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Maria Messina – Das Haus in der Gasse

In dieses Haus möchte man wirklich nicht einziehen. Mit großem Geschick für psychologische Schwingungen und Konflikte inszeniert Maria Messina in Das Haus in der Gasse das problembehaftete Zusammenwohnen höchst unterschiedlicher Menschen in einem düsteren Haus irgendwo in einer sizilianischen Stadt. Es ist nichts weniger als die Wiederentdeckung einer vergessenen italienischen Autorin!


Sie zählt zu den vergessenen Autorinnen der italienischen Literaturgeschichte: Maria Messina. Früh konnte sie den Kritiker Giuseppe Antonio Borgese mit ihren Erzählungen begeistern, viel Ruhm war ihr aber nach den schriftstellerischen Erfolgen zeit ihres Lebens nicht beschert. Nicht einmal biografische Eckdaten oder Details ihres Lebens haben sich erhalten, wie Christiane Pöhlmann in ihrem kenntnisreichen Nachwort zu Das Haus in der Gasse ausführt.

So war lange Zeit der funktionale 1. Januar des Jahres 1944 als Sterbedatum von Marina Messina festgelegt, ehe sich nach einem Fund der Sterbeurkunde der 19. Januar als wirkliches Todesdatum von Messina datieren ließ. Kaum ein Fitzelchen von Information über die Schriftstellerin hatte Bestand. Das im toskanischen Pistoia aufbewahrte Archiv der Schriftstellerin war durch einer Bombardierung zerstört worden. Und so verlieren sich die Spuren Maria Messinas in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, der zum Zeitpunkt ihres Todes schon längst Chaos und auflösenden Strukturen über das ganze Land gebracht hatte. Nicht einmal ein gravierter Grabstein erinnerte lange Zeit an die Autorin aus dem Süden Italiens.

Die vergessene Maria Messina

Maria Messina - Das Haus in der Gasse

Erst der ebenfalls in Sizilien geborene Autor Leonardo Sciascia sorgte für eine Wiederentdeckung der Autorin – die allerdings auch nicht von langer Dauer war. Auch die Welle der (Wieder)Entdeckung der feministischen Literatur in Italien sorgte allenfalls für ein kurzer Strohfeuer, das die Werke Maria Messinas für die die damaligen Leser*innen zu entfachen wussten. Denn nicht nur, dass Messina aufgrund ihrer kaum zu greifenden Biografie wenig Interesse weckte und schon gar nicht als markantes Vorbild taugte – auch ihr Werk selbst entzog sich griffigen Schlagwörtern und Parolen, die der damalige Zeitgeist bevorzugte, wie Pöhlmann im Nachwort ausführt.

Denn bewusste Botschaften, klare Einordnungen und eindeutige Figurenzeichnungen gibt es in Das Haus der Gasse nicht. Vielmehr erweist sich Maria Messina als Meisterin für Psychologie in ihren Figuren und erzählt eine Geschichte, die weniger in einer konkreten Zeit und Ort verhaftet ist, als vielmehr das Allgemeine im menschlichen Zusammenleben herausarbeitet und in den Mittelpunkt stellt.

Das Zusammenleben im Haus in der Gasse

Schauplatz des 1921 entstandenen Romans ist das titelgebende Haus in der Gasse, irgendwo in einer italienischen Stadt nahe des Meeres. Hier lebt Don Lucio, ein von seiner Familie gefürchteter Pedant. Ob Pantoffel, Zitronenwasser, Pfeife zum Rauchen oder die Massage seines Kopfes – alles muss zur rechten Zeit erfolgen und darf nicht vom gewohnten Gang abweichen.

