent gibt er in seinem Haus in der Drongenhof-Straße Empfänge für Nazis – sehr zur Empörung seiner empfindsamen Frau, die nur ihren drei Kindern und Gott die Treue schwört und der nicht nur die Hitlerbüste im von ihr „Totenzimmer“ getauften Salon ein Dorn im Auge ist.

Häufig kommt es zu Streitereien, Willem fällt durch lange Abwesenheiten auf – und setzt sich schließlich mit einer Geliebten nach Deutschland ab, als das Ende des Dritten Reichs naht. Dabei erzählt Hertmans sehr plastisch, fühlt sich mithilfe von Tagebüchern und Memoiren in seine Figuren ein und beschränkt sich nicht nur auf das Referieren von historischen Fakten. Immer wieder versucht er auch die Motivationen seiner historischen Figuren zu ergründen, stellt Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart her oder erlaubt sich Spekulationen, wenn er das Innenleben von Willem oder anderen Familienmitgliedern schildert:

Da ist etwas in seinem Inneren, das ihn verzweifeln lässt. Das Gefühl, das nichts mehr so sein wird wie früher. Er hat Angst, dass die Geliebte noch auf seiner Haut zu riechen ist, gleichzeitig könnte er vor lauter Verliebtheit losheulen.

Stefan Hertmans – Der Aufgang, S. 200

Das unterscheidet Der Aufgang von einem historischen Sachbuch – hier ist immer ein Erzähler im Raum, egal ob bei der Begehung mit dem Notar in der Gegenwart oder beim Blick zurück auf die Familie Verhulst. Das mag Geschichtsschreibung-Puristen verprellen – schließlich finden sich nicht einmal richtige Fußnoten im Text, nur eine Literaturliste mit Titeln, die Hertmans bei seinen Recherchen verwendete, findet sich im Anhang. Klassische Geschichtsschreibungs- und Quellenarbeit sieht natürlich anders aus.

Dafür erteilt sich Hertmans mit seinem Vorgehen und der Montagetechnik die Lizenz für literarische Freiheit, die er maximal zu nutzen weiß, um dem überzeugten Flamen und Nationalsozialisten Willem Verhulst nahezukommen. Es ist keine leichte Aufgabe, das Leben und damit die Motivationen eines Fanatikers und Nationalsozialisten nachzuzeichnen – Hertmans stellt sich ihr aber tastend und suchend und löst die Aufgabe somit aber wirklich gut. Durch die Verwendung der Tagebücher und Aufzeichnungen ist der 1951 in Gent geborene Schriftsteller immer ganz nah an seinen Figuren dran, ohne dass er den Fehler macht, zu viel für sie zu werben oder sie zu verklären.

Fazit

Stefan Hertmans Buch sortiert sich irgendwo zwischen Helmuth Lethens Die Staatsräte, klassischer Biographiearbeit und der momentan so angesagten Jahreszahlenbücher á la Illies oder Wittstock ein. Abermals gelingt es Hertmans, aus der Verbindung eigener und fremder Vergangenheit Funken zu schlagen und ein packendes und beeindruckendes Leseerlebnis zu schaffen, dass das Bild eines flämischen Kollaborateurs und dessen Familie zu erzählen.


  • Stefan Hertmans – Der Aufgang
  • Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
  • ISBN 978-3-257-07188-7 (Diogenes)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Francesca Melandri – Alle, außer mir

Es war eine Nachricht aus Italien, die im August aufhorchen ließ. Der häufigste Name in Mailand lautet nämlich seither Hu. Nicht mehr typisch italienische Namen wie Ferrari oder Rossi dominieren, sondern der chinesische Nachname Hu. Zwar handelt es sich bei den meisten Hus um chinesischstämmige Italiener*innen der vierten oder fünften Generation, die schon lange in Italien leben. Allerdings zeigt sich hier phänotypisch schon, dass auch Italien ein Land ist, in dem sich vieles wandelt. Über diesen Wandel hat Francesca Melandri ein gnadenloses Buch geschrieben. Es trägt den Titel Alle, außer mir und ist ein Familienepos, das wie ein Scheinwerfer mit hoher Wattzahlen auch die nicht so hellen Seiten des gestrigen und heutigen Italiens beleuchtet. Große Literatur, die – wie es großer Literatur oftmals zueigen ist – auch durchaus schmerzen kann.


