Tag Archives: Vater

Leon de Winter – Stadt der Hunde

Wie spannend Gehirnchirurgie sein kann, das stellt Leon de Winter in seinem neuen Roman Stadt der Hunde unter Beweis. Darin begibt sich ein alternder Starchirurg auf ein Himmelfahrtskommando, mit dem viele Hoffnungen im Nahen Osten verknüpft sind. Literatur auf Höhe der Zeit – und dann doch wieder nicht.


Amsterdam Hope – so heißt jene Operation, von deren Wohl und Wehe fast alles abhängt in Leon de Winters neuem Roman Stadt der Hunde, mit dem er sich nach fast zehn Jahren seit seinem letzten Roman Geronimo nun auf großer Bühne zurückmeldet.

Durchführen soll die Operation Jaap Hollander, ein erfahrener Gehirnchirurg mit Erfahrung und Talent, dem weltweit kaum ein anderer Chirurg gleichkommt. Eigentlich hat er sich schon zur Ruhe gesetzt; besonders der Schicksalsschlag des Verschwindens seiner Tochter hat ihn tief getroffen. Zusammen mit ihrem Freund verschwand sie vor zehn Jahren in der Wüste Negev, wo sich an einem Krater ihre Spuren verlieren.

Doch nun bringt jenes Projekt auch Jaap selbst wieder Hoffnung. Denn er soll auf Geheiß des charismatischen israelischen Ministerpräsidenten für die Tochter des Herrschers von Saudi-Arabien eine Operation durchführen, die mit dem Begriff Himmelfahrtskommando nur unzureichend charakterisiert ist. Die Tochter des Herrschers sollte dessen Nachfolge antreten und ist dazu angetan, mit ihrem Intellekt und Offenheit das Herrschaftshaus in eine vielversprechende Zukunft zu führen, die die Verhältnisse im ganzen Nahen Osten neu ordnen und beruhigen könnte. Doch es gibt ein Problem: bei der Tochter wurde ein unheilbarer Tumor im Gehirn diagnostiziert, der inoperabel ist und den baldigen Tod der jungen Frau verursachen wird.

Ein Gehirnchirurg auf Himmelfahrtskommando

Leon de Winter - Stadt der Hunde (Cover)

Nur einen Mann gibt es, der das Himmelfahrtskommando einer OP durchführen kann – Jaap Hollander. Und obschon er selbst um die Unmöglichkeit der Aufgabe weiß, lässt er sich auf die OP ein. Sein Antrieb ist dabei Geld, sogar sehr viel Geld. Denn er hat sich mehrere Millionen Dollar für den Job ausbedungen, mit denen er wiederum einen Archäologen und dessen Team finanzieren will, die jenen Krater in der Negev-Wüste erforschen sollen, in dem seine Tochter mutmaßlich verschwand.

So kommt es in Leon de Winters Roman zu einem Doppelporträt zweier verzweifelter Väter, die für ihre Ziele alles Menschenmögliche und Menschenunmögliche versuchen. Die intrikate OP in einem Teil des Gehirns, bei dem jeglicher Eingriff eigentlich zum Scheitern und die Patientin gleichsam zum Tode verurteilt ist – und der saudi-arabische Herrscher, der von Geldbeträgen in Millionenhöhe bis zu Kontakten zum israelischen Ministerpräsidenten alles möglich macht, um mit einem Team unter Jaaps Führung doch den Eingriff zu wagen.

Gerade in dieser ersten Hälfte entfaltet de Winters Roman seine größten Qualitäten, vermag es der niederländische Autor doch, ungemeine plastisch und spannend von der riskanten Operation und dem Geschäft der Hirnchirurgie zu erzählen. Da verzeiht man auch die libidinöse Schlagseite dieses Romans, da dieser in Jaap einen zwar alternden, aber dennoch mit unerfüllten Liebesbedürfnissen geplagten Helden besitzt, die immer wieder sein Denken durchdringen. Besonders, dass eine frühere Affäre eine zentrale Rolle in der Zusammenstellung des OP-Teams spielt, weckt im desillusionierten Operateur wieder viele Gefühle, denen de Winter mehr als genug Raum gibt.