Einst ehelichte Don Lucio Antonietta, deren Vater sich mit Schulden überhäuft hatte, die er Don Lucio als Gesandten des Barons, zurückerstatten musste. Aus diesem Schuldverhältnis ergab sich ein – natürlich – regelmäßiger Kontakt mit Don Lucio, dem auch bald der Antrag für die junge Antonietta erwuchs. Schon kurz nach dem Auszug Antonietta brach das restliche familiäre Gefüge zuhause zusammen. Der Vater starb, die Familie verstreute sich in alle Winde, nur die jüngere Nicola brauchte Obdach, das sie ebenfalls im Haus in der Gasse fand.

Immer und ewig einander gleich und bedrückend verstrichen die Stunden im Haus in der Gasse.

Maria Messina – Das Haus in der Gasse, S. 149

Und so verstricken sich im Laufe des Romans nun die Figuren gegenseitig in Neid, Rivalität und Begehren. In der stets untergründig bedrohlichen und angstgesättigten Atmosphäre des Hauses wachsen die Kinder von Don Lucio und Antonietta heran. Nicola übernimmt ebenfalls Betreuung und Hausarbeiten und bewegt sich im Spannungsfeld der Eheleute, während Don Lucio sie begehrt, im Gegensatz zu seinen Gefühlen für seine Schwägerin seine Kinder aber mit Distanz und Härte erzieht.

Neid, Rivalität, Enge und Kälte

Eindrücklich schildert Maria Messina das komplizierte Miteinander aus Anziehung und Abstoßung, Kälte und aufflackernder Liebe. Mit viel Gespür für psychologische Schwingungen, Rivalität und Verbrüderung beziehungsweise Verschwesterung inszeniert sie den Alltag der Familie, der sich wenig spektakulär ausnimmt, dafür umso eindringlicher die weiblichen Perspektiven im Haushalt unter einem despotischen Hausherren schildert.

Man verlässt das Haus so gut wie nie, Spaziergänge oder Ausflüge ans nahegelegene Meer gibt es nicht, sie sind Don Lucio verhasst. Alles was Freude bringt, ist in diesem Haushalt verpönt. Liebe und Wärme findet sich so gut wie gar nicht, nur die Enge umgibt Messinas Figuren. Folglich wirbeln die Gedanken Nicolas auch durcheinander, als ihre Schwester Don Lucio ein Mädchen gebärt:

Warum musste es in diesem traurigen Haus zur Welt kommen?

Aber als sie die rosigen, fest geschlossenen Fäustchen betrachtete, bekam sie auch mit dem Eindringling Mitleid.

Wenn es nur ein Junge wäre, sagte sie sich. Sein Los wäre einfacher. Frauen sind zum Dienen und zum Leiden geboren. Zu nichts anderem.

Maria Messina – Das Haus am Ende der Gasse, S. 76

Die Selbstaufgabe, Kasteiung und Verleugnung jeglicher eigenen Ansprüche oder Entfaltung von Frauen unter einer patriarchalen Herrschaft, sie nimmt Maria Messina in diesem Roman so gnadenlos und zeitlos in den Blick, dass sich Das Haus in der Gasse auch in unseren Tagen frei von Staub und Sentiment liest.

Hoffentlich eine dauerhafte Entdeckung

Dass Maria Messina nun in einer dritten Welle der Wiederentdeckung endlich der verdiente Ruhm und postume Bekanntschaft zukommt, das bleibt zu hoffen, schreibt doch hier eine Autorin mit genauem Blick für die Anhängigkeiten von Frauen und dem komplizierten Miteinander von Menschen, grundiert von tiefgreifendem psychologischen Gespür für Zwischenmenschliches.

Zumindest der herausgebende Verlag der Friedenauer Presse unter Christian Döring und Christiane Pöhlmann, die nicht nur als Autorin des Nachworts fungiert, sondern auch die vorliegende, sehr präzisen Übersetzung durch Ute Lipka durchgesehen hat, haben ihren Verdienst zweifelsohne erbracht.

Jetzt ist es an den Leserinnen und Lesern, diese Autorin neu zu entdecken. Im Jahr, in dem Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, stehen die Zeichen dafür gut – es wäre allen Beteiligten von Herzen zu wünschen!