Ausgangspunkt der Handlung ist ein schwarzer junger Mann, der plötzlich im Treppenhaus der Lehrerin Ilaria Profeti steht. Er behauptet, mit Ilaria verwandt zu sein. In seinem Pass steht der Name ihres Vaters. Von drei Geschwistern weiß Ilaria – doch wer ist dieser Mann, der ihr eine unglaubliche Geschichte erzählt? Und warum sollte ihr Vater ein Kind in Äthiopien haben? Attilio selbst kann keine Auskunft mehr geben. Über 90 Jahre alt ist er in seinen Erinnerungen an die Welt von gestern versunken.

Die Abgründe der italienischen Geschichte

Ausgehend von dieser unerhörten Begebenheit spannt Francesca Melandri in ihrer Erzählung einen Bogen über drei Generationen und ein ganzes Jahrhundert italienischer Geschichte. In Episoden erzählt sie sich zurück bis in Attilio Profetis Kindheit. Seinen Weg vom Sohn eines Eisenbahners bis hin zum einflussreichen und finanziell mehr als gut gestellten Vater von vier (oder fünf?) Kindern, schildert Melandri, sodass immer mehr Puzzlestücke im Laufe dieses voluminösen Romans (über 600 Seiten) zueinander finden und ein Bild ergeben. Ein rundes Bild zwar, aber kein schönes. Denn es sind viele Adjektive, die Attilio im Laufe seines Jahrhundertlebens gesammelt hat: korrupt, rassistisch, bigamistisch, faschistisch, um nur ein paar zu nennen.

Francesca Melandri - Alle, außer mir (Cover)

So nimmt Attilio als Schwarzhemd am Abessinienkrieg teil, wirkt willfährig am faschistischen Regime des Duce Benito Mussolini mit. Für den Rassenforscher Lidio Cipriani beteiligt er sich in Äthiopien und Eritrea an rassistischen Forschungen, nutzt später sein Wissen und seine Verbindungen, um im Nachkriegsitalien seine Machtansprüche und seinen Willen durchzusetzen. Bis in die Gegenwart reichen die Auswirkungen der Geschichte, etwa wenn der libysche Diktator Muammar Gadaffi nun 2010 zum Staatsempfang bei Silvio Berlusconi erscheint. Flucht, Rassismus und faschistisches Denken sind Themen, die Francesca Melandri in ihrem Buch mehr als eindrucksvoll behandelt.

Die etwaige Kontinuität der Geschichte ist genauso eine Frage, wie die, was man eigentlich von seinen Eltern und deren Geschichte weiß. Dass das oftmals gar nicht so viel ist, beweist Alle, außer mir auf literarisch hintersinnige Art und Weise. Dass sich das Buch dabei in Deutschland weitaus besser als in Italien verkaufte (nur knapp 10.000 Exemplare davon wurden in Melandris Heimat abgesetzt), das überrascht nicht.

Die Wunden der Vergangenheit

Denn es ist kein Finger, den Melandri in die Wunden der italienischen Vergangenheit legt. Es ist eine ganze Faust.

Es sind nicht nur die Verbrechen des Kolonialismus und die Kriegsverbrechen in Libyen, Eritrea oder Äthiopien, die die italienische Autorin schmerzhaft und teilweise äußert brutal illustriert. Sie zeigt auch die Korruption und die Verlogenheit der aktuellen italienischen Politik (Stichwort Bunga Bunga). Den Rechtsdrift, die grassierende Korruption, die Verlogenheit im Umgang mit Migrant*innen und der Wandel der italienischen Gesellschaft – all das sind Themen in Alle, außer mir. Dass das in Italien nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß, das verwundert bei der Gnadenlosigkeit und der Präzision dieses Buchs nicht.

