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Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts

Mit Das Liebespaar des Jahrhunderts treibt Julia Schoch ihre autofiktionale Trilogie weiter voran. Sie blickt auf den Anfang und das Ende einer Beziehung – und die Höhen und Tiefen dazwischen. Platz 1 der SWR-Bestsellerliste, Jubel im Feuilleton und allerorten – nur ich schere wieder einmal etwas in Sachen Lobpreisungen aus.


Schochs neuer Roman fällt in die Gattung der Beziehungsdeklination. Diese Romane blicken auf Beziehungen, die den Bogen vom anfänglichen Liebestaumel bis zur Entwöhnung, Scheidung oder Trennung beschreiben. Jüngst tat das etwa Caroline Schmitt in ihrem Debüt Liebewesen, auch der Spanier Isaac Rosa erzählte davon, gewann dem bekannten Topos aber durch seine invertierte Erzählform vom Ende her interessante Facetten ab.

Die Grande Dame der englischen Literatur, Jane Gardam, spürte den Entwicklungen einer Beziehung in gleich dreifacher Ausfertigung nach, indem sie dem Beziehungsleben von Frau (Eine treue Frau), Mann (Ein untadeliger Mann) und Liebhaber (Letzte Freunde) jeweils einen ganzen Roman widmete, die auf anachronistische Erzählkonzepte setzten.

Ästhetisch ordnet sich Julia Schochs Roman nun zwischen den Polen Gardam/Rosa und Schmitt ein. Nicht so schnodderig wie die junge Debütantin, nicht so komplex und raffiniert wie Gardam oder Rosa ist Das Liebespaar des Jahrhundert ein Buch, das schon mit den ersten Zeilen seinen Handlungsrahmen aufspannt.

Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich.

Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe.

Drei Wörter am Anfang, drei Wörter am Ende. Wie es aussieht, lässt sich das Wichtigste im Leben mit sehr wenigen Wörtern sagen.

Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts, S. 7

Eine Liebe vom Anfang bis zum Ende

Julia Schoch - Das Liebespaar des Jahrhunderts (Cover)

Nach diesen Worten spürt die Erzählerin ihrer Beziehung nach, an deren Ende beeindruckende Zahlen stehen. 173.500 Fotos, 42 Reisen, vier Küchen, 8667 geschmierte Schulbrote und 41 Geburtstagstorten stehen für eine Beziehung, die schleichend ihren Ausgang genommen hat, ehe nun die finalen Worte zwischen den beiden Liebenden gesprochen wurden.

Die zunächst so evidente Logik, nach der die beiden jungen Leute zusammenkamen, das Studium, Aufenthalte in Paris oder Russland, das Zusammenziehen, Entfremdung nach dem ersten Kind, das schleichende Auseinanderleben bis zur Erkenntnis, mehr gegeneinander als miteinander zu leben. Das alles zeichnet Julia Schoch in ihrem mit 190 Seiten recht kurzen Roman in chronologischer Reihung nach.

In sehr sachlichem, kurzgehaltenen Ton blickt sie auf die Beziehung, in der beide Protagonisten namenlos und die Kinder so gut wie ausgespart bleiben. Auch die Beziehung selbst macht sie frei von großen Realien, wie die Erzählerin im Text hervorhebt.

Ich bin mir nicht sicher, ob Jahreszahlen unserer Geschichte etwas Wesentliches hinzufügen würden. Ob unsere Geschichte davon abhängt. Sollte man die Liebe nicht besser beschreiben, ohne sie einer bestimmten Zeit zuzuordnen? Oder braucht es ein Anfangsjahr? Würde es also etwas ändern, wenn ich sagte: Wir lernten uns 1991, 1994 oder im Jahr 2000 kennen? Solche Angaben würden mir das Gefühl vermitteln, wir wären nur das Produkt einer bestimmten Epoche, die Folge gewisser historischer Umstände. Als hätte alles so kommen müssen, wie es gekommen ist. Es käme mir so vor, als wäre ich eine Gefangene der Zeit.

Andererseits ist alles so gekommen, wie es gekommen ist. Es gibt keine Variante unserer Geschichte.

Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts, S. 14

Frei von den Zwängen von Raum und Zeit kann aus dem jungen Paar eben auch das Liebespaar des Jahrhunderts werden. Denn während sich alle andere Paare trennen und entlieben, scheint die Liebe zwischen ihr und ihm immer weiter zu wachsen. Offensichtlich ist die Liebe des Paars eine grundlegend andere, als sie andere Menschen um sie herum erfahren. Das rechtfertigt dann auch die großen zeitlichen Anspruch, den Titel und Erzählerin im Buch erheben, obschon auch dieser Liebe eine Ende beschieden ist, wie man schon gleich zu Beginn von Schochs Buch weiß.

Mittelteil von Schochs Trilogie

Das Liebespaar des Jahrhunderts verfugt sich selbst mit Schochs erstem Teil ihrer Autofiktionstrilogie Trilogie Das Vorkommnis:

Wir verfolgten die Sache nicht weiter. Kurz darauf reiste ich zusammen mit den Kindern in die USA, genauer gesagt nach Ohio, wo ich an einer Universität unterrichten sollte. Im Trubel der Reisevorbereitungen und während der Monate im Ausland verlief unsere Diskussion im Sande. Das ganze Vorkommnis, die Frau, meine Halbschwester, und vielleicht auch deine wurden zu Episoden, die in eine andere Zeit gehörten. Sie störten die Gegenwart, und ich verbannte sie in die hintere Region meines Gedächtnisses, wo sie sich erst viele Jahre später bemerkbar machten.

Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts, S. 138 f.

Ähnlich wie im Vorgängerband kann ich auch diesmal in das einhellige Kritikerlob von Schochs Erzählen nicht wirklich einstimmen, obschon sich die Gründe für meine Probleme mit dem Roman durchaus subjektiv motiviert sind.

Die Sprache zu kunstlos und nüchtern und die Figuren bleiben bloße Schemen, obgleich man eigentlich ja nicht näher an Figuren heranrücken kann, als Schoch das mit ihrer introspektiven Ich-Erzählerin tut. Und doch bleiben sie und ihr Mann für mich profillos, ist alles zu austauschbar und schon dutzendfach gelesen. Alles kommt mir hier wie eine glatte Wand vor, in die ich keine persönlichen Identifikationshaken schlagen kann und an der ich immer wieder abrutsche beim Versuch, die Faszination nachzuvollziehen und das Besondere in diesem Buch zu sehen.

Fazit

Das ist Prosa, die in fast allen Lesenden wahrscheinlich etwas auslösen wird. Nur in mir leider nicht, zu unterkühlt und zu buchhalterisch war für mich trotz einiger Bonmots diese Nachzeichnung einer Liebe, die Julia Schoch hier in den Mittelpunkt ihres Erzählens rückt. Somit für mich wie schon der erste Band leider kein Highlight.

Weitere Meinungen zu Julia Schochs Roman gibt es bei Kommunikatives Lesen, auf DLF Kultur sowie Seesternsbücher.


  • Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts
  • ISBN 978-3-423-28333-5 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Emanuel Maeß – Alles in allem

Ganz und gar unzeitgemäß. Emanuel Maeß in seinem zweiten Roman Alles in allem über einen Bummelstudenten, der weder bei der Verfertigung seiner Dissertation noch auf amourösem Gebiet so recht an Land gewinnen mag. Doch obschon die Handlung eher ein einem lauen Lüftchen gleicht, so erzeugt die Sprache Maeßens doch einen starken Windstoß, der mitreißt, wenn man sich auf dieses auf alte Meister schielende Erzählhandwerk einlässt.


Passt so etwas noch in die Zeit? Da eröffnet Maeß seinen Roman mit einer seitenlangen Beschreibung eines auf dem Bett hingestreckten weiblichen Körpers, über den der Blick des Erzählers schwelgerisch gleitet und seiner Faszination mit Beschreibungsmitteln irgendwo zwischen Nature Writing und Architekturkritik Ausdruck verleiht:

Nicht jene allgegenwärtigen, sich ebenfalls raffiniert aus der Kugel ableitenden Runddesigns von Brust und Gesäß schienen dann das Hinreißendste an einer Frau (an dieser hier sowieso), sondern die Täler, Furchen, Mulden und Gruben, jene inkommensurable Dynamik nach innen gehender Biegen und Krümmungen, ihrer unterschwelligen Spiralformen, Schraubenlinien und Trichter. Ganz zur Geltung kamen sie vermutlich erst durch die Nachmitternachtswärme und flaumweise Textur ihrer Inhaberin, auch eine leichte Note von Osterlilien spielte ohne eigentlich klaren Ursprung hinein.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 8