Ein Hinweis sei an dieser Stelle auch noch zum Beitrag der Kulturzeit gegeben, in der sich die Literaturkritikerin Ursula März dem Werk nähert und Hinweise gibt, warum Maria Messina so gründlich vergessen wurde.


  • Maria Messina – Das Haus in der Gasse
  • Aus dem Italienischen von Ute Lipka
  • Durchgesehen und mit einem Nachwort versehen von Christiane Pöhlmann
  • ISBN 978-3-7518-8017-6 (Friedenauer Presse)
  • 210 Seiten. Preis: 22,00 €
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Stefan Hertmans – Der Aufgang

Erwies sich Stefan Hertmans in seinem Buch Krieg und Terpentin als Meister der Verknüpfung historischer Ereignisse (in diesem Falle des Ersten Weltkriegs) mit der eigenen familiären Biographie, führt er dieses Erfolgsmodell in Der Aufgang fort. Darin folgt er den Spuren des Vorbesitzers seines Hauses tief hinein in die Zeit des Nationalsozialismus und beleuchtet so die Facette flämischer Kollaborateure und Widerständler zur Zeit des des Dritten Reichs.


Im ersten Jahr des neuen Jahrtausends fiel mir ein Buch in die Hände, aus dem ich erfahren sollte, dass ich zwanzig Jahre im Haus eines ehemaligen Mitglieds der SS gewohnt hatte.

Stefan Hertmans – Der Aufgang, S. 7

So hebt das neue Buch von Stefan Hertmans an, das vom Diogenes-Verlag mit der Bezeichnung Roman versehen wurde. Tatsächlich ist das Buch eine spannende Mischung aus historischer Studie, persönlicher Befragung und Rekonstruktion.

Anfang der 80er Jahre erwirbt Stefan Hermans ein verfallenes Haus in der Drongenhof-Straße inmitten des Genter Stadtviertels Patershol. Kurz nachdem er das Haus wieder verkauft hat, stößt er auf das Buch seines alten Professors Adriaan Verhulst. Darin schilder diese seine Kindheit in jenem Haus, dessen kurzzeitiger Besitzer Hertmans war. Die Beschreibungen der familiären Vergangenheit und die Tatsache, dass ein echter Nationalsozialist in diesem Haus in Drongenhof wohnte, erschüttern Hertmans nachhaltig, sodass er zu recherchieren beginnt und die Biographie der ehemaligen Bewohner des Hauses langsam erarbeitet. So setzt er das Porträt des Hauses und der Familie Verhulst zusammen, die er im Folgenden chronologisch erzählt, immer wieder unterbrochen von Gängen durch das Haus mit bewegter Geschichte.

Vom flämischen Nationalisten zum Kollaborateur

Stefan Hermnas - Der Aufgang (Cover)

Dabei widmet er sich hauptsächlich Willem Verhulst, der schon früh als flämischer Nationalist auffällt. 1898 geboren heiratet er seine jüdische Frau Elsa, die sich für Willem scheiden lässt und 1926 stirbt. Ein Jahr später ehelicht er dann Hermina, genannt Minje, eine bibeltreue Niederländerin, mit der er drei Kinder hat. Neben seinem Eifer für die flämischen Separatismus ist es auch schon bald Hitler, dessen Bewegung Verhulst begeistert und zu seinem Antrieb wird.

Nach der Machtergreifung und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird er zu einem überzeugten Unterstützer der Nazis und nimmt nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Belgien auch eine führende Rolle als Kollaborateur ein. In Gent gibt er in seinem Haus in der Drongenhof-Straße Empfänge für Nazis – sehr zur Empörung seiner empfindsamen Frau, die nur ihren drei Kindern und Gott die Treue schwört und der nicht nur die Hitlerbüste im von ihr „Totenzimmer“ getauften Salon ein Dorn im Auge ist.