Fazit

Die Verbrechen des Kolonialismus, die Abgründe der eigenen Familiengeschichte, die Bigotterie unserer heutigen Flüchtlingspolitik. All das verhandelt Alle, außer mir auf mehr als ansprechende und geschickt montierte Art und Weise. Ein Buch, dass eine andere Geschichte Italiens erzählt, fernab von Dolce vita und Pastaseligkeit. Großartig gemacht und toll von Esther Hansen übersetzt. Ein verdienter Bestsellererfolg!


  • Francesca Melandri – Alle, außer mir
  • Übersetzt aus dem Italienischen von Esther Hansen
  • ISBN: 978-3-442-71686-9 (Wagenbach, Taschenbuch bei btb)
  • 608 Seiten. Preis: 12,00 €

Titelbild: Von Niccolò Caranti – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70002512

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Andreas Schäfer – Das Gartenzimmer

Ein Roman wie ein Haus

Andreas Schäfer baut mit seinem neuen Roman ein Haus. Eines, das immer wieder zu neuen Entdeckungen einlädt und Überraschungen bereithält. Kunstvoll konstruiert, mit einer tollen Sprache ausgekleidet. Ein echtes Highlight!


„Sie lieben das Haus“ Auch er war verwundert: das Wort „Liebe“ in Verbindung mit seinen Empfindungen – er fühlte sich peinlich berührt, als hätte sie ihm unerwartet ein viel zu wertvolles Geschenk gemacht. „Dann hätten Sie das Haus sicher gerne für sich?“, fügte sie hinzu.

„Ach was! Solche Häuser sind ein Fluch. Man wird ihnen nie gerecht. Sie sind immer stärker als ihre Bewohner“

Schäfer, Andreas: Das Gartenzimmer, S. 249

Es ist ein verfallenes Kleinod, das der Unternehmer Frieder und seine Gattin Hannah da in Grunewald entdecken. Eine Villa mit Geschichte. Einst vom später weltberühmten Architekten Max Taubert als erstes Bauprojekt in seiner Karriere realisiert, dann dem Verfall preisgegeben. Und nun haben es Frieder und Hannah mit einem großen Aufwand und viel Geld wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückverwandelt. Doch allmählich müssen Frieder und Hannah erkennen, dass das sonnendurchflutete Heim auch seine dunklen Ecken besitzt. Die Geschichte des Hauses und seines Erbauers ist mit Makeln behaftet. Und allmählich lernen wir als Leser*innen diese Geschichte kennen, geschickt gelenkt von Andreas Schäfer.

Ein Autor wie ein Architekturführer

Dabei fungiert der Autor wie ein gekonnter Architekturführer. Abwechselnd springt er zwischen zwei zeitlichen Ebenen hin und her. Da ist zum einen die historische Ebene, die mit der Errichtung des Hauses 1909 beginnt und die um Taubert, seine Familie und das Ehepaar Rosen kreist, die Taubert mit der Konzeptionierung des Hauses betraut haben und es später bewohnen. Und dann ist da noch die zeitgenössische Ebene, die 2001 spielt. Sie kreist um die Familie von Frieder und Hannah Lekebusch, die zu den neuen Besitzer der Villa werden. Ungemeine kunstvoll verfugt er diese beiden Ebenen Stück für Stück. Dabei kommt es zu wechselseitigen Dynamiken zwischen den Strängen, beispielsweise wenn in der Gegenwart angerissene Enthüllungen dann in den Rückblenden fortgeführt und erklärt werden. Im Gegenwartsstrang gruppiert Schäfer zudem alles um einen abendlichen Empfang in der Villa Rosen, auf dem alle nach und nach eingeführten Charaktere aufeinander treffen.

