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Stefan Hertmans – Der Aufgang

Erwies sich Stefan Hertmans in seinem Buch Krieg und Terpentin als Meister der Verknüpfung historischer Ereignisse (in diesem Falle des Ersten Weltkriegs) mit der eigenen familiären Biographie, führt er dieses Erfolgsmodell in Der Aufgang fort. Darin folgt er den Spuren des Vorbesitzers seines Hauses tief hinein in die Zeit des Nationalsozialismus und beleuchtet so die Facette flämischer Kollaborateure und Widerständler zur Zeit des des Dritten Reichs.


Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.

Stefan Hertmans – Der Aufgang, S. 7

So hebt das neue Buch von Stefan Hertmans an, das vom Diogenes-Verlag mit der Bezeichnung Roman versehen wurde. Tatsächlich ist das Buch eine spannende Mischung aus historischer Studie, persönlicher Befragung und Rekonstruktion.

Anfang der 80er Jahre erwirbt Stefan Hermans ein verfallenes Haus in der Drongenhof-Straße inmitten des Genter Stadtviertels Patershol. Kurz nachdem er das Haus wieder verkauft hat, stößt er auf das Buch seines alten Professors Adriaan Verhulst. Darin schilder diese seine Kindheit in jenem Haus, dessen kurzzeitiger Besitzer Hertmans war. Die Beschreibungen der familiären Vergangenheit und die Tatsache, dass ein echter Nationalsozialist in diesem Haus in Drongenhof wohnte, erschüttern Hertmans nachhaltig, sodass er zu recherchieren beginnt und die Biographie der ehemaligen Bewohner des Hauses langsam erarbeitet. So setzt er das Porträt des Hauses und der Familie Verhulst zusammen, die er im Folgenden chronologisch erzählt, immer wieder unterbrochen von Gängen durch das Haus mit bewegter Geschichte.

Vom flämischen Nationalisten zum Kollaborateur

Stefan Hermnas - Der Aufgang (Cover)

Dabei widmet er sich hauptsächlich Willem Verhulst, der schon früh als flämischer Nationalist auffällt. 1898 geboren heiratet er seine jüdische Frau Elsa, die sich für Willem scheiden lässt und 1926 stirbt. Ein Jahr später ehelicht er dann Hermina, genannt Minje, eine bibeltreue Niederländerin, mit der er drei Kinder hat. Neben seinem Eifer für die flämischen Separatismus ist es auch schon bald Hitler, dessen Bewegung Verhulst begeistert und zu seinem Antrieb wird.

Nach der Machtergreifung und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird er zu einem überzeugten Unterstützer der Nazis und nimmt nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Belgien auch eine führende Rolle als Kollaborateur ein. In Gent gibt er in seinem Haus in der Drongenhof-Straße Empfänge für Nazis – sehr zur Empörung seiner empfindsamen Frau, die nur ihren drei Kindern und Gott die Treue schwört und der nicht nur die Hitlerbüste im von ihr „Totenzimmer“ getauften Salon ein Dorn im Auge ist.

Häufig kommt es zu Streitereien, Willem fällt durch lange Abwesenheiten auf – und setzt sich schließlich mit einer Geliebten nach Deutschland ab, als das Ende des Dritten Reichs naht. Dabei erzählt Hertmans sehr plastisch, fühlt sich mithilfe von Tagebüchern und Memoiren in seine Figuren ein und beschränkt sich nicht nur auf das Referieren von historischen Fakten. Immer wieder versucht er auch die Motivationen seiner historischen Figuren zu ergründen, stellt Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart her oder erlaubt sich Spekulationen, wenn er das Innenleben von Willem oder anderen Familienmitgliedern schildert:

Da ist etwas in seinem Inneren, das ihn verzweifeln lässt. Das Gefühl, das nichts mehr so sein wird wie früher. Er hat Angst, dass die Geliebte noch auf seiner Haut zu riechen ist, gleichzeitig könnte er vor lauter Verliebtheit losheulen.

Stefan Hertmans – Der Aufgang, S. 200

Das unterscheidet Der Aufgang von einem historischen Sachbuch – hier ist immer ein Erzähler im Raum, egal ob bei der Begehung mit dem Notar in der Gegenwart oder beim Blick zurück auf die Familie Verhulst. Das mag Geschichtsschreibung-Puristen verprellen – schließlich finden sich nicht einmal richtige Fußnoten im Text, nur eine Literaturliste mit Titeln, die Hertmans bei seinen Recherchen verwendete, findet sich im Anhang. Klassische Geschichtsschreibungs- und Quellenarbeit sieht natürlich anders aus.