Von Berlin-Friedenau bis zum Parnass

Emanuel Maeß - Alles in allem (Cover)

Schon vor diesen ersten Seiten, die nach der sprachmächtigen Lobpreisung des weiblichen Körpers irgendwo in Griechenland am Fuße des Parnass beginnen, ist ein weiteres, ebenso unzeitgemäßes Element gesetzt. Es handelt sich um das Zitat von Eckart von Hochheim, der, besser bekannt unter seinem Namen Meister Eckart, als Mytiker und einer der Väter der Theologe den Seelengrund beschrieb und das Gottesbild des Mittelalters entscheidend prägte.

Ebenso antiquiert mag einigen auch der Beruf des Helden von Maeß‘ Roman erschienen. Der namenlose Ich-Erzähler, hat sich – durchaus mit heißem Bemühen – der Theologie zugewendet. Nimmt nicht nur die Zahl der Kirchenaustritte hierzulande immer mehr zu, ist auch die Zahl der Theologie-Studierenden über die Jahre stark rückläufig. Doch der Erzähler hat sich der nicht mehr recht gefragten Theologie mit großer Ernsthaftigkeit verschrieben. So will er über das Thema der Ikonen promovieren. Eine Reproduktion der berühmten ikonischen Darstellung Wladimirskaja leistet ihm sogar zuhause Gesellschaft. Zuträglich für das Vorankommen in Sachen akademischer Meriten ist aber auch die Anwesenheit der Ikone nicht.

Auch mit meinem Professor, Dietrich von Staden, einem kurz vor der Pension stehenden Luther- und Melanchthon-Experten, hatte ich Glück, ein angenehmer und verständnisvoller Mann, der überdies und freundlicherweise nach drei Jahren aufgehört hatte, mich nach dem Stand meiner Arbeit zu fragen. Dafür war er auch zu sehr mit den eigenen Sachen beschäftigt. Er musste hohe Erwartungen in mich gesetzt haben, nachdem er mich bei der Diplomprüfung, damals noch mit manchem Charme und Schneid, über Thomas Müntzers Apokalyptik hatte reden hören, aus der ihm eine unübliche spirituelle Empfänglichkeit, wenn nicht gar Ergriffenheit zu sprechen schien.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 35

Verharren im Phlegma

Das Voranschreiten in Sachen Fortschritt bei der Dissertation lässt auf sich warten – und auch ansonsten lässt der Bummelstudent nicht wirklich Ambitionen erkennen und verharrt ganz bequem im Phlegma. Ein anspruchsloser Job als Hiwi beim Lehrstuhl, die bequeme Beziehung mit seiner Freundin Clara, die er einst bei einer Studienreise an biblische Schauplätze kennenlernte, das kennzeichnet den Alltag des ebenso unsportliche wie nicht sonderlich attraktiven Denkers.

Und doch gerät das vergeistigte Leben des Theologen schon bald in Aufruhr, als er nämlich bei einer Tagung in Wittenberg die Bekanntschaft mit Katharina macht. Schon bald kommt es zu einer Affäre mit der Frau, die mit spirituellen Interventionen und Kunstinstallationen Kirchenräume verwandelt. Eine Trennung von Clara und ein „Ghosting“ mit Katharina wird folgen, weitere Frauenbekanntschaften und Umzüge von Berlin-Friedenau bis Lichterfelde werden das Leben des Denkers kennzeichnen.

Dabei ist die Handlung von Alles in allem nicht das, was das Buch ausmacht. Vielmehr sind es die mit Sprachmacht und Bildung manchmal schon fast prunkenden Gedanken- und Beschreibungsorgien, in denen sich der Denker verliert. Die Füße Katharinas erinnern ihn dabei gleich an frühantike Statuen Polyklets (S. 134) oder ein gemeinsamer Spaziergang durch den Apollensberg bei Wittenberge führt den Nature-Writing/Architektur-Blick fort, mit dem der Erzähler schon eingangs den weiblichen Körper beschrieb.