Andreas Schäfer - Das Gartenzimmer (Cover)

Das Gartenzimmer funktioniert auch wie ein gekonnt geplantes und gebautes Gebäude. Immer wieder entdeckt man neue (Handlungs-)Räume. Immer wieder ergeben sich neue Blickachsen, die die Charaktere und die Handlung aus anderen Perspektiven sehen lassen oder Details freistellen. Diese erzählerische Kunstfertigkeit ist das, was mich am meisten für den Roman einnahm.

Denn Andreas Schäfer ist ein wirklich souveräner Erzähler, der es zulässt, dass Menschen mit Fehl und Tadel seinen Roman bevölkern. Alle Figuren haben ihre schlechten Eigenschaften und Seiten, alle kann man aber auch verstehen, insbesondere wenn man den Blick wechselt und aus den Augen anderer Figuren auf sie blickt. So stelle ich mir plastische Erzählkunst vor.

Architektur wird Literatur

Auch gelingt ihm der Spagat, Architektur in Literatur zu überführen grandios. So gut, wie das im englischen Sprachbereich wohl nur Ben Aaronovitch schafft. Wie er vor den Augen der Leser*innen die Villa Tauberts entstehen lässt, mit welcher Hingabe er die Räume und die Funktionsweise von Tauberts Entwürfen erklärt, das ist wirklich famos. Hier entsteht im Lauf des Romans ein sprachlich präzise und bildreich gestaltetes Haus, das ungemein faszinierend ist, in das ich aber trotz allem nicht einziehen würde.

Obwohl oder gerade weil es von Andreas Schäfer so meisterhaft beschrieben und in seiner wechselvollen Historie beleuchtet wird. Denn wie sagt schon der Feuilletonist Julius Sander im Eingangszitat: „Solche Häuser sind ein Fluch. Man wird ihnen nie gerecht. Sie sind immer stärker als ihre Bewohner.“

Andreas Schäfer hingegen ist in Form und Inhalt seinem Thema vollkommen gerecht geworden und hat einen Roman erschaffen, der ein wirklich starkes Stücke deutsche Gegenwartsliteratur darstellt.


  • Andreas Schäfer – Das Gartenzimmer
  • ISBN 978-3-8321-8390-5 (DuMont-Verlag)
  • 352 Seiten, Preis 22,00 €
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Christoph Ribbat – Im Restaurant

Eine Geschichte aus dem Bauch der Moderne

Möchte man beckmesserisch sein, dann könnte man den Untertitel von Christoph Ribbats Buch etwas in Zweifel ziehen. Denn statt einer Geschichte ist Ribbats Buch voller Geschichten, die meist nur eine halbe bis ganze Seite umfassen. Anekdoten, Schlaglichter, eben ganz viele Geschichten über und aus Restaurants. Aber nachdem die vielen Geschichten dann wieder eine ergeben, sei auch der Begriff „eine Geschichte“ erlaubt. Nun aber weg von Nebensächlichem hin zum Eigentlichen – wie ist Ribbats Buch gelungen?

Vorzüglich muss ich feststellen! Eine Metapher aus dem Kochbereich pro Rezension ist erlaubt, insofern: hier hat ein Könner etwas Fabelhaftes zurechtgebrutzelt – ein Menü in vier Gängen. Eines, das Epochen, Geistesgeschichte und Kulinarik in sich vereint und keinesfalls zu schwer daherkommt.

Ribbat lehrt eigentlich als Professor für Amerikanistik an der Universität von Paderborn. Wer nun ein Buch mit stark amerikazentriertem Blick und professoraler Schreibweise erwartet, der sieht sich schnell getäuscht. Stattdessen liegt der Schwerpunkt auf Europa mit gelegentlichen Ausflügen nach Übersee. Und ein professorale, will sagen mit viel Fachduktus und kompliziertem Zugang zum Thema versehene Schreibe, sucht man im Buch auch vergeblich. Stattdessen dominiert ein wohltuend niedrigschwelliger Zugang zum Thema, der auch mit der Erzählweise zusammenhängt.