Häufig kommt es zu Streitereien, Willem fällt durch lange Abwesenheiten auf – und setzt sich schließlich mit einer Geliebten nach Deutschland ab, als das Ende des Dritten Reichs naht. Dabei erzählt Hertmans sehr plastisch, fühlt sich mithilfe von Tagebüchern und Memoiren in seine Figuren ein und beschränkt sich nicht nur auf das Referieren von historischen Fakten. Immer wieder versucht er auch die Motivationen seiner historischen Figuren zu ergründen, stellt Verbindungen von der Vergangenheit zur Gegenwart her oder erlaubt sich Spekulationen, wenn er das Innenleben von Willem oder anderen Familienmitgliedern schildert:

Da ist etwas in seinem Inneren, das ihn verzweifeln lässt. Das Gefühl, das nichts mehr so sein wird wie früher. Er hat Angst, dass die Geliebte noch auf seiner Haut zu riechen ist, gleichzeitig könnte er vor lauter Verliebtheit losheulen.

Stefan Hertmans – Der Aufgang, S. 200

Das unterscheidet Der Aufgang von einem historischen Sachbuch – hier ist immer ein Erzähler im Raum, egal ob bei der Begehung mit dem Notar in der Gegenwart oder beim Blick zurück auf die Familie Verhulst. Das mag Geschichtsschreibung-Puristen verprellen – schließlich finden sich nicht einmal richtige Fußnoten im Text, nur eine Literaturliste mit Titeln, die Hertmans bei seinen Recherchen verwendete, findet sich im Anhang. Klassische Geschichtsschreibungs- und Quellenarbeit sieht natürlich anders aus.

Dafür erteilt sich Hertmans mit seinem Vorgehen und der Montagetechnik die Lizenz für literarische Freiheit, die er maximal zu nutzen weiß, um dem überzeugten Flamen und Nationalsozialisten Willem Verhulst nahezukommen. Es ist keine leichte Aufgabe, das Leben und damit die Motivationen eines Fanatikers und Nationalsozialisten nachzuzeichnen – Hertmans stellt sich ihr aber tastend und suchend und löst die Aufgabe somit aber wirklich gut. Durch die Verwendung der Tagebücher und Aufzeichnungen ist der 1951 in Gent geborene Schriftsteller immer ganz nah an seinen Figuren dran, ohne dass er den Fehler macht, zu viel für sie zu werben oder sie zu verklären.

Fazit

Stefan Hertmans Buch sortiert sich irgendwo zwischen Helmuth Lethens Die Staatsräte, klassischer Biographiearbeit und der momentan so angesagten Jahreszahlenbücher á la Illies oder Wittstock ein. Abermals gelingt es Hertmans, aus der Verbindung eigener und fremder Vergangenheit Funken zu schlagen und ein packendes und beeindruckendes Leseerlebnis zu schaffen, dass das Bild eines flämischen Kollaborateurs und dessen Familie zu erzählen.


  • Stefan Hertmans – Der Aufgang
  • Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
  • ISBN 978-3-257-07188-7 (Diogenes)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer

Sie gilt als DIE Dame der katalanischen Literatur: Mercè Rodoreda. 1908 geboren und 1983 verstorben, durchlebte sie ein Leben voller Höhen und Tiefen. Den Impuls zum Schreiben gab ihre unglückliche Ehe, in der sie die Literatur als Mittel der Weltflucht entdeckte.

Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs floh Rodoreda ins Exil. Zunächst lebte sie in Spanien, ehe sie dann in die Schweiz übersiedelte. Erst in den siebziger Jahren kehrte sie dann in ihre katalanische Heimat zurück.

Von diesen wechselvollen Zeiten und dem turbulenten Leben merkt man ihrem im Schweizer Exil entstandenen und 1967 veröffentlichten Roman Der Garten über dem Meer allerdings überhaupt nichts an. Im Gegenteil. Ruhe, Melancholie und Zurückhaltung kennzeichnen diesen Roman, der neben Auf der Plaça del Diamant zu den wohl bekanntesten Werken Rodoredas zählt.