Vom OP-Tisch in die Stadt der Hunde

Schade ist dann aber, dass sich sein Roman von diesem Himmelfahrtskommando der OP mit politischen Implikationen und der Erkundung väterlicher Verzweiflung zu einem surrealen Trip entwickelt, bei dem die titelgebenden Hunde dann ins Spiel kommen. Denn nach einem Zwischenfall mit Hunde-Hinterlassenschaft findet er sich selbst auf einem Operationstisch wieder und wird zum Patienten. Fortan vermag er die Stimme von Hunden zu hören. Diese eröffnen ihm die Möglichkeit, endgültig Klarheit über den Verbleib seiner Tochter zu erlangen. Dabei wird der nach dem Stammvater Israels benannte Jaap zu einer Art Orpheus, der in die Unterwelt absteigen muss und dort Leid erfährt, bei der die Entmannung des Chirurgen nur einen der vielen Prüfungsschritte darstellt, derer sich der verzweifelte Vater unterwerfen muss.

Hier nimmt der Roman eine Abzweifung ins Fantastische, die sich dann zwar auch wieder auflöst, die aber die erzählerische Dichtheit und das politisch-persönliche Potential der eigentlichen Geschichte vermissen lässt. Spätestens mit der erzählerischen Verbindung zu den Geschehnissen am 07. Oktober 2024 kollabiert der erzählerische Bogen dann leider vollends und mag nicht so wirklich zum überzeugenden Ton der ersten Hälfte passen, auch wenn es in der reliösen Selbstfindung des Chirurgen eine weitere Ebene eingezogen wird. Eher wirkt der Roman in seiner Gesamtheit mit der letzten Volte des Plots zu aufgepropft, um sich wirklich überzeugend in den wilden erzählerischen Ritt einzupassen.

Fazit

In Stadt der Hunde zeigt sich einmal mehr, dass gerade die Verarbeitung gegenwärtiger Geschehnisse in der Literatur Zeit braucht, um zu reifen und in der künstlerischen Behandlung dann zu überzeugen. Leon de Winter gelingt das mit seinen literarischen Gangwechseln leider nicht wirklich überzeugend. Das ist schade, denn gerade der erste Teil der Erzählung ist wirklich überragend und hätte mit Fokus alleine auf diese Geschichte und alle ihr innewohnenden Aspekte deutlich mehr überzeugt, als was dann im zweiten Teil auf uns Leser*innen wartet.

Weitere Meinungen zu Leon de Winters Roman gibt es bei Zeichen & Zeiten und Kommunikatives Lesen.


  • Leon de Winter – Stadt der Hunde
  • Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer
  • ISBN 978-3-257-07281-5 (Diogenes)
  • 272 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern

Einmal quer durch die bundesrepublikanische (Nach)Kriegszeit bis hinein in die Gegenwart reicht der erzählerische Bogen, den Rabea Edel in ihrem Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern spannt. In ihrem Roman beschäftigt sie sich mit den fünf Generationen an Frauen und deren Vaterlosigkeiten.


Es ist ein Signum der Familie der Erzählerin Raisa, das sich durch die Generationen zieht. Seit den Zeiten der Urgroßmutter Dina verschwinden die Männer aus der Familie. Mal sterben sie, mal machen sich die Mütter aus dem Staub, mal heißt es einfach, dass es keinen Vater gebe. Auch Raisa muss das kurz vor den Wendejahren erfahren, als die Frage nach ihrem eigenen Vater immer drängender wird.

Mein Vater musste verschwunden sein, als ich gerade geboren worden war. Mein Name war das Einzige, was ich von ihm bekommen hatte, und selbst das stimmte nicht ganz. Er gab ihn mir und kurz danach verschwand er. Besser so, sagte meine Mutter. Für sie war das ein normaler Zustand. Anstatt auf ihn zu warten oder einen neuen Vater für mich zu suchen, den sie gar nicht brauchte, packte sie einen Koffer und wir gingen auf Reisen.

Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern, S. 20

Mit den einfachen Erklärungen will aber weder Raisa noch die Autorin Rabea Edel begnügen. Denn Edel taucht in ihrem Roman tief in die Geschichte der Familie Raisas ein. Es ist ein Roman, der – so das Nachwort- auf wahren Begebenheiten basiert und der zudem die Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen explizit nicht ausschließt, also durchaus als autobiographisch grundiert angesehen werden darf.

Verschwundene Väter als schwarze Löcher im Familiengefüge

Rabea Edel - Portrait meiner Mutter mit Geistern (Cover)

Es ist ein Kellerfund ihres Kindheitsfreundes Mat, der bei der Erzählerin einen ersten Anstoß für eine vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Herkunft gibt. Jener Mat, der ebenfalls ohne einen sonderlich präsenten Vater in der Nachbarschaft Raisas in Bremerhaven aufwächst, entdeckt nämlich ausgerechnet in einem Buch über schwarze Löcher eine Widmung eines gewissen Pauls, der Raisas Mutter das Buch zueignet.