Denn Ribbat erzählt in vier Kapiteln von den Ursprüngen und der Entwicklung der Speiseform Restaurant. Die ersten drei Kapitel (Öffnungszeiten, Nachkriegshunger und In die Gegenwart) gehen weitestgehend chronologisch der Geschichte der Restaurants nach.

Von Kellner, restaurativen Bouillons und dem Siegeszug der Schnellgastronomie

So erfährt man, wie sich um 1760 von Paris ausgehend erste Stätten entwickeln, in denen „restaurative“ Bouillons gereicht werden. Der Name Restaurant etabliert sich für die neuartige Form von Essstätten. Das Restaurant tritt schnell seinen Siegeszug an. Von Paris aus übers ganze Land, von ganz Europa bis über den großen Teich. Der Siegeszug der Restaurants ist nicht aufzuhalten. Ribbat betrachtet die Evolution, die schon bald einsetzt. Innovationen wie Arbeitsteilung in der Küche oder das soziale Verhalten von Kellner*innen in Amerika und Europa sind Themen.

Über die Zeit der Weltkriege bis hin zur Geschichte von modernen Kochtempeln wie etwa dem El Bulli oder dem Noma reicht der Bogen, den Ribbat schlägt. Er erzählt von Köchen wie etwa Jacques Pepin, Magnus Nilsson oder Ali Güngörmüs, von Kritiker*innen und Schriftsteller*innen, die ihr Leben den Restaurants gewidmet haben. Darunter finden sich Namen wie Jürgen Dollase, Barbara Ehrenreich oder Wolfram Siebeck, die im Buch porträtiert werden.

Daraus zu schließen wollen, dass Im Restaurant eine Sammlung netter Schnurren und unterhaltsamer Anekdoten ist, wäre allerdings grundfalsch.

Denn für Ribbat ist das Restaurant nur ein Brennglas, unter dem sich die soziologische, kulinarische und geschichtliche Entwicklungen minutiös ablesen lassen. So zeigt er, was die Massendemokratisierung von Geschmack, die To-Go-Kultur und das veränderte Selbstbild von Kellner*innen und Köch*innen bewirkt haben. Genauso sind auch die „Döner-Morde“ oder Erlebnisse Günter Wallraffs in einer Hamburger Mc-Donalds-Filiale in seinem Buch Ganz unten Thema. Auch widmet er dem Rassismus in Restaurants in Amerika viel Aufmerksamkeit, der dann zu Ereignissen wie den Woolworth Sit-Ins führte. Man spürt – in Restaurants wurde und wird Geschichte geschrieben.

Ein Restaurant: stets mehr als ein Restaurant

Wenn man sich in Ribbats umfangreichen Kosmos der Restaurants begibt, lernt man diese Essstätten mit ganz neuem Blick zu betrachten. Denn mag so manch einer auch nur ins Restaurant gehen, weil er Hunger hat – Restaurants sind deutlich mehr: Orte der Kommunikation und der Politik, Begegnungsstätten, Kulturorte. Das wird besonders im vierten Teil des Buchs deutlich. In Restaurants deuten liefert Ribbat den theoretischen Überbau und die Fundierung der zuvor angerissenen Thesen.

Wohin entwickeln sich Restaurants? Wie beeinflussen sie unsere Kultur und die Gesellschaft? Ribbat versucht sich an einer vorsichtigen Deutung. Dabei stützt er sich auf eine Vielzahl von Quellen, die anschließend im Anhang alle aufgeführt sind. Stolze 351 Quellen sind dort aufgeführt, allerhand dafür, dass Ribbats Text nicht einmal 200 Seiten lang ist.

Dass der Text zu keiner Zeit theorielastig, sondern immer geistreich und unterhaltsam ist, das ist die Kunst dieses Buchs und dieses Autors. 2016 war Ribbat mit diesem Buch auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – ich finde zurecht. Dieses hier zubereitete Buchmenü schmeckt nicht nur Foodies!

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