Tag Archives: Land

André Hille – Jahreszeit der Steine

Ein Tag im Leben eines Vaters inmitten der Jahreszeit der Steine. Den beschreibt André Hille in seinem gleichnamigen Roman, in dem ihm die Nahaufnahme eines Mannes gelingt, der nicht nur über die eigene Prägung und seine Rolle als Vater viel nachdenkt, sondern sich bisweilen auch in seinen Grübeleien zu verlieren droht.


Die Jahreszeit der Steine von André Hille ist eines jener Bücher, bei denen es mir nicht gelingen würde, den Reiz des Buchs durch neutrale Schilderungen in Worte zu fassen. Vielmehr ist es das eigene Ich, das ich hier entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten bemühen muss, um meine Faszination für die Prosa André Hilles in Worte zu fassen. Deshalb hier nun eine mehr als subjektive Würdigung eines Buchs, in dem ich mich als mittelalter männlicher Leser hervorragend wiedergefunden habe, obschon der namenlose Protagonist nicht allzu viele Berührungspunkte zu mir selbst aufweist.

Leben auf dem Land

Dabei wirkt das Leben und die geschilderte Welt in André Hilles Roman wie eine Szenerie, die sich auch Juli Zeh in ihren boomenden Romanen über die ostdeutsche Provinz nicht besser ausgedacht haben könnte. Aufgewachsen in der DDR lebt der Erzähler zusammen mit seiner Frau Levje und den drei Kindern in einem Eigenheim auf dem Land, das von Äckern und Monotonie umgeben ist. Morgens radelt er seine beiden jüngeren Kinder Malik und Fritzi im Anhänger auf dem Rad in den Kindergarten, versucht sich danach an Momenten der Produktivität, die er für sein eigenes Schreiben und die Führung seiner eigenen Texterwerkstatt nutzen möchte.

Im Keller arbeitet der Holzspalter, um das Haus für die anstehenden Wintermonate mit Wärme zu versorgen. Im Wohnzimmer steht ein ausladender Tisch, unter dem Dach hat er sich seine eigene Bibliothek als Rückzugsraum eingerichtet. Alles erscheint wie ein hippes Klischee der aufs Land gezogenen Großstädter, wie man es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dutzendfach in ganz unterschiedlicher Qualität lesen kann.

Doch im Gegensatz zur Prosa Juli Zehs bleiben die Figuren bei André Hille keine Stellvertreterfiguren für gesellschaftliche Konflikte, die Verwerfungslinien zwischen Landbevölkerung und den Zugezogenen symbolisieren sollen. Was man in Jahreszeit der Steine finden kann ist Tiefe, Glaubwürdigkeit und damit auch ein Gefühl von Echtheit.

Ein Tag in Echtzeit

André Hille - Jahreszeit  der Steine (Cover)

Wie kommt es zu diesem Gefühl der Authentizität? Das hat mit der Erzählweise des Romans zu tun. Denn André Hille wagt eine extreme Nahaufnahme seines namenlosen Helden, den er einen Tag quasi in Echtzeit erleben lässt.

Wie in einem One-Cut-Video folgt sein Blick ständig dem Erleben und Denken seines Protagonisten einen ganzen Tag lang. Von der Früh bis zum Abend spannt Hille den Erzählbogen, der alles andere als spektakulär ist.

Sein Held erwacht zu den Klängen der ARD-Infonacht im Ohr, bereitet das Frühstück für die Familie vor, bringt die Kinder in die Schule und abends ins Bett, ist tagsüber viel mit seinen Gedanken und Erinnerungen befasst, ärgert sich über die Unordnung daheim und laboriert an minimalen Kränkungen im Zusammenleben mit seiner Frau, die sich trotzdem bereits zu einer veritablen Barriere zwischen ihnen aufgehäuft haben.

So weit so gut. Allerdings ist das hier Beschriebene doch wohl eher Alltag, den viele Paare und Familie in einer ähnlichen Konstellation tagtäglich erleben durften. Einen spannenden Roman macht solch eine schmucklose und austauschbare Rahmenhandlung sicherlich nicht aus.