2014 gab Roger Willemsen dieses Buch im Rahmen der mare-Klassiker-Reihe heraus. Kirsten Brandt besorgte die erstmalige Übersetzung aus dem Katalanischen, Willemsen selbst verfasste das Nachwort. Noch nie war das Buch zuvor im Deutschen zu lesen. So konnte man über dreißig Jahre nach dem Tod Rodoredas eine wirkliche Neuentdeckung machen.

Eine Entdeckung, für die man Willemsen wirklich dankbar sein muss. Denn Der Garten über dem Meer ist ein literarisches Kleinod, eines das von der Vergänglichkeit des Sommers und zugleich von der Vergänglichkeit von Beziehungen erzählt

Von der Vergänglichkeit

Ausgangspunkt sind die Erinnerungen eines namenlosen Gärtners, der sich zurückerinnert an sechs Sommer, in denen er ein Herrenhaus betreute. In sechs Kapiteln erzählt er von seiner Rückschau auf jene Sommer, die von ganz unterschiedlichen Erlebnissen, Affären, Feiern, Unglück und Begegnungen geprägt waren.

Mercè Rodoreda - Der Garten über dem Meer (Cover)

Die Frau des Gärtners ist bereits verstorben, sodass er alleine in seiner kleinen Hütte auf dem Gelände des Herrenhauses lebt, als seine Schilderungen einsetzen. Er erzählt vom jungen Paar Francesc und Rosamaria, das mitsamt seiner Freundesclique die Sommer in ihrem Herrenhaus am Meer verbringen. Dort feiern sie rauschende Feste und Bälle, reiten aus, fahren Wasserski und genießen das dolce vita.

Doch was sich zunächst paradiesisch anhört, offenbart auch seine Schattenseiten, von denen der Gärtner erzählt. Eifersüchteleien, Affären, am Ende erbaut sich gar ein neuer Nachbar in bester Gatsby-Manier ein neues und noch prunkvolleres Haus neben dem des jungen Paares.

Lakonisch und mit einem genauen Gespür für die Risse im Gefüge der Clique betrachtet der Gärtner das Geschehen dort hoch oben über dem Meer. Durch seine soziale Außenseiterrolle kann er alles ungefiltert erzählen und legt so die Verwerfungen in der Clique und auch die dunklen Seiten der Sommertage offen. Während er sich um die Ordnung im Garten müht, driften die jungen Leute während der Sommer immer weiter auseinander.

Heiterkeit und Wehmut

Durch den Rückblick bekommt Rodoredas Erzählungen einen melancholischen, distanzierten, klaren und doch auch nostalgischen Ton. Das Wissen um die unmittelbar vergangenen Sommer schwingt im Buch mit und schlägt so den Bogen von sommerlicher Heiterkeit bis hin zum Wehmut. Das ist toll gemacht und zeigt eine Autorin, die zurecht für ihr Schreiben gerühmt und gepriesen wird. Hier ist eine Backlist-Perle zu entdecken. Eine große Empfehlung meinerseits!

Mit Der Garten über dem Meer bekommt man Sommererinnerungen ohne Falschheit. Ein Rückblick mit Wehmut und zugleich mit einem unbestechlichen Blick. Und Rodoreda gelingt ein präzises Bild einer spanischen Jeunesse dorée, das auch nach über 60 Jahren seit seinem Erscheinen nichts von seiner Klasse eingebüßt hat.


  • Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • Mit einem Nachwort von Roger Willemsen
  • ISBN 978-3-8333-1054-6 (Berlin-Verlag)
  • 240 Seiten. Preis: 11,00 €
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Still und starr ruht der See

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Es ist kaputt, so kaputt
Das kann man nicht reparieren
So kaputt, so kaputt
Es fließen keine Tränen
Beim Familienfest im Grünen

Bosse: Familienfest im Grünen

Rückzugsort Uckermark: was schon bei Lola Randls Buch Der große Garten thematisiert wurde, ist auch beim ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman von Miku Sophie Kühmel ein prägendes Motiv. Draußen, im Grünen, abseits von Hektik und Stress, versuchen auch Kühmels Protagonisten dem Takt der Großstadt zu entgehen und ihr Leben neu zu ordnen und zu reparieren. Was bei Randl wenig überzeugend ausgestaltet war, gelingt Miku Sophie Kühmel deutlich besser. Das sah auch die Jury des Deutschen Buchpreises so – und nominierte die junge Autorin (Jahrgang 1992) für die Endrunde des diesjährigen Preises.

Die in Gotha geborene Kühmel wählt für ihren Roman die Form eines Kammerspiels. Vier Menschen, ein Haus am See in der Uckermark – mehr braucht sie nicht, um über fast 300 Seiten ihre Geschichte zu erzählen.

Vier Menschen, ein Haus, ein See

Da sind zum Einen Reik und Max. Ein homosexuelles Pärchen, das schon seit zwanzig Jahren zusammenlebt. Max lehrt als Professor für Archäologie an der Universität und ist ein zutiefst strukturierter Geist. Alles muss seine Ordnung haben, von der Teeschale auf dem Van-Duysen-Board bis hin zu den Ritualen im Alltag.

Miku Sophie Kühmel - Kintsugi (Cover)

Ganz anders da Reik. Als Künstler zieht er das Chaotische, Unperfekte an. In der Post-Wende-Zeit kam er mit seinen Kunstwerken zu großem Ruhm, der bis heute anhält. Ständig ist er in der Welt unterwegs, besucht Vernissagen, Galerien und Museen – und hat im gemeinsamen Ferienhaus mit Max seinen Ruhepunkt gefunden.

Das Pärchen, das den Kontrapunkt zu den beiden gealterten Bohémiens bildet, wird von Tonio und Pega gebildet. Pega ist Tonios Tochter, der auch früher einmal ein Liebhaber von Reik war. Aber diese Zeiten sind schon längst vorbei. Tonio hat in der Vaterschaft von Pega seine Bestimmung gefunden und geht in der Rolle als alleinerziehender Vater vollkommen auf. Pega hingegen ist ein wirklicher Wirbelwind, die in einer Berliner WG lebt und als auslösendes Moment von außen die eingespielte Riege der alten weißen Männer aus dem Tritt bringt.

Erstaunlich souverän in der Form erzählt Miku Sophie Kühmel nacheinander von den vier Menschen, ihren Geschichten und ihren Motivationen. Zwischen die vier Teile des Ganzen montiert sie kleine Theaterpassagen, die aus reinen Dialogen bestehen und die Handlung im Ferienhaus weiter vorantreiben. Denn die Handlung umspannt nur einen Tag, der um 8 Uhr am Morgen beginnt. Alles spielt sich innerhalb dieses Tages ab, ehe ein Epilog um 8 Uhr des nächsten Morgens die Geschehnisse in Kintsugi abschließt.

Tolle Inneneinsichten der Figuren

Das ist toll gemacht, diese Verdichtung auf einen Tag und vier verschiedenen Figuren, aus deren Beziehung zueinander sich die Handlung ergibt. Alle vier Perspektiven konstruiert Miku Sophie Kühmel sehr glaubhaft. Die Widersprüche in den Figuren, ihre Wünsche und heimlichen Sorgen, davon erzählt die junge Autorin erstaunlich reif und psychologisch glaubwürdig. Während sich Reik eigentlich Kinder wünscht, kann Max mit diesem Gedanken gar nichts anfangen. Auch solche vermeintlich spießigen Themen wie „Heirat“ oder die Ausgestaltung der bürgerlichen Existenz beschreibt Kühmel sehr nachvollziehbar und kohärent.