Doch wer ist dieser Paul? Warum darf Raisa nicht ans Telefon gehen und wer ist der Mann, der eines Abends vor der Tür der beiden Frauen steht und der von Martha brüsk abgewiesen wird?

All das klärt sich im Laufe des knapp 400 Seiten starken Romans, in dem Edel immer wieder in der Zeit zurückgeht und die verschwundenen Väter als eine Art schwarzer Löcher im Familiengefüge zeigt. Vor allem nimmt ihr Buch aber die unterschiedlichen Frauen der Familie in den Blick.

Zurückreichend bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt sie von Nachkriegsgenerationen, von Flucht, von Migration, von gescheiterten Hoffnungen und Träumen und nicht zuletzt auch von der Emanzipation, die zwar jede Generation der Frauen versuchte, deren Erfolg aber zumindest zweifelhaft ist, blickt man auf die intergenerationalen Traumata und Muster, denen sich die Frauen immer wieder gegenüber sahen und sehen.

Wiederholt sich Geschichte oder nicht?

Wiederholt sich Geschichte oder wiederholt sie sich nicht? In diesem im Buch an verschiedenen Stellen aufscheinenden Spannungsfeld bewegt sich Portrait meiner Mutter mit Geistern. Immer wieder beschreibt Rabea Edel unterschiedliche Gründe und Ereignisse, die für die Abwesenheit von Vätern sorgen und die sich aber in ihrer Konsequenz ähneln.

Von Amerika bis nach Bremerhaven, von Kindstoden bis zur Geburt von neuem Leben reicht dieser erzählerische Bogen, der ähnlich wie die Schwarzen Löcher nicht nur als Symbol für die absenten Väter nutzt. Auch sind lassen sich die im geheimnisvollen Buch beschriebenen astronomischen Phänomene auch auf die Figuren und die Erzählweise des Buchs übertragen. Rabea Edel lässt immer wieder Leerstellen in den Biografien setzt und eher auf kurze Schlaglichter denn auf wirklich episches Erzählen.

So gelingt der Autorin, die wie ihre Heldin Raisa ebenfalls 1982 in Bremerhaven geboren wurde, ein berührender Roman, indem sie die vielfachen Belastungen und richtungsweisenden Entscheidungen ihrer Frauen in den Blick nimmt. Vom Erbe des Erlebten und den über Generationen hinweg weitergegebenen Mustern kann man sich eben nicht so leicht lossagen wie vom Eintrag des eigenen Namens im Telefonbuch. Das zeigt Portrait meiner Mutter mit Geistern deutlich.

Fazit

Portrait meiner Mutter mit Geistern ist ein Roman, der über große Zeit hinweg den Parallelen und Motiven in einem familiären Gefüge nachspürt und wirklich interessante Figuren in den erzählerischen Mittelpunkt stellt. Rabea Edel beweist mit diesem Buch ihren Sinn für Zerrissenheit und Hürden sowie die inneren Kämpfe, denen sich (nicht nur) ihre Frauen gegenübersahen. Das ist anrührend komponiert und interessant montiert und lädt zur genauen und sogar mehrmaligen Lektüre ein, um all die sanft eingewebten Fragen und Figuren in all ihren Komplexitäten und Abhängigkeiten wirklich zu erfassen.

Mit Portrait meiner Mutter mit Geistern dürfte Rabea Edel bei der anstehenden Literaturpreissaison sicherlich das ein ums andere Mal eine Rolle spielen!


  • Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern
  • ISBN 978-3-406-82971-0 (C. H. Beck)
  • 396 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs

Ein Leben, wie es schon der eigene Vater und der Großvater geführt haben. Und doch ist so einiges anders in Simons Leben, das Gerbrand Bakker in seinem Roman Der Sohn des Friseurs beschreibt. Denn das Verschwinden und das Begehren sorgen für viel Aufruhr in diesem sonst so gleichförmigen Alltag, den Bakker mit Sinn für Kauzigkeit und das Schicksal erzählt.


Es ist ein Leben, wie es übersichtlicher nicht sein könnte. Im Friseursalon, in dem schon sein eigener Vater und dessen Vater ihren Dienst taten, arbeitet nun Simon. Die zwei oberen Etagen des Hauses bewohnt er, im Erdgeschoss geht er seinem Tagewerk als Friseur nach. Eingerichtet ist dort noch immer alles wie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhundert, wie Bakker in seinem Roman erzählt.