Der doppelte Gundermann

Dass dem so ist, das hat mit der Figurentiefe zu tun, die André Hille durch die Beschreibung der Gedanken und Erfahrungswelt seines Helden erzielt. Denn die äußere Handlung alleine wäre kein Grund, diesen Roman als etwas Besonderes zu erachten. Erst durch den Gedankenfluss und die Assoziationen und Erinnerungen, die sein tägliches Tun auslösen, gewinnt der Roman an Qualität und Tiefe.

Dass dies so ist, kann man am besten mit dem Gundermann illustrieren, der in Jahreszeit der Steine in zweifacher Ausführung auftritt. So zitiert André Hille den Sänger, um mithilfe von dessen Poesie zugleich die Erlebniswelt als auch die die DDR-Hintergrund seines Helden zu illustrieren. Doch auch im Garten stößt er auf Gundermann, diesmal allerdings in pflanzlicher Form.

Beim Versuch, diesen aus dem Boden zu ziehen, droht sich Hilles Held in den Strängen zu verheddern und zu verlieren.Immer wieder sind es neue Stränge, die sein Zerren an der Pflanze zutage fördert und die sich der Entfernung aus dem Garten widersetzen. Schließlich offenbart sich in ganzes unterirdisches Rhizom, das sich vor ihm auftut. Ein Bild, das sich eindeutig auch auf die Gedankenwelt des Protagonisten selbst übertragen lässt.

Immer wieder liefert ihm der Alltag Möglichkeiten zum Nachdenken und Ergründen seiner eigenen Biografie und seiner Verhaltensweisen. Das Aufwachsen als Kind eines stark dem Alkohol zuneigenden Vaters, seine eigene Rastlosigkeit und die Versuche, dem väterlichen Erbe zu entkommen. Die Suche nach einem eigenen Weg als Vater zwischen Strenge und Akzeptanz der Individualität seiner Kinder, all das sind Gedanken, die ihn den Tag über begleiten und mit denen Hille nicht alleine ist in diesem literarischen Frühjahr.

Grübeleien von früh bis spät

Dabei neigt er zu starken Grübeleien, die den tatsächlichen Alltag fast zu überschatten drohen. So vertut er nahezu den gesamten kinderfreien Vormittag über die Betrachtung seiner Bibliothek und der schieren Frage, welcher von zwei Vornamen besser zu seinem Helden passt, den er in den Mittelpunkt eines Schreibprojekts gesetzt hat. Immer wieder ist er auf der Suche nach dem richtigen Moment, um zu schreiben oder um zu lesen oder in einer anderen Form produktiv sein.

Statt die Kränkungen mit seiner Frau anzusprechen, beschäftigt er sich lieber im Stillen mit diesen, wälzt sie hin und her und sorgt damit auch dafür, dass sich diese immer weiter aufschichten wie die Mauer aus Findelsteinen, die er um den Garten des Familienhauses gesetzt hat.

Überhaupt, die titelgebenden Steinen, die immer wieder als Leitmotiv im Buch auftauchen:

Trotzdem sind die Äcker voller Steine. Vor einiger Zeit, als wir auf der Suche nach Feldsteinen für unseren Garten waren, habe ich mich mit einem Bauern darüber unterhalten, der aus deinem Dorf mit dem bezeichnenden Namen Steinfeld stammt, in dem das Phänomen besonders verbreitet ist, und er lieferte eine neue Theorie: Die Steine werden durch die Fliehkräfte der Erdrotation nach außen getrieben, sagte er, Zentimeter für Zentimeter arbeiten sie sich durch die Erde, bis sie eines Tages an der Oberfläche auftauchen

André Hille – Die Jahreszeit der Steine, S. 85

Die Steine als Verborgenes, das an die Oberfläche drängt. Der Acker, der hier vom Schauplatz der Gassirunden mit Hund bis zum Ort für eine Rattenbeerdigung dient. Die Schutzmauer, die aus den Steinen gefügt war und das Haus vor äußeren Einflüssen abschirmen soll: vieles ist hier mehrfach aufgeladen und kann sowohl als auch als Abbild der Seele und der Verfassung seines Helden gelesen werden.

Ein beeindruckendes Buch

Meine Faszination für dieses Buch ist auch dadurch begründet, dass Hilles Held mit dem selbstreflexiven Denken und dem sprunghaften Erzählen mir selbst sehr nahe ist, obschon wir außerhalb einer gewissen Kulturbeflissenheit biographisch keine Berührungspunkte aufweisen und auch in Sachen Lebensweise so gut wie gar nichts gemein haben. Aber wie Hille es schafft, in die Gedankenwelt einzudringen, alles Zagen und Grübeln plausibel aus der Biografie und dem Werdegang seines Helden herzuleiten und wie er ein immer dichter werdendes Netz aus Gedanken und Alltagsbeschreibungen strickt, das trotz seines Alltäglichkeit zu keinem Zeitpunkt fade wird, das hat mich sehr beeindruckt und zu einer identifikatorischen Leseweise eingeladen.

Wie findet man seine Rolle als Mann und als Vater? Wie kann man sich von seinem Erbe emanzipieren? Und bis zu welchem Grad ist es sinnvoll, partnerschaftlich zur Symbiose zu verschwimmen und wann gibt man seine Individualität auf? All diese Überlegungen stecken nach meiner Lesart in Jahreszeit der Steine, das mich als mittelalter, männlicher Leser stark angesprochen hat, sicherlich aber nicht zu allen Leser*innen gleichsam stark sprechen dürfte.

Fazit

Um mir den Luxus eines rein subjektiven Werteurteils zu erlauben, zu dem mich dieses Hobbyprojekt hier befähigt: wie es André Hille in Jahreszeit der Steine gelingt, den unscheinbaren Alltag eines Familienvaters durch die vielgestaltigen Gedanken und Erinnerungsschleifen in seiner ganzen Individualität doch zu etwas so Universellem und Ansprechenden zu machen, das man sich immer wieder in der Lektüre wiederfindet und man die Grübeleien seines namenlosen Helden gerne begleitet, das hat mich wirklich beeindruckt. Ein starkes Buch, dessen Innerlichkeit und Gedankenfluss wunderbar mit der unspektakulären äußeren Handlung kontrastieren und das mit seinem narrativen Bogen eines einzelnen, chronologisch geschilderten Tages genau die richtige Form und Länge für die verhandelten Themen aufweist. Dieses Buch ist wirklich gelungen!


  • André Hille – Die Jahreszeit der Steine
  • ISBN 978-3-406-79991-4 (C. H. Beck)
  • 338 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Chris Harding Thornton – Pickard County

Menschen, die ihr Unglück und der Schmerz eint, irgendwo im Nirgendwo von Nebraska Ende der 70er Jahre. Das ist das Leben im Pickard County, das Chris Harding Thornton in ihrem Roman schildert. Es bleibt nur eine Frage: ist das noch ein Kriminalroman?


In einem Interview mit dem Blog Klappentexterin wurde der Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche vor wenigen Wochen gefragt, was für ihn einen guten Krimi ausmacht, der auch Chancen hat, in sein Programm aufgenommen zu werden. Wörtche, der für Suhrkamp schon einige Perlen wie etwas Louisa Luna oder Merle Kröger an Land gezogen hat, gab auf diese Frage hin Folgendes zu Protokoll:

Ich mag auch gerne grenzgängige Bücher, Genre-Hybride zum Beispiel, oder Bücher, die man nicht genau einsortieren kann, die sich angeblich festliegenden Kriterien verweigern.

Thomas Wörtche im Interview mit dem Blog Klappentexterin, 27.11.2022

Solche Kriminalromane findet man allerdings nicht nur im Krimisegment des Suhrkamp-Verlags. Mit dem Polar-Verlag hat sich ein ganzer Verlag alleine dem Kriminalroman und seinen verschiedenen Schattierungen verschrieben. Bestes Beispiel für einen Krimi, der sich den angeblich festliegenden Kriterien verweigert ist in meinen Augen das Debüt Pickard County der Autorin Chris Harding Thornton, der in der Übersetzung von Kathrin Bielfeldt im Oktober bei Polar erschienen ist.

Irgendwo im Nirgendwo von Nebraska

Darin erzählt sie vom titelgebenden County irgendwo im Nirgendwo Nebraskas. Man schreibt das Ende der 70er Jahre, im Fernsehen talkt Johnny Carson und auf dem Land herrscht Ödnis. Viele Farmhäuser wurden aufgegeben, so etwas wie eine nennenswerte Industrie gibt es hier nicht. Für Jugendliche ist hier sowieso kein Platz vorgesehen.

Chris Harding Thornton - Pickard County (Cover)

Da überrascht es nicht, dass der Stellvertreter des lokalen Sheriffs, Harley Jensen, bei einer seiner vielen nächtlichen Patrouillen just in einem leerstehenden Farmhaus den jungen Paul Reddick in weiblicher Begleitung aufstöbert. Dieser bringt mit seinem jugendlich-provokanten Auftreten den Sheriff-Stellvertreter aus dem Konzept. Vor allem die Frage, was Reddick dort zu suchen hatte, treibt Jensen auch nach der nächtlichen Begegnung um.

Vor einigen Jahren wurde der kleine Bruder der Reddick-Brüder ermordet. Bevor der Mörder allerdings den Ort der Leiche preisgeben konnte, brachte er sich um. Dieses Trauma hat die Familie bis heute nicht verwunden und geht ganz unterschiedlich mit dem Verlust um. Und auch Jensen selbst hat seine Mutter verloren, die noch das Abendbrot für die beiden Kinder herrichtete, ehe sie sich umbrachte.

Von diesen Traumata erzählt Thornton sehr eindringlich und gönnt auch den andere Figuren in diesem Ensembleroman kein nennenswertes Glück. So ist Pam Reinhardt, die Schwägerin von Paul, mit ihrer Rolle als Mutter in prekären finanziellen Verhältnissen zutiefst unglücklich. Sie will ihren Mann und das gemeinsame Kind verlassen – und findet just in Harley Jensen eine verwandte Seele, mit der sich eine Liebesbeziehung entspinnt. Derweil wittert Rick, Pauls Bruder und Pams Ehemann, die Untreue, was ihn immer stärker umtreibt.

Eher zwischenmenschliche als kriminalliterarische Themen

Wie man an diesen Beschreibungen des Inhalts schon merkt, ist Pickard County ein Roman, der eher von zwischenmenschlichen denn von kriminalliterarischen Themen geprägt wird. Zwar gibt es krimitypische Zutaten wie den ungeklärten Verbleib des Reddick-Jungen und auch Polizeiarbeit fällt in Form von Brandstiftungen in verlassenen Höfen oder gestohlenen Gratiszeitungen an. Mit wirklich viel Lust verfolgt Chris Harding Thornton diese Ansätze aber nicht.

Eher ist es ein Zufallsprodukt, dass Harley Jensen gerade eben Stellvertreter des Sheriffs ist und damit eine polizeiliche Note in den Roman findet, was das Buch in die Nähe eines Krimis rückt. Die anderen Figuren von Pam Reinhardt über Paul Reddick bis hin zum alten Zisske in diesem Roman haben aber wenig Krimimäßiges an sich. Hier sind es viel mehr die Themen der unglücklichen Mutterschaft oder der nicht aufgearbeiteten Traumata oder das Begehren sowie das Leben in Armut, die im Mittelpunkt stehen und von denen Chris Harding Thorton anschaulich erzählt. .

Dort im von den deutschen Einwanderern geprägten Pickard County (viele nächtliche Streifenfahrten von Harley spielen sich auf der Schleswig-Holstein-Road statt, allenorten stammt man über Nachnamen mit deutschem Klang) gibt es viel Leid. Spannung findet man dafür eher weniger.

Dieses Fehlen von Suspense in Kombination mit und einer ganz anderen Schwerpunktsetzung im Roman selbst (eher Affäre statt Ermittlungsarbeit, eher Porträt des Lebens in der Unterschicht denn mitreißende Spannung) macht für mich die Einordnung als Kriminalroman zugegeben auch etwas schwierig.

Vielmehr ist Pickard County für mich das Porträt eines Landstrichs, in dem Unglück und Leid besonders gut zu gedeihen scheinen, wovon Chris Harding Thornton, nach Auskunft des Verlags Nebraskanerin der siebten Generation, auch hervorragend berichten kann. Wer eine ruhige Erzählung aus dem amerikanischen Nirgendwo mit wenig Hoffnung aber präzise gestalteten Figuren zu schätzen weiß, der darf hier gerne zugreifen. Krimifans, die von Krimis vor allem Spannung und Tempo erwarten, sollten aber eine andere Lektüre wählen.

Fazit

Mit Pickard County lotet der Polar-Verlag die Grenzen des Genres des Kriminalromans einmal mehr aus. Denn statt Spannung, Tempo und mitreißender Ermittlungsarbeit gibt es hier ein langsam geschildertes und präzise beschriebenes Bild vom Leben auf dem Land, das für alle Beteiligten Unglück bedeutet. Außereheliches Begehren, nicht verarbeitete Traumata und sind die Themen, von denen Chris Harding Thornton in ihrem Debüt erzählt. Ist das noch ein Krimi? Das muss wohl jeder Leser und jede Leserin selbst entscheiden.

Das Buch lädt auf alle Fälle ein, die eigene Genredefinition zu überdenken und hilft bei der Schärfung des eigenen Krimibegriffs. Und auch wenn ich mich persönlich mit der Gattungsbezeichnung etwas schwertue, freue mich aber über ein Buch, das als Grenzgänger zwischen Country Noir und American Gothic, das Marcus Müntefering in seinem Nachwort zurecht in die Nähe von Polar-Autoren wie J. Todd Scott rückt. Ruhige (Kriminal-)Literatur aus der Einöde Nebraskas!


  • Chris Harding Thornton – Pickard County
  • Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
  • ISBN 978-3-948392-64-2 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 16,00 €
Diesen Beitrag teilen

Melissa Harrison – Vom Ende eines Sommers

Langsam werden die Folgen des Brexit sichtbar. Während sich die Regierung des Landes in symbolischen restituierenden Maßnahmen wie der Einführung von alten Gewichtseinheiten wie Unzen oder antiquierter Eichmaße we dem Crown Stamp übt, herrscht in Weiten Teilen des Landes die Lorry Crisis. Zahlreiche Facharbeiter*innen oder Fahrer*innen sind im Zuge des Abschieds aus der EU zurück auf den Kontinent gegangen, was sich nun in zahlreichen Bereichen des täglichen Lebens bemerkbar macht. So sind die Versorgungsketten brüchig geworden, was häufig zu leeren Supermarktregalen genauso wie zu langen Schlangen vor den Tankstellen führt. Egal ob Nahrungsmittel oder Benzin, der Brexit hat gezeigt, dass es mit der versprochenen neuen Stärke Großbritanniens nicht weit her ist.

Ein ganz anderes Bild zeigt sich da auf dem Buchmarkt. Auf ihm treten vermehrt Bücher in Erscheinung, die ein gegenläufiges Bild Großbritanniens zeichnen. In den Dorfromanen sind es zumeist Protagonist*innen, die auf Bauernhöfen wohnen, in der ländlichen Umgebung fest verwurzelt sind und die aus der sie umgebenden Natur ihre Stärke ziehen. Zu nennen wäre hier beispielsweise Sebastian Barry mit seinem Roman Annie Dunne, der eine widerborstige Frau in den Wicklows 1959 zeigt. J. L. Carr beschreibt in seinem Roman Ein Monat auf dem Land die Gesundung eines Weltrkiegsveteranen im ländlichen Yorkshire. Benjamin Myers lässt in Offene See einen jungen Mann kurz vor dem Ernst des Lebens durch die englische Natur wandern . Und Reginald Arkell zeigt in Pinnegars Garten ein ebenso gegensätzliches Paar, das die Liebe zur englischen Natur, insbesondere der Flora, zusammengeführt hat.

Melissa Harrison - Vom Ende eines Sommers (Cover)

Viele Bücher also, die die Vorstellungen eines unberührten aus der Zeit gefallenen Vereinigten Königreichs bedienen und so konträr zu den aktuellen Entwicklungen stehen. Einmal mehr erscheint nun im Dumont-Verlag ein weiteres Buch, bei dem das Cover an genau die Sorte der obigen Beispiele erinnert. Schwalben, die eine blühende Natur aus Feldern und gesunden Bäume bestehend durchmessen. Helle Farben, blühende Sträucher und Sicht bis zum Horizont. Das verspricht der Melissa Harrisons Roman rein äußerlich – erschöpft sich dann aber gottseidank nicht Landschaftskitsch. Vielmehr ist Vom Ende eines Sommers der genaue Blick auf das Erwachsenwerden einer jungen Frau und die Probleme der ländlichen Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg, fernab von jeglicher Empire-Romantik.

Sommer in Suffolk 1933

Wir schreiben das Jahr 1933 – es herrscht Sommer in Suffolk. Als Kind von Bauern weiß die vierzehnjährige Edie um die Fülle und den Reichtum der Natur. Mit den Gleichaltrigen vermag sie nicht allzu viel anzufangen. Stattdessen fasziniert die plötzlich in ihrem Dorf aufgetauchte Constance FitzAllen das junge Mädchen ungemein. Die Journalistin recherchiert über das Dorfleben und hegt ganz eigene Ansichten über den Lebensstil der Dorfbevölkerung. In ihrer Andersartigkeit wird sie für Edie zum Orientierungspunkt und zeigt dem Mädchen eine Alternative zum Altbekannten auf. Doch auch Constance FitzAllen hat ihre nicht so schönen Seiten, die Edie erst spät kennenlernen wird.

Vom Ende eines Sommers ist ein Roman, der die ganze Fülle des britischen Landlebens und der Natur atmet. Insofern verspricht das Cover nicht zu viel. Hier steht alles in voller Blüte, in den Hecken zwischen den Feldern ziept und zirpt es beständig. Melissa Harrisons Buch nimmt aber auch die weniger pittoresken Seiten des Dorflebens der 30er Jahre in den Blick. So grassiert die Armut, Edie Eltern leben am unteren Existenzminimum und sind auf gute Ernten angewiesen, um halbwegs die Schulden auf Abstand zu halten. Der lokale Adel wirft einmal im Jahr ein Fest und fällt ansonsten durch größtmögliche Distanz zur normalsterblichen Bevölkerung auf. Heruntergekommene Höfe und Armut, sie sind ein entscheidender Teil vom Bild des lokalen Englands.

Auch der zurückliegende Weltkrieg hat die Bevölkerung nachdrücklich geprägt und die Erinnerung an die damaligen Ereignisse ist bei den meisten Menschen noch immer präsent. Auf den Feldern Flanderns oder Frankreichs sind viele junge Männer zurückgeblieben, auch auf Edies Hof gab es tragische Verluste zu beklagen. Die Verluste wurden nicht richtig verarbeitet, Männer nehmen sich, was sie wollen. Gleichberechtigung und gegenseitige Achtung sind hier noch nicht wirklich festzustellen. Deshalb übt die so unangepasste und starke Constance einen derartigen Reiz auf Edie aus, die so wenig in die ländliche Umgebung passt, aber gerade deshalb umso mehr vom einfachen Landleben angezogen wird, in das sie sich ganz hineingibt.

Fazit

Durch den genauen Blick auf die Lebensverhältnisse der damaligen Zeit besticht Melissa Harrisons Roman, der sich eben nicht alleine mit Naturschilderungen und Verklärung der „guten, alten Zeit“ begnügt. Das Buch ist in seiner Verschmelzung von romantischen und naturalistischen Ansätzen sehr reizvoll und kombiniert den klassischen Coming-of-Age-Roman mit zeitgeschichtlichem und naturnahem Kolorit. Von Werner Löcher-Lawrence wurde das Ganze in seiner ganzen Beschreibungsfülle ins Deutsche übertragen.

Ein Buch, das wenig beschönigt und nicht den Fehler begeht, die Geschichte der Landbevölkerung zu verklären. Und gerade dadurch gewinnt Vom Ende eines Sommers, das eben kein pures Nostalgiebedürfnis der Leserschaft befriedigt, sondern einen genauen Blick auf die ländliche Geschichte der 30er Jahre in Suffolk liefert. In diesem Buch steckt deutlich mehr, als es das Cover suggeriert!


  • Melissa Harrison – Vom Ende eines Sommers
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-8152-9 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Jennifer Haigh – Licht und Glut

Die Amerikaner und ihre unersättliche Gier nach günstiger Energie – dieses Thema behandelt die Autorin Jennifer Haigh in ihrem neuen auf Deutsch erschienen Roman (übersetzt von Juliane Gräbener-Müller).

Ausgangspunkt ist das kleine Städtchen Bakerton in Pennsylvania im Jahr 2010. Das Dorf hat schon bessere Zeiten gesehen, alles wirkt ein wenig heruntergekommen. Der Knast, die Bar, die Häuser – eigentlich ein typisches Beispiel, wenn heute von abgehängten Regionen und Menschen gesprochen wird. Doch da kommt Bobby Frame in das Dörfchen und wirft die althergebrachte Ordnung über den Haufen. Den Bobby Frame arbeitet für einen Energiekonzern, der entdeckt hat, dass sich unter dem Schiefer Bakertons große Gasvorkommen befinden. Und diese sollen mithilfe von Fracking gefördert werden, dem Energieriesen Gewinn und den Bewohnern Bakertons Wohlstand bringen.

Doch so wie es geplant ist, mag das alles nicht funktioniert. Als Leser wohnt man den Verwicklungen bei, die sich mit dem Auftauchen Frames entwickeln. Die Dorfbewohner entzweit die Frage, ob man sein Land verpachten soll oder nicht. Hoffnungen und Träume sind mit dieser Frage verbunden – doch auch Befürchtungen und Gefahren. Beim Energieriesen setzt man auf Expansion um so die Aktionäre bei Laune zu halten. Doch auch Widerstand formiert sich unter den Anwohnern und so speist sich das Buch aus den Reibungen, die aus dem Dorf heraus entstehen.

Jennifer Haigh bettet ihre multiperspektivisch erzählte Geschichte auch mithilfe von Zeitsprüngen in einen größeren Kontext ein, der zeigt, dass der Hunger nach Energie schon immer ein bestimmendes Motiv amerikanischer Geschichte war. Vom Ölförderboom im Prolog bis hin zur Reaktorkatastrophe von Harrisburg – stets dominiert das Energiemotiv die Geschichte.

Daneben ist Licht und Glut auch ein aktueller Einblick in die Befindlichkeiten auf dem Land – ein dringend notwendiger Blick, der nach der Wahl Donald Trumps als Manifestation genau dieser Probleme zutage trat, schon wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit gerät.

Neben Annie Proulx aktuellem Roman das Beste aus Amerika, was sich zurzeit zum Thema Umwelt(schutz), Kapitalismus und Streben nach Energien auf dem Buchmarkt aus Übersee finden lässt!

Diesen Beitrag teilen

Adventskalender – Türchen 21

Eine wunderbare Preziose und Wiederentdeckung verbirgt sich hinter dem heutigen Adventskalendertürchen – die Rede ist vom Büchlein „Ein Monat auf dem Land“ von J.L. Carr.

Dieses im Original 1980 erschienene Büchlein wurde nun vom Dumont-Verlag in einer wunderschön gestalteten bibliophilen Ausgabe herausgegeben, die Übersetzung hat Monika Köpfer besorgt. Der Titel des Buchs trifft nicht ganz zu, denn mehr als ein Monat auf dem englischen Land soll es dann für den Kriegsveteran und Ich-Erzähler Tom Birkin schon werden.

Dieser kommt ins verschlafene Dörfchen Oxgodby auf dem Land, hier gehen die Uhren noch anders. In einer Kirche soll er ein Deckengemälde restaurieren und freilegen – doch die Arbeit ist eigentlich nur Metapher. So behutsam wie er Schicht um Schicht an der Kirchendecke abträgt, so behutsam enthüllt J. L. Carr langsam die Details über das Leben seines Protagonisten. Seine Vergangenheit und seine Versuche sich ins Leben zurückzutasten verfolgt man gebannt und freut sich über Birkins neu erwachenden Lebensmut.

J.L. Carr benötigt nicht viele Worte oder Passagen und die Schrecken des Weltkrieges zu skizzieren, die zur Verunstaltung und den Leiden von Tom Birkin führen. Ebenso gelingt im die Gratwanderung zwischen Idylle und  Sentimentalität fernab von jeglichem Pilcher-Cornwall-Dramolett. Das Buch vermeidet jeden Kitsch, den man fürchten könnte und ist ein wunderbares Kleinod, das unter jedem Weihnachtsbaum gut aufgehoben ist!

Diesen Beitrag teilen