Alle vier Berliner*innen wirken lebensnah, die Brüche in ihren Leben sind nachvollziehbar gestaltet – Miku Sophie Kühmel ist eine genaue Beobachterin von Menschen, die auch unter die Oberfläche von vermeintlich Glattem sieht. Würden Max, Pega und Co. nach ihrem Wochenende aus dem Buch ins Leben übertreten – sie würden sich wunderbar in unser Miteinander einpassen. Eine solche Figurengestaltung ist für mich große Kunst und aller Ehren wert (wenngleich die vier Protagonist*innen natürlich auch noch etwas unterscheidbarer hätten klingen dürfen).

Toll in der Form, Schwächen in der Sprache

Doch so stark das Debüt auch in der Introspektive seiner Figuren und der Form ist: einen Kritikpunkt habe ich dennoch vorzubringen. Und das ist der sprachliche Stilwillen, der in Miku Sophie Kühmels Debüt noch etwas ungebändigt wirkt. So „zischelt“ den Figuren beim Besteigen eines Hochsitzes eine Ladung Käfer entgegen (S. 79) oder „die Zeitanzeige glüht [Reik] auf Augenhöhe entgegen (S. 8). Manchmal kippt das Ganze auch ins Schwülstige oder Kitschige, wie beispielsweise auf Seite 12:

Sie beginnen, sich zu küssen, und die Baumwollwolken wogen um sie her.

Kühmel, Miku Sophie: Kintsugi, S.12

Hier hätte sicher ein strengeres Lektorat noch die ein oder andere Formulierung glätten oder streichen können. Aber im Falle eines ansonsten so starken Debüts bin ich gerne auch einmal bereit, über diesen Punkt gnädig hinwegzusehen.

Auf diese Debütantin lohnt es zu schauen

Zwar rechne ich angesichts der starken Konkurrenz nicht wirklich mit einem Sieg von Miku Sophie Kühmel. Davon unbesehen ist Kintsugi wirklich ein tolles Debüt einer Erzählerin, die genau hinschaut und sich für ihre Figuren interessiert. Von ihr erwarte ich mir noch einiges – denn wer jetzt schon so souverän Form und Inhalt beherrscht, der hat noch eine große Karriere vor sich, so meine persönliche Einschätzung. Hier könnte Großes entstehen!

Und ein letztes Rätsel sei an dieser Stelle auch noch aufgelöst: wer oder was ist denn eigentlich jenes titelgebende Kintsugi? Im Appendix des Buchs werden sämtliche japanische Titelüberschriften erklärt, darunter eben auch jenes Kintsugi:

das kunsthandwerk, zerbrochenes porzellan mit gold zu reparieren

Kühmel, Miku Sophie: Kintsugi, S.295

Das passt auf die Figuren und die Handlung des Romans wirklich exzellent und wird auch noch einmal im Cover wirklich kongenial aufgegriffen. Kaputtes reparieren und dadurch sogar aufwerten, das könnte wirklich eine Umschreibung von Kühmels Debüt sein. Sehr stimmig!

Beispiel einer mithilfe von Kintsugi veredelten Schale. (Quelle Twitter/Josh Corman)

Andere Meinungen zu dem Buch gibts beim Freitag, bei Letteratura, beim Textmagazin und bei Bleisatz.

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Jess Kidd – Heilige und andere Tote

All houses wherein men have lived and died

Are haunted houses. Through the open doors

The harmless phantoms on their errands glide,

With feet that make no sound upon the floors.

We meet them at the door-way, on the stair,

Along the passages they come and go,

Impalpable impressions on the air,

A sense of something moving to and fro. (…)

Longfellow, Henry Wadsworth: Haunted Houses

Mit Heilige und andere Tote modernisiert die Engländerin Jess Kidd das Genre des Spukromans. Sie serviert den Leser*innen in ihrem neuen Roman eine Mischung aus Kriminalroman, Schauermärchen und Heiligenlegende. Das Ergebnis diese Mischmaschs ist dabei genauso überbordend wie exzentrisch. [Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann]

Die Ausgangslage bildet das Haus Bridlemere, in welches die Ich-Erzählerin Maud Drennan geschickt wird. Jenes Haus wird von Cathal Flood bewohnt, einem kauzigen, alleinstehenden Senior. Seine Frau ist unter mysteriösen Umständen schon vor Jahren ums Leben gekommen und so bewohnt Flood nun alleine das verwinkelte Haus. In seiner Zeit als alleinstehenden Rentner hat er sich zu einem veritablen Messie entwickelt, weshalb Maud nun für Ordnung im Chaos sorgen soll.