Dafür erteilt sich Hertmans mit seinem Vorgehen und der Montagetechnik die Lizenz für literarische Freiheit, die er maximal zu nutzen weiß, um dem überzeugten Flamen und Nationalsozialisten Willem Verhulst nahezukommen. Es ist keine leichte Aufgabe, das Leben und damit die Motivationen eines Fanatikers und Nationalsozialisten nachzuzeichnen – Hertmans stellt sich ihr aber tastend und suchend und löst die Aufgabe somit aber wirklich gut. Durch die Verwendung der Tagebücher und Aufzeichnungen ist der 1951 in Gent geborene Schriftsteller immer ganz nah an seinen Figuren dran, ohne dass er den Fehler macht, zu viel für sie zu werben oder sie zu verklären.

Fazit

Stefan Hertmans Buch sortiert sich irgendwo zwischen Helmuth Lethens Die Staatsräte, klassischer Biographiearbeit und der momentan so angesagten Jahreszahlenbücher á la Illies oder Wittstock ein. Abermals gelingt es Hertmans, aus der Verbindung eigener und fremder Vergangenheit Funken zu schlagen und ein packendes und beeindruckendes Leseerlebnis zu schaffen, dass das Bild eines flämischen Kollaborateurs und dessen Familie zu erzählen.


  • Stefan Hertmans – Der Aufgang
  • Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
  • ISBN 978-3-257-07188-7 (Diogenes)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Lize Spit – Und es schmilzt

Eine Frau fährt mit einem Eisblock in einer Tiefkühlbox durch die flämische Provinz. Wie es dazu kam und was hinter der Aktion steckt, das erklärt Lize Spit in ihrem Debüt Und es schmilzt, das in Belgien sage und schreibe ein Jahr an der Spitze der Bestsellercharts stand.

Spit fährt in ihrem Roman zweigleisig. Die Rahmenhandlung bildet die Kurierfahrt des Eisblocks, die Eva frühmorgens beginnt. Immer wieder springt Spit mit der Angabe der aktuellen Uhrzeit zurück zu dieser Fahrt durch Belgien. Den Hauptanteil nimmt aber ein großer Flashback ins Jahr 2002 ein – es war ein Sommer, der Eva und ihre Freunde immer verändern sollte. Und am Ende dieses Sommers wird dann auch klar, warum sich nun Eva mit dem Eisblock im Gepäck auf den Weg gemacht hat – denn die Vergangenheit zieht ihre Kreise bis in die Gegenwart.

Stellenweise war ich während der Lektüre geneigt, in Lize Spit eine flämische Schwester von Charlotte Roche zu sehen, mit solcher Hingabe blickte sie im Detail auf Bereiche unserer Leben und Körper, die man normalerweise ausspart. Da wird die eigene Sexualität erforscht oder aus abgestanden Pfützen (Kaulquappen inklusive) getrunken. Das Personal ihres Buches sind Metzgersöhne, vernachlässigte Kinder aus dysfunktionalen Familien und generell Menschen, die man gemeinhin mit dem wenig treffenden Ausdruck sozial schwach versieht.

Ein Buch, das herausfordert

Und es schmilzt fordert den LeserInnen vieles ab – die ekligen Szenen sind das eine, zum Ende des Buchs kommen weitere explizite Schilderungen hinzu, auf die hier nicht tiefer eingegangen werden soll, um die Lesefreude nicht zu schmälern. Durch diese Passagen wird das Geschehen dann rund und verfugt die Vergangenheit mit den aktuellen Geschehnissen. Die psychologisch eindringlich gelungenen Szenen berühren und machen nachdenklich – und ließen mich das Buch dann schlussendlich unschlüssig zuklappen.

Stößt das Buch jetzt ab oder fasziniert es? Es ist wohl eine Mischung aus beidem, und darin liegt auch für meine Begriffe der Reiz des Buchs. Die Knausgard’sche Detailfülle entführt den Leser geradewegs zurück in die eigene Teenagerzeit und ruft mannigfaltige Erinnerungen wach. Auch der Kniff um den Eisblock im Kofferraum von Eva ist dazu angetan, den Leser bei der Stange zu halten. Und diese Qualitäten überwiegen für mich in der Endabrechnung trotz einer manchmal zu krassen und plakativen Schilderungswut der jungen Autorin.