Den einzigen Hauch von weiter Welt in diesem sonst so überschaubaren und reglementierten Kosmos verbreitet der Name des Salons, den Simons eigener Großvater Jan einst ob einiger in der Nachbarschaft eröffneter Bistrots Chez Jean getauft hat. Das Türschild verkündet mit den Begriffen Ouvert und Fermé die Schließzeiten, damit hat es sich aber auch in Sachen Weltläufigkeit. Vielmehr ist Simons ganze Lebenswelt von Regeln und Routinen bestimmt.

Gerbrand Bakker - Der Sohn des Friseurs (Cover)

Dreimal die Woche schließt er seinen Laden um halb sieben zu, um eine Stunde lang Baden zu gehen. Es ist ein pedantisches Leben, das Bakker schildert und das eigentlich wenig Material für eine interessante Erzählung gäbe. Da ist aber auch ein blinder Fleck in Simons Vergangenheit, der im Lauf der wenigen Handlungstage sehr zentral wird.

Denn sein Vater gilt als tot, nachdem er im Jahr 1977 bei einem tragischen Flugzeugunglück auf Teneriffa ums Leben kam. Was bislang als schieres Faktum in der Familiengeschichte galt, wird nun zur drängenden Frage, mit der sich Simon in zunehmendem Umfang beschäftigt. Denn ein Schriftsteller, der zum Stammkundenkreis von Simons Friseurladen zählt, beginnt sich mit der Familiengeschichte seines Coiffeurs zu beschäftigen – und damit auch Simon, der von seinem eigenen Großvater erstaunliche Einblicke erhält. Und dann ist da auch noch ein Junge, den er kennenlernt, als er seiner resoluten Mutter im Schwimmunterricht für Jugendliche mit Behinderung aushilft. Dieser löst in ihm so starke Gefühle aus, wie er sie bislang kaum von sich kannte…

Ein kleiner Roman – mit eigenwilligem Personal

Der Sohn des Friseurs ist im besten Sinne ein kleiner Roman. Es passiert nichts Spektakuläres, der Schauplatz zwischen Friseursalon und Kneipe ist ebenso überschaubar wie unkonkret, das Personal des Romans verfügt über keine hervorstechenden Merkmale. Eigentlich ist das ganze Setting von Bakkers Romane eine einzige Alltäglichkeit.

Und doch bricht der niederländische Autor die althergebrachte Ordnung auf, indem er mit dem Begehren für den behinderten Jungen und dem Verschwinden des Vaters zwei Bruchstellen in den Alltag hineinsetzt. Es sind Bruchstellen, die sich auch im Text fortsetzen, in dem plötzlich im zweiten Teil des Romans das Schicksal von Cornelis, Simons Vater, zum Thema wird und dessen Lebensgeschichte zeitweise die Schilderungen seines Sohnes verdrängt.

Hier scheint das Thema der Flucht aus dem eigenen Alltag, das Fremdeln mit der Vorhersehbarkeit der eigenen Existenz und der Wunsch nach Neuem auf, wie ihn auch beispielsweise Anthony Doerr in seinem Roman Winklers Traum vom Wasser verhandelte.

Zu viele Brüche

Allerdings übertreibt es Gerbrand Bakker in Sachen Brüche auch etwas. So mögen sich die Geschichte um das queere Begehren des Friseurs für den Jungen mit Behinderung, die Schilderung des Flugzeugabsturzes und damit auch die Geschichte um Simons Vater Cornelis und der alltägliche Trott im Friseursalon nicht wirklich runden.

Zudem stehen einige Passagen wie etwa wie ein Gehversuch im Kurznachrichtendienst, der zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans Twitter hieß, reichlich unverbunden und unmotiviert in diesem Text herum. Simon, der nun plötzlich Obszönitäten als Verballhornung des Titellieds der holländischen Kinderserie Beertje Colargol in die Weiten des digitalen Raums schleudert, um den Schriftsteller auf sich aufmerksam zu machen, ließ mich nicht nur hier rätselnd zurück. Am Ende holpert die Erzählung für meinen Geschmack dann doch etwas zu sehr, als dass man Bakker die Vermengung an Themen und Tonlagen verbunden mit einer etwas erratischen Struktur rundheraus abnimmt.

„Aber das Allerschönste beim Schreiben“, sagt der Schriftsteller, als hätte Oscar danach gefragt, „bleibt doch, dass alles möglich ist. Alles ist möglich! Man kann sich die verrücktesten Sachen ausdenken, solange man sie glaubwürdig darstellt, ist das in Ordnung.(…)“

Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs, S. 254

Und genau hier mangelt es im Gegensatz zum Schaffen von Bakkers fiktivem Schriftsteller deutlich: an Glaubwürdigkeit. Für sich genommen, sind die einzelnen Elemente des Romans durchaus glaubwürdig – nur finden sie in der Gesamtkomposition nicht stimmig zueinander und bleiben eher ein Erzählprojekt mit Unwuchten denn überzeugend in sich geschlossenes Werk.

Fazit

Überzeugt die Schilderung des Alltags, des in seinen Routinen lebenden Friseurs Simon, bleibt der Rest des Romanpersonals in diesem etwas holpernden Roman blass, obgleich die Eigenwilligkeit des Bakker’schen Ensembles auf der Habenseite des Buchs steht. Dass sich diese Kauzigkeit bis zum Nachwort fortsetzt, in dem sich Bakker Gedanken macht, wem er danken könnte und wie es um die Fußnoten und Quellen seiner Geschichte bestellt ist, das ist durchaus amüsant. Für einen rundum überzeugenden Roman reicht das leider nicht.

So ist Der Sohn des Friseurs ein Roman, der das Kleine und damit aber auch das Große beobachtet, der ein eigenwilliger und doch auch universeller Roman über Begehren, Familie und die Leerstellen, die uns im Leben begleiten, sein könnte. Die Betonung bleibt aber leider auf dem Konjunktiv. Denn für ein überzeugenden Roman weist Bakker Buch aber leider ein paar Brüche zu viel auf und gleicht insgesamt leider eher der zerschellten KLM-Maschine auf der Rollbahn in Teneriffa denn einem überzeugenden Haarschnitt.

Eine weitere Stimme zu Gerbrand Bakkers Roman kommt von Paul Jandl in der NZZ.


  • Gerbrand Bakker – Der Sohn des Friseurs
  • Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
  • ISBN 978-3-518-43158-0 (Suhrkamp)
  • 285 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

André Hille – Jahreszeit der Steine

Ein Tag im Leben eines Vaters inmitten der Jahreszeit der Steine. Den beschreibt André Hille in seinem gleichnamigen Roman, in dem ihm die Nahaufnahme eines Mannes gelingt, der nicht nur über die eigene Prägung und seine Rolle als Vater viel nachdenkt, sondern sich bisweilen auch in seinen Grübeleien zu verlieren droht.


Die Jahreszeit der Steine von André Hille ist eines jener Bücher, bei denen es mir nicht gelingen würde, den Reiz des Buchs durch neutrale Schilderungen in Worte zu fassen. Vielmehr ist es das eigene Ich, das ich hier entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten bemühen muss, um meine Faszination für die Prosa André Hilles in Worte zu fassen. Deshalb hier nun eine mehr als subjektive Würdigung eines Buchs, in dem ich mich als mittelalter männlicher Leser hervorragend wiedergefunden habe, obschon der namenlose Protagonist nicht allzu viele Berührungspunkte zu mir selbst aufweist.

Leben auf dem Land

Dabei wirkt das Leben und die geschilderte Welt in André Hilles Roman wie eine Szenerie, die sich auch Juli Zeh in ihren boomenden Romanen über die ostdeutsche Provinz nicht besser ausgedacht haben könnte. Aufgewachsen in der DDR lebt der Erzähler zusammen mit seiner Frau Levje und den drei Kindern in einem Eigenheim auf dem Land, das von Äckern und Monotonie umgeben ist. Morgens radelt er seine beiden jüngeren Kinder Malik und Fritzi im Anhänger auf dem Rad in den Kindergarten, versucht sich danach an Momenten der Produktivität, die er für sein eigenes Schreiben und die Führung seiner eigenen Texterwerkstatt nutzen möchte.

Im Keller arbeitet der Holzspalter, um das Haus für die anstehenden Wintermonate mit Wärme zu versorgen. Im Wohnzimmer steht ein ausladender Tisch, unter dem Dach hat er sich seine eigene Bibliothek als Rückzugsraum eingerichtet. Alles erscheint wie ein hippes Klischee der aufs Land gezogenen Großstädter, wie man es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dutzendfach in ganz unterschiedlicher Qualität lesen kann.

Doch im Gegensatz zur Prosa Juli Zehs bleiben die Figuren bei André Hille keine Stellvertreterfiguren für gesellschaftliche Konflikte, die Verwerfungslinien zwischen Landbevölkerung und den Zugezogenen symbolisieren sollen. Was man in Jahreszeit der Steine finden kann ist Tiefe, Glaubwürdigkeit und damit auch ein Gefühl von Echtheit.

Ein Tag in Echtzeit

André Hille - Jahreszeit  der Steine (Cover)

Wie kommt es zu diesem Gefühl der Authentizität? Das hat mit der Erzählweise des Romans zu tun. Denn André Hille wagt eine extreme Nahaufnahme seines namenlosen Helden, den er einen Tag quasi in Echtzeit erleben lässt.

Wie in einem One-Cut-Video folgt sein Blick ständig dem Erleben und Denken seines Protagonisten einen ganzen Tag lang. Von der Früh bis zum Abend spannt Hille den Erzählbogen, der alles andere als spektakulär ist.

Sein Held erwacht zu den Klängen der ARD-Infonacht im Ohr, bereitet das Frühstück für die Familie vor, bringt die Kinder in die Schule und abends ins Bett, ist tagsüber viel mit seinen Gedanken und Erinnerungen befasst, ärgert sich über die Unordnung daheim und laboriert an minimalen Kränkungen im Zusammenleben mit seiner Frau, die sich trotzdem bereits zu einer veritablen Barriere zwischen ihnen aufgehäuft haben.

So weit so gut. Allerdings ist das hier Beschriebene doch wohl eher Alltag, den viele Paare und Familie in einer ähnlichen Konstellation tagtäglich erleben durften. Einen spannenden Roman macht solch eine schmucklose und austauschbare Rahmenhandlung sicherlich nicht aus.

Der doppelte Gundermann

Dass dem so ist, das hat mit der Figurentiefe zu tun, die André Hille durch die Beschreibung der Gedanken und Erfahrungswelt seines Helden erzielt. Denn die äußere Handlung alleine wäre kein Grund, diesen Roman als etwas Besonderes zu erachten. Erst durch den Gedankenfluss und die Assoziationen und Erinnerungen, die sein tägliches Tun auslösen, gewinnt der Roman an Qualität und Tiefe.

Dass dies so ist, kann man am besten mit dem Gundermann illustrieren, der in Jahreszeit der Steine in zweifacher Ausführung auftritt. So zitiert André Hille den Sänger, um mithilfe von dessen Poesie zugleich die Erlebniswelt als auch die die DDR-Hintergrund seines Helden zu illustrieren. Doch auch im Garten stößt er auf Gundermann, diesmal allerdings in pflanzlicher Form.

Beim Versuch, diesen aus dem Boden zu ziehen, droht sich Hilles Held in den Strängen zu verheddern und zu verlieren.Immer wieder sind es neue Stränge, die sein Zerren an der Pflanze zutage fördert und die sich der Entfernung aus dem Garten widersetzen. Schließlich offenbart sich in ganzes unterirdisches Rhizom, das sich vor ihm auftut. Ein Bild, das sich eindeutig auch auf die Gedankenwelt des Protagonisten selbst übertragen lässt.

Immer wieder liefert ihm der Alltag Möglichkeiten zum Nachdenken und Ergründen seiner eigenen Biografie und seiner Verhaltensweisen. Das Aufwachsen als Kind eines stark dem Alkohol zuneigenden Vaters, seine eigene Rastlosigkeit und die Versuche, dem väterlichen Erbe zu entkommen. Die Suche nach einem eigenen Weg als Vater zwischen Strenge und Akzeptanz der Individualität seiner Kinder, all das sind Gedanken, die ihn den Tag über begleiten und mit denen Hille nicht alleine ist in diesem literarischen Frühjahr.

Grübeleien von früh bis spät

Dabei neigt er zu starken Grübeleien, die den tatsächlichen Alltag fast zu überschatten drohen. So vertut er nahezu den gesamten kinderfreien Vormittag über die Betrachtung seiner Bibliothek und der schieren Frage, welcher von zwei Vornamen besser zu seinem Helden passt, den er in den Mittelpunkt eines Schreibprojekts gesetzt hat. Immer wieder ist er auf der Suche nach dem richtigen Moment, um zu schreiben oder um zu lesen oder in einer anderen Form produktiv sein.

Statt die Kränkungen mit seiner Frau anzusprechen, beschäftigt er sich lieber im Stillen mit diesen, wälzt sie hin und her und sorgt damit auch dafür, dass sich diese immer weiter aufschichten wie die Mauer aus Findelsteinen, die er um den Garten des Familienhauses gesetzt hat.

Überhaupt, die titelgebenden Steinen, die immer wieder als Leitmotiv im Buch auftauchen:

Trotzdem sind die Äcker voller Steine. Vor einiger Zeit, als wir auf der Suche nach Feldsteinen für unseren Garten waren, habe ich mich mit einem Bauern darüber unterhalten, der aus deinem Dorf mit dem bezeichnenden Namen Steinfeld stammt, in dem das Phänomen besonders verbreitet ist, und er lieferte eine neue Theorie: Die Steine werden durch die Fliehkräfte der Erdrotation nach außen getrieben, sagte er, Zentimeter für Zentimeter arbeiten sie sich durch die Erde, bis sie eines Tages an der Oberfläche auftauchen

André Hille – Die Jahreszeit der Steine, S. 85

Die Steine als Verborgenes, das an die Oberfläche drängt. Der Acker, der hier vom Schauplatz der Gassirunden mit Hund bis zum Ort für eine Rattenbeerdigung dient. Die Schutzmauer, die aus den Steinen gefügt war und das Haus vor äußeren Einflüssen abschirmen soll: vieles ist hier mehrfach aufgeladen und kann sowohl als auch als Abbild der Seele und der Verfassung seines Helden gelesen werden.

Ein beeindruckendes Buch

Meine Faszination für dieses Buch ist auch dadurch begründet, dass Hilles Held mit dem selbstreflexiven Denken und dem sprunghaften Erzählen mir selbst sehr nahe ist, obschon wir außerhalb einer gewissen Kulturbeflissenheit biographisch keine Berührungspunkte aufweisen und auch in Sachen Lebensweise so gut wie gar nichts gemein haben. Aber wie Hille es schafft, in die Gedankenwelt einzudringen, alles Zagen und Grübeln plausibel aus der Biografie und dem Werdegang seines Helden herzuleiten und wie er ein immer dichter werdendes Netz aus Gedanken und Alltagsbeschreibungen strickt, das trotz seines Alltäglichkeit zu keinem Zeitpunkt fade wird, das hat mich sehr beeindruckt und zu einer identifikatorischen Leseweise eingeladen.

Wie findet man seine Rolle als Mann und als Vater? Wie kann man sich von seinem Erbe emanzipieren? Und bis zu welchem Grad ist es sinnvoll, partnerschaftlich zur Symbiose zu verschwimmen und wann gibt man seine Individualität auf? All diese Überlegungen stecken nach meiner Lesart in Jahreszeit der Steine, das mich als mittelalter, männlicher Leser stark angesprochen hat, sicherlich aber nicht zu allen Leser*innen gleichsam stark sprechen dürfte.

Fazit

Um mir den Luxus eines rein subjektiven Werteurteils zu erlauben, zu dem mich dieses Hobbyprojekt hier befähigt: wie es André Hille in Jahreszeit der Steine gelingt, den unscheinbaren Alltag eines Familienvaters durch die vielgestaltigen Gedanken und Erinnerungsschleifen in seiner ganzen Individualität doch zu etwas so Universellem und Ansprechenden zu machen, das man sich immer wieder in der Lektüre wiederfindet und man die Grübeleien seines namenlosen Helden gerne begleitet, das hat mich wirklich beeindruckt. Ein starkes Buch, dessen Innerlichkeit und Gedankenfluss wunderbar mit der unspektakulären äußeren Handlung kontrastieren und das mit seinem narrativen Bogen eines einzelnen, chronologisch geschilderten Tages genau die richtige Form und Länge für die verhandelten Themen aufweist. Dieses Buch ist wirklich gelungen!


  • André Hille – Die Jahreszeit der Steine
  • ISBN 978-3-406-79991-4 (C. H. Beck)
  • 338 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht

Ein Vater mit seinem Sohn auf der Flucht durch Argentinien. Ihnen auf der Spur: die Geister der Vergangenheit und Geister der Gegenwart. Mariana Enriquez hat mit Unser Teil der Nacht ein wuchtiges, dunkles, bisweilen verstörendes Mammutwerk vorgelegt, das zwischen verschiedenen Genres und Stilen oszilliert und sich einer genauen Zuordnung entzieht.


Um ihren Roman zu erzählen, wählt Mariana Enriquez den Erzählansatz verschiedener Stimmen, die mal aus auktorialer oder Ich-Perspektive erzählen. All diese Episoden spielen zu verschiedenen Zeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ergeben erst langsam ein großes Ganzes. Die Hauptgeschichte entspinnt sich Mitte der 70er Jahren in Argentinien. Es herrscht die Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, Oppositionelle werden gefoltert und verschwinden spurlos.

Ein Vater und sein Sohn auf der Flucht

In dieser Zeit lernen wir Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Sie befinden sich auf dem Weg zum Landgut Puerto Reyes, wo sie erwartet werden. Schon auf dem Weg der beiden zeigt sich, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Juan ist ständig erschöpft, will seinen Sohn schützen – und dieser sieht in Hotelzimmern Gestalten und Geister, die nicht von dieser Welt stammen.

Mariana Enriquez - Unser Teil der Nacht (Cover)

Schnell stellt sich heraus, dass sowohl Juan als auch Gaspar so etwas wie ein zweites Gesicht haben. Sie können Geister und dunkle Kräfte sehen oder sogar heraufbeschwören. Diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der einer dunklen Welt jenseits der unseren macht vor allem Juan für einen zunächst nicht näher definierten Orden höchst interessant. Aber auch Gaspar ist für den Orden von Interesse – schließlich könnten sich die Mediumsfähigkeiten seines Vater ebenfalls auf ihn übertragen haben. Ein mögliches Schicksal, vor dem Juan seinen Sohn um jeden Preis beschützen möchte.

Und während die beiden in Richtung des Landguts Puerto Reyes reisen, treibt Juan eine weitere Sorge um. Seine Frau Rosario ist verschwunden. Ob tot oder nur verschollen, das ist noch fraglich. Um mehr über ihr Verschwinden herauszufinden, beschwört er Geister herauf, um zu klären, was es mit dem Schicksal seiner Frau auf sich hat. Doch die Beschwörungen haben ihren Preis…

Über andere Erzählerinnen und Erzähler in anderen Zeiten klären sich langsam die Rollen von Juan, Gaspar und Rosario. Aber auch in späteren Zeiten, in denen Gaspar dann schon größer ist, ist die Dunkelheit nicht fern. So verliert Gaspar beim Spielen mit Freund*innen in Buenos Aires dann eine Freundin beim Erkunden eines verlassenen Hauses an die Dunkelheit. Denn egal ob in den 70er Jahren oder bis hinein in die 90er Jahre – die Dunkelheit ist nie fern, wofür auch der geheimnisvolle Orden sorgt, der an Gaspar so großes Interesse hat.

Eine wilde Mischung mit hohen Dunkelanteil

Es ist eine völlig wilde Mischung, die Mariana Enriquez hier anrührt. Bislang ist sie mit Kurzgeschichten in Erscheinung getreten (etwa Was wir im Feuer verloren, 2017 bei Ullstein erschienen), nun legt sie ein über 830 Seiten starkes Werk vor, das alle Genrezuordnungen sprengt.

Viele der Geschichten wirken zunächst einmal reichlich unverbunden, die Anknüpfungspunkte zum bisher Gelesenen erschließen sich manchmal erst spät. So gibt es Passagen, die stark an Serien wie Stranger Things und Abenteuerbücher wie die Drei ??? erinnern, dann gibt es Horrorelemente, Beschreibung größter körperlicher Pein und Folter, bei denen die Militärdiktatur manchmal ein guter Deckmantel ist, mit dem man die eigentlichen, unsäglichen Verbrechen des Ordens kaschieren kann. Es gibt explizite Liebesszenen, Fantasy- oder eher Horrorszenen (besonders in den Ritualen, in denen die Dunkelheit beschworen wird). Wir haben es mit einer Familiensaga zu tun, genauso gibt es Okkultes neben Profanen, Orgien und erste Liebe – und die Lyrik ist sowieso immer von Bedeutung.

Stellenweise wirkt Unser Teil der Nacht wie der dunkle Gegenpart zu Carlos Ruiz Zafons Der Schatten des Windes. In Zeiten von Verbrechen und Gräuel suchen ein Vater und ein Sohn nach den Hintergründen des Verschwindens der Frau oder Mutter und erleben dabei Fantastisches, das außerhalb unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt liegt. Wo bei Zafon alles wie in Sepia getaucht wirkt, ist die Welt von Mariana Enriquez bedeutend dunkler. Der Tod und die Geister sind stets präsent, auf dem Landgut Puerto Reyes spielt sich Unsägliches ab. Juan versucht seinen Sohn davor zu schützen, aber die Schatten reichen weit. Und die Toten reisen schnell.

Fazit

Das zeigt Mariana Enriquez eindrücklich, der mit Unser Teil der Nacht ein dunkles, bisweilen schwer erträgliches Buch mit einem hohen Horror-Anteil gelingt. Die Militärdiktatur, ein grausamer Orden, ein Vater, der seinen Sohn vor dem Schicksal bewahren will. Das sind Teile dieser großen, dunklen Saga, die die zweite Hälfte des vergangen Jahrhunderts aus argentinischer Perspektive noch einmal aufleben lässt. Wuchtig, verstörend, dunkel- thematisch wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.


  • Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht
  • Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann
  • ISBN 978-3-608-50161-2 (Klett-Cotta)
  • 832 Seiten. Preis: 28,00 €
Diesen Beitrag teilen