Bislang ist es Cathal gelungen, sämtliche Betreuer, die ihm von der Agentur geschickt wurden, innerhalb weniger Tage aus dem Haus zu ekeln. Doch nicht so mit Maud. Sie verbeißt sich in die Aufgabe und entwickelt einen großen Ehrgeiz, das Haus und auch Cathal wieder auf den rechten Weg zurückzuführen.

Ein verwinkeltes Haus, mysteriöse Todesfälle = ziemlich viel Suspense

Dies ist der Grundplot, den Jess Kidd sicher und mit Gespür für die richtigen Akzente entwickelt. Auf ihre Grundidee sattelt sie nun noch einen Krimiplot mit Suspense-Elementen. Denn schon bald wird bei Maud Misstrauen über das Verscheiden von Cathals Ehefrau geweckt. Immer wieder verwehrt ihr der Hausbesitzer den Zugang zu bestimmten Bereichen des Anwesens, was natürlich nur die Neugier der Ich-Erzählerin anstachelt. Mit ihr zusammen durchstreift man als Leser Bridlemere und geht auf Entdeckungsreise.

Dabei stolpert Maud immer wieder über Hinweise, die sie am offiziellen Tathergang des Todes zweifeln lassen. Auch entdeckt sie ein Foto, das zwei Kinder zeigt. Allerdings ist der weibliche Part des Fotos ausgebrannt worden. Immer stärker beschleicht Maud das Gefühl, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Und in dem Maße, in dem ihr Misstrauen wächst, wird auch ihre Neugier und ihr Spürsin geweckt.

Unterstützung erhält Maud bei ihren Nachforschungen neben einer Freundin noch von ungewöhnlicher Seite: die titelgebenden Heiligen stehen Maud nämlich ebenfalls bei. Immer wieder hat die Protagonistin Visionen und tritt in Interaktion mit diesen Geistern, vor allem mit St. Dymphna, passenderweise der Patronin der psychisch Kranken.

Nichts für Krimi-Puristen

Für Krimi-Puristen mag dieses Buch ein Albtraum sein. Da treten Geister auf und es werden Gläser gerückt. Das Haus spielt Maud immer wieder Hinweise zu, indem gerne einmal solange Vorräte aus den Regalen hüpfen, bis der Hinweis gefunden ist. Steckt im Kern des Buchs die Untersuchung eines möglichen Mordfalls, so würde ich Heilige und andere Tote dennoch nicht als Krimi klassifizieren.

Jess Kidd holt mit diesem Buch den (viktorianischen) Schauerroman ins 21. Jahrhundert. Ihr gelingt diese Neuinterpretation im Ganzen betrachtet doch recht solide. Schlägt das Buch im letzten Drittel die ein oder andere erzählerische Volte zu viel und wirkt zum Schluss hin etwas gehetzt und überfrachtet, so ist Heilige und andere Tote in der übergeordneten Betrachtung doch ein ebenso ungewöhnlicher wie kreativer Roman.

Dieses Buch steckt so voller exzentrischer Gestalten, wie Bridlemere von Plunder und Abfall vollgeramscht ist. Man muss sich hineinwagen, in dieses erzählerische Haus, macht aber dann auch auf alle Fälle die ein oder andere besondere Entdeckung. Definitiv eine ungewöhnliche Lektüre, an der sich bestimmt auch die ein oder anderen Geister scheiden.

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