Ich prophezeie, dass sich an diesem Buch sicherlich die Geister scheiden werden. Es gibt gute Argumente sowohl für Lobeshymnen als auch für Kritik oder gar Verrisse. Sicherlich ein Buch, das Potential für Debatten hat und das die Diskussionen der Feuilletons in diesem Bücherherbst dominieren könnte – und wie stets empfehle ich gerne, sich auch in diesem Fall einen eigenen Eindruck zu verschaffen und die Meinungen auch gerne hier kundzutun!

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Volker Weidermann – Ostende

Zweig am Strand

Ostende, 1936: Hier versammeln sie sich ein letztes Mal, all die Autoren, die wir heute unter dem Begriff der Exil-Autoren bündeln: Arthur Koestler, Hermann Kesten, Irmgard Keund und allen voran das ungleiche Duo Joseph Roth und Stefan Zweig.

In jenem kleinen belgischen Strandort treffen sich diese unterschiedlichen Figuren, die die Flucht vor dem Naziregime eint, das seine gierigen Finger über den gesamten europäischen Kontinent ausstreckt.

http://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Ostende-1936-Sommer-der-Freundschaft/Volker-Weidermann/e460156.rhd?mid=1

Als jüdische Schriftsteller verfemt gelingt es den Autoren kaum mehr, ihre Bücher abzusetzen – nur die Publikation im Ausland verspricht noch einen Erfolg. Doch von Fatalismus merkt man den Zusammenkünften in Ostende nicht viel an. Die SchriftstellerInnen feiern ein letztes Mal das Leben in dem kleinen Städtchen, helfen sich gegenseitig mit Ideen aus und machen sich gegenseitig Aufwartungen.  

So könnte es gewesen sein, wie es Volker Weidermann in Ostende beschreibt. Vom Umfang her eher eine Novelle, berichtet der kommende Chef des Literarischen Quartetts von den einzelnen Figuren, die das Strandbad bevölkern. Seinen Schwerpunkt legt er hierbei auf die Freundschaft zwischen Jospeh Roth, dem schweren Trinker, und Stefan Zweig, dem Autorenstar, der später nach Südamerika emigrieren wird. Er zeigt zwei Schriftsteller, die sich gegenseitig Inspiration schenken (Joseph Roth wird Zweig bei einer literarischen Passage weiterhelfen, an der der Großmeister zu scheitern drohte), und die sich gegenseitig noch etwas Halt geben, auch wenn eigentlich alles schon zu spät ist. 

Ein letztes Mal kreativ sein

Was das Buch besonders traurig macht, sind die Schicksale, die den Autoren und Autorinnen allesamt bevorstehen. Alt werden die wenigsten der Ostende-Gruppe, Suizid und das Verscheiden in jungen Jahren ist den meisten der Exil-Autoren gemein. Umso wichtiger, dass Weidermann ihnen noch einmal ein Denkmal gesetzt hat.

Im Nachklapp versammelt er noch einmal kurz die Lebensläufe der Autoren und ihr Ende. Dies macht betroffen, sind doch viele der Autoren und Werke aus dem allgemeinen Bewusstsein schon wieder verschwunden. Die Lektüre von Ostende regt auf jeden Fall dazu an, sich einmal mit dem Opus eines Stefan Zweigs oder Joseph Roths zu beschäftigen. Doch bei allen Fakten: So etwas wie Quellenangaben fehlen seinem Buch hingegen vollständig, womit es für mich irgendwo zwischen Nacherzählung und Biografie zu verorten ist. Als reines Sachbuch funktioniert Ostende nicht, vielmehr hätte es so gewesen sein können, wie Weidermann schreibt. 

Wollte man mit den Mechanismen eines großen digitalen Buchhändlers operieren, müsste man sagen: Lesern, denen 1913 von Florian Illies gefiel, gefällt auch Ostende von Volker Weidemann. Nicht zu anspruchsvoll geschrieben vereint das Buch in Schlaglichtern zahlreiche Autorenschicksale und ist eine gute Einführung in das Genre der deutschen (und jüdischen) Exilliteratur.

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