Wir gingen auf den Wallpfad hinauf und liefen eine Weile auf ihm entlang, zur einen Seite und Elbaue hin die fernen Waldungen und Äcker mit mächtigen Solitäreichen, die den Park nahezu übergangslos in die Landschaft auslaufen ließen, zur anderen das verhaltene Lächeln des Garten. So etwas stelle man also auf, wenn einen Winckelmann ein halbes Jahr lang durch Rom geführt hatte. Zur südlichen Aufschmückung der Landschaft hatte man sich Lombardische Pappeln, italienische Schwarzkiefern und Koniferen kommen lassen, die wie Pinien und Zypressen aussehen sollte. Als wollte jemand zeigen, welch irrsinniges Spektrum sich allein aus der Farbe Grün auffächern lasse, arrangierte man das alles in ausgeklügelter Raumseligkeit um Alleen, Hecken, verschwiegene Eckchen, Lauben und Sitze herum.

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 112

Antiquiert und artifiziell und großartig

Das ist manchmal mitreißend, manchmal vielleicht sogar etwas zu viel des Guten, etwa wenn der Erzähler feststelle, dass „man (…) nicht um die Einsicht herum[kam], dass das jahrelang eingespielte Miteinander – ähnlich wie der freiheitlich-säkularisierte Staat im Böckenförde-Theorem – von Voraussetzungen lebte, die es nicht garantieren konnte“ (S. 85).

Zugegeben – es ist eine spezielle Prosa, die man mögen muss. Emanuel Maeß schielt mit seinem Erzählen klar auf alte Meister wie Thomas Mann oder Heimito von Doderer. Wie schon in Gelenke des Lichts gelingt es dem 1977 in Jena geborenen Autor, männliche Seelenerkundung, Humor und sprachliche Wucht zu einem Buch zu vereinen, bei dem sich das Antiquierte mit dem Artifiziellen großartig verbindet. Seine Landschaftsschilderungen von Griechenland bis Wittenberg stehen schon fast in romantischer Tradition und tragen zum rückwärtsgewandten Eindruck des Romans bei.

So entsteht ein Werk, das ganz und gar unzeitgemäß wirkt – mich dafür aber umso mehr einnahm, weil es keiner der aktuellen Moden folgt oder folgen will, obgleich es im letzten Drittel etwas an Spannkraft verliert, wenn die Lust und Triebe in ihrer ganzen Ausführlichkeit etwas zu sehr überdramatisiert werden. Angesichts dessen, was Maeß zuvor aber richtig macht, ist das mehr als verzeihlich.

„Ich kann ja nur für mich sprechen, aber ich verdanke deiner Gegenwart ganz erhebliche Zugewinne an Immanenz, Komplexität und Einsichtsvermögen. Leider auch meinen Niedergang, aber immerhin habe ich wenigstens einmal im Leben an den Kern der Dinge gerührt.“

Emanuel Maeß – Alles in allem, S. 334

Fazit

Alles in allem hat mich Alles in allem sehr eingenommen, auch wenn man den Retro-Faktor dieses Erzählhandwerks natürlich ebenso ablehnen kann, wie ich diese Spracharabesken genossen habe. Da schreibt jemand mit einer eigenen Agenda – und ich schätze es sehr!


  • Emanuel Maeß- Alles in allem
  • ISBN 978-3-7371-0155-4 (Rowohlt)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maria Borrély – Mistral

Schon kurz nach dem Beginn fällt der unabhängige Kanon-Verlag durch ein ambitioniertes Programm auf. Nun ist dem Berliner Verlag eine echte Entdeckung gelungen. In ihrem ursprünglich 1929 erschienenen Roman Mistral erzählt Maria Borrély ebenso präzise wie lyrisch von einem kleinen Dorf in der Provence, vom wechselseitigen Walten der Kräfte in der Natur und im Menschen und von einer unglücklichen Liebe


Manche Bücher gehen ungewöhnlichen Wege, ehe wir sie als Leser*innen zu Gesicht bekommen. Maria Borrélys Buch ist hierfür ein Beispiel, beginnt die Geschichte doch mit einer Vitrine in einer Kneipe im französischen Dörfchen Puimoisson. Dort, inmitten der Provence, verbringt die Übersetzerin Amelie Thoma regelmäßig ihre Urlaube und stieß beim Besuch einer Kneipe auf eine Vitrine, wie sie in ihrem Nachwort des Buchs erklärt. In jener Vitrine fanden sich neben den üblichen regionalen Spezialitäten auch die Erzeugnisse eines kleinen Verlagshauses, darunter den Roman Sous le vent von Maria Borrély. Schauplatz des Buches ist ebenjenes Dorf Puimoisson, in dem Thoma nun knappe 100 Jahre nach Erscheinen des Romans auf das Buch stieß – und begeistert war.

Der Grund ihrer Begeisterung ist nun in Thomas Neuübersetzung zu lesen, nachdem die ursprüngliche Übersetzung von Walter Gerull-Kardas im Züricher Scientia-Verlag aus dem Jahr 1939 datiert und in ihrer barocken Gestaltung dem vielschichtigen Ton von Maria Borrély nicht wirklich gerecht wurde, wie Amelie Thoma in ihrem Nachwort erklärt. Die Suche nach einem Verlag, der eine Neuausgabe des Werks wagte, trug in Form des Kanon-Verlags offenkundig Früchte und so gibt es nun eine französische Autorin zu entdecken, die genau auf Natur und Mensch blickt und mit ihrem Schreiben als eine der Vorreiterin der aktuell so boomenden Gattung des Nature Writing gelesen werden kann.

Le vent nous portera

Maria Borrély - Mistral (Cover)

Schauplatz des Romans von Maria Borrély ist die Region Haute-Provence in ihrer ganzen Fülle. Dort, auf und am Fuße des Plateaus gibt es den ganzen Reichtum zu entdecken, die die Natur so spendet. Mandelernte, später im Jahr der blühende Lavendel, Quitten, Salbei, Korn und dichte Wälder. Es ist nahezu ein Paradies, kostet den Menschen aber auch entbehrungsreiche Arbeit.

Die Umwelt gibt den Takt vor, nach dem die Menschen im kleinen Dörfchen hier leben. Gemeinsam trifft man sich abends im Schein der Lampe, um Mandeln zu pulen, während der Mistral ums Haus weht. Gemeinsam werden die Acker geeggt und besät. Man folgt dem Rhythmus der Natur, dem Werden und Vergehen, während die die verschiedenen Winde vom Plateau herab wehen und durch die verlassenen Viertel des Dorfs streichen.

Der Südwind bläst seit zwei Tagen, heiß wie aus einem Backofen, und hat das Korn zu schnell reifen lassen. […].

Die dichten, glänzenden Halme kommen ihm vor wie das volle Haar der drallen Erde. Den Falten des Geländes folgend, sind sie herrlich goldbraun gereift. Wo die Bäume ihnen Schatten geben, ist die Farbe weniger intensiv. An manchen Stellen sinken sie in schweren Bündeln um, als hätten sie einen Sonnenstich.

Rund um das vor Licht, trunkenen Zikaden und sonnenverbrannten Ähren sirrende Plateau bilden die Hügel einen Ring aus blauer Frische. Auf der Montagne de Lure ist ein Hauch Schnee zu erahnen.

Und der Lavendel, zwischen zwei Weizenfeldern, erscheint wie der violette Grund einer Schlucht am Morgen.

Maria Borrély – Mistral, S. 53

Frühlings Erwachen

Während neben der Natur als Hauptdarstellerin mehr oder weniger das ganze Dorf das menschliche Personal des Romans bildet, schält sich bald die junge Marie als Ankerpunkt des auktorial erzählten Geschehens heraus. Sie spürt nicht nur die Kräfte der Natur im Frühjahr erwachen – auch in ihr wirken die Kräfte der Natur und lassen die Sehnsucht und das Begehren erwachen. Ziel von Maries Leidenschaft ist der junge Müllersknecht Olivier Roure, der ihr den Kopf verdreht hat und den sie im Lauf des Frühlings und Sommers zunehmend begehrt.

Als sie im oberen Viertel herauskommt, sieht sie Olivier auf dem Karren und ist auf einmal atemloser als eben noch, während sie die steile Straße hinaufeilt.

Mit zugeschnürter Kehle verlangsamt sie ihren Schritt und wünscht, sie könnte mit den Händen ihr hüpfendes Herz festhalten.

Unter dem dünnen Stoff zeichnen sich ihre Brüste ab wie zwei aufragende Wogen. Die runde Hüfte wiegt sich, schwingt. Die Blöße des schönen, erblühten Körpers strömt über, strahlt durch die schlichte Baumwolle, die an den kraftvollen Gliedern klebt, wie Licht durch einen Lampenschirm.

Er sieht sie in einer fließenden Bewegung näherkommen, mit einem Blick, der den keuschen Schleier durchdringt, trinkt die Glut, die die Wangen der jungen Frau rötet, wie Likör, denkt, dass das Schönste an ihr weder der Körper ist noch die geschmeidige Anmut ihres Gangs, sondern die Liebe, die ihr aus allen Poren dringt, die Leidenschaft, die sie verströmt wie ein Parfum.

Maria Borrély – Mistral, S. 60

Die Kräfte der Natur walten auch in diesen beiden jungen Menschen. Und doch kann es, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, nichts werden, mögen auch Sinn und Sinnlichkeit noch so stark für die beiden jungen Menschen sprechen.

Alles andere als Kitsch

Man könnte es sich nun leichtmachen mit Maria Borrélys Roman und ihn des übermäßigen Pathos und Kitsch zeihen. Doch das wäre falsch, auch wenn es einem Sätze wie „Ihr Herz ist ein blühendes Feld, das nach Hoffnung duftet“ natürlich einfach machen.

Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn Borrélys Buch ist unglaublich stimmig in der Art und Weise, wie sie Natur und Herz, Gefühl und Jahreszeiten hier zusammenbringt. Die knospende Natur, die auch in Marie waltet, die Kälte und Düsternis, die im Winter auf die junge Frau übergreift – hier schreibt eine Autorin mit einem tiefen Verständnis von Mensch und Natur, obschon man manches Sprachbild hundert Jahre später auch aufgrund wirklicher Kitsch-Autor*innen seither als abgegriffen empfinden mag.

Wie sie die Gegend dort in der Provence aber in hellen Farben schildert, wie sie den bäuerlichen Rhythmus und das Tagwerk, die versuchte Domestizierung von Äckern und Wäldern beschreibt, wie auf jeder Seite das Auge der Autorin für Ökologie durchscheint, das macht Maria Borrély in meinen Augen zu einer der frühen Vorreiterinnen der heute so boomenden Gattung des Nature Writing mit einer schon fast impressionistischen Sprachkraft, die Amelie Thoma im Deutschen nun erlebbar macht:

Auf den Tennen ein Konzert brummender Maschinen.

Die Sonne sticht vom Himmel.

Manch einer ist noch am Dreschen.

Rund um die Stangen wächst kegelförmig der Haufen aus Körnern und Spreu. Ansonsten ist der Platz gefegt, das uralte Pflaster mit seinen glänzenden abgewetzten Steinen, die die Fußsohlen verbrennen, nackt.

Maria Borrély – Mistral (S. 54)

Ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt

Sie erzählt vom Jahreskreislauf und findet immer wieder kraftvolle Metaphern, die man aus heutiger Sicht natürlich leicht als Kitsch abtuen kann, aber dabei außer Acht lässt, wie geschickt sie Natur und Sehnen verbindet.

Mistral ist ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt, die auf den ganzen 113 Seiten fast mit den Händen zu greifen ist. Zudem setzt Borrély in vielen Szenen auch auf eine großartig inszenierte Uneindeutigkeit in den Szenen, die verschiedene Lesarten erlaubt (unter anderem in der großartigen Schlussszene), und findet (auch vor allem dank ihrer Übersetzerin Thoma) Sprachbilder, die in ihrer Originalität überzeugen und bei einem bleiben, wie etwa dieses: „Der Tag sickert langsam aus den Umrissen der Dinge“.

So bleibt nach der Lektüre der Eindruck, hier einer wirklich Wiederentdeckung beigewohnt zu haben, deren Alter von fast hundert Jahren man auch dank Amelie Thomas Neuübersetzung kaum merkt. Schön, dass die weiteren Romane dieser hochinteressanten Autorin mit ihrer Prosa, deren „Reichtum an Farben, (…) eigentümlicher Klang, (…)unmittelbare Kraft bis in die kleinsten Sätze der Dialoge“ auch Andre Gide rühmte, der Borrélys Werk begutachtete und zur Veröffentlichung im renommierten Gallimard-Verlagshaus empfahl, demnächst im Kanon-Verlag erscheinen sollen!

Fazit

Das Werden und das Vergehen, die Kraft der erwachenden Natur, die auch Marie spürt, die Sinnlichkeit, die das Begehren und das ganze Leben dort am Fuße des Plateaus hat, all das fasst die 1890 in Marseille geborene und später als Dorflehrerin in der Provence lebende und lehrende Autorin konzise zusammen. Natur und Mensch, Gefühl und Jahreszeiten, alles verbindet sich in Mistral auf großartige Weise, gekleidet in eine Sprache, die an vielen Stellen an Impressionismus erinnert, und in der die Sinnlichkeit einen großen Platz einnimmt.

Eine großartige Entdeckung, die Amelie Thoma hier gemacht und gekonnt ins Deutsche übertragen hat. Diese Wiederentdeckung ist der beste Beweis, dass es sich auch im Urlaub mal lohnen kann, das literarische Angebot vor Ort mal genauer in Augenschein zu nehmen.


  • Maria Borrély – Mistral
  • Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-069-6 (Kanon)
  • 127 Seiten. Preis: 20,00 €
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Sarah Winman – Lichte Tage

Vincent van Goghs Leben und Werk als Inspiration für ganz unterschiedliche Menschen im Oxford zu Beginn der 90er Jahre. Davon erzählt Sarah Winman in ihrem Roman Lichte Tage auf berührende Art und Weise.


Es ist ein Zufallsfund, den Dora bei einer kleinen Tombola in Oxford zu Beginn 50er Jahren macht. Denn nach dem Ziehen ihrer Losnummer entscheidet sie sich kurzerhand statt des von ihrem Mann präferierten Scotches, einem Radio oder einer Packung Butterkekse für ein Ölgemälde. Ein Fall für „Bares für Rares“ ist das Gemälde allerdings kaum, vielmehr handelt es sich um eine unbedeutende Kopie eines der wohl berühmtesten Gemälde der Kunstgeschichte, nämlich den Sonnenblumen von Vincent van Gogh, die dieser in einigen Variationen in der Provence anfertigte.

Sinnstiftende Sonnenblumen

Für die von Schwangerschaftsübelkeit gepeinigte Dora wird das Bild zu einem Rettungsanker in ihrer wenig freudvollen Ehe. Und auch für ihren Sohn Ellis wird das Bild zu einem Ankerpunkt, den er mit dem kargen und wenig liebevollen Zuhause auch über den Tod seiner Mutter hinaus verbindet.

Sarah Winman - Lichte Tage (Cover)

Er arbeitet als sogenannter Tin Man in der Lackiererei der örtlichen Autofabrik im Schichtbetrieb. Virtuos erkennt er Dellen und schadhafte Stellen in Autokarosserien, die er mit viel Feingefühl und Geschick ausklopft und repariert. 45 Jahre ist er alt, als der Hauptteil des Buchs im Jahr 1996 einsetzt. Ihn umweht ein Gefühl der Melancholie und Einsamkeit, deren Gründe Sarah Winman im Folgenden behutsam erklärt.

Denn Ellis hat nicht nur bereits seine Mutter verloren, auch seine Frau Annie ist bereits vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mit an Bord des Unfallwagens befand sich auch Michael, ein ganz besonderer Freund für Ellis. Ihre Liebe und die besondere Beziehung zwischen Ellis, Annie und Michael erzählt Lichte Tage, wofür Winman für die Perspektive von Michael die Form eines Tagebuchs wählt, das im November 1989 einsetzt.

Eine besondere Beziehung

So gelingt ihr die Gegenperspektive auf eine besondere Beziehung, die von queerer Liebe, Sehnsucht, nicht erfüllten Begehren und dem Verpassen der richtigen Momente geprägt ist. Man sollte an dieser Stelle nicht viel von der Handlung und ihren sich langsam öffnenden Beziehungsebenen preisgeben, um den Leküregenuss dieses großartigen und emotional eindringlich geschilderten Roman zu schmälern. Aber dennoch lässt sich über das ungewöhnliche Dreiergespann und ihre Geschichte sagen, dass in dieser bittersüßen Erzählung über das Miteinander viel um Nicht-Ausgesprochenes kreist.

Obwohl sich Michael und Ellis schon so lange kennen und dieser als Best Man, also Trauzeuge für die Ehe von Ellis und Annie fungiert, verschwindet er doch wieder spurlos für viele Jahre aus dem Leben der zwei Partner. Was er in dieser Zeit gemacht hat, welche Erfahrungen ihn prägen und was ihn damit mit dem Schöpfer der berühmten Sonnenblumen, Vincent van Gogh, verbindet, das fügt sich mit dem Schicksal von Ellies und Annie zu einem runden Buch, das vom Anfang bis zum Zirkelschluss des Buchs in sich stimmig ist und bleibt.

Nicht zuletzt schafft es Sarah Winman, unkitschig von Liebe, queerem Begehren und Männlichkeitsbildern der verschiedenen Generationen zu erzählen, etwa in den Passagen, die im Oxforder Arbeiterviertel spielen und die das monotone täglichen Tun am Fließband der Autofabrik einfangen (womit Sarah Winman auch an Douglas Stuarts Beschreibung der hypermaskulinen und homophoben Arbeiterwelt Glasgows erinnert). Wie sie Worte findet, mal sonnendurchflutete, mal oxofordgraue Stimmungsbilder malt und drei so unterschiedliche Leben in gar nicht einmal vielen Seiten einfängt, das ist beeindruckend.

Damit ordnet sich Lichte Tage in meinen Augen irgendwo zwischen Polly Samsons Der Sommer der Träumer, John Boynes Cyril Avery und Rebecca Makkais Die Optimisten ein.

Fazit

Auch wenn ich mich persönlich mit Floskeln wie „eindringlich“ und „emotional berührend“ schwertue, da sie gerade durch ihre salzstreuerhafte Verwendung in der Buchwerbung zu Schlagworten geworden sind, die abgenutzt und ungriffig erscheinen, so möchte ich sie im vorliegenden Fall doch ganz bewusst verwenden. Denn das was Sarah Winman mit Lichte Tage schafft, ist dass sie ganz unkitschig von verpassten Chancen, ungelebten Leben und unausgesprochener Liebe erzählt, für die so kein wirklicher Platz vorgesehen ist.

Ein Buch, das zu Herzen geht, das aufgrund seiner Kompositionsstruktur auch bei einer wiederholten Lektüre neue Blicke eröffnet und das in meinen Augen als wirklich gelungen zu bezeichnen ist. Eine große Empfehlung!


  • Sarah Winman – Lichte Tage
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-12034-9
  • 232 Seiten. Preis: 22,00 €
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Chris Harding Thornton – Pickard County

Menschen, die ihr Unglück und der Schmerz eint, irgendwo im Nirgendwo von Nebraska Ende der 70er Jahre. Das ist das Leben im Pickard County, das Chris Harding Thornton in ihrem Roman schildert. Es bleibt nur eine Frage: ist das noch ein Kriminalroman?


In einem Interview mit dem Blog Klappentexterin wurde der Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche vor wenigen Wochen gefragt, was für ihn einen guten Krimi ausmacht, der auch Chancen hat, in sein Programm aufgenommen zu werden. Wörtche, der für Suhrkamp schon einige Perlen wie etwas Louisa Luna oder Merle Kröger an Land gezogen hat, gab auf diese Frage hin Folgendes zu Protokoll:

Ich mag auch gerne grenzgängige Bücher, Genre-Hybride zum Beispiel, oder Bücher, die man nicht genau einsortieren kann, die sich angeblich festliegenden Kriterien verweigern.

Thomas Wörtche im Interview mit dem Blog Klappentexterin, 27.11.2022

Solche Kriminalromane findet man allerdings nicht nur im Krimisegment des Suhrkamp-Verlags. Mit dem Polar-Verlag hat sich ein ganzer Verlag alleine dem Kriminalroman und seinen verschiedenen Schattierungen verschrieben. Bestes Beispiel für einen Krimi, der sich den angeblich festliegenden Kriterien verweigert ist in meinen Augen das Debüt Pickard County der Autorin Chris Harding Thornton, der in der Übersetzung von Kathrin Bielfeldt im Oktober bei Polar erschienen ist.

Irgendwo im Nirgendwo von Nebraska

Darin erzählt sie vom titelgebenden County irgendwo im Nirgendwo Nebraskas. Man schreibt das Ende der 70er Jahre, im Fernsehen talkt Johnny Carson und auf dem Land herrscht Ödnis. Viele Farmhäuser wurden aufgegeben, so etwas wie eine nennenswerte Industrie gibt es hier nicht. Für Jugendliche ist hier sowieso kein Platz vorgesehen.

Chris Harding Thornton - Pickard County (Cover)

Da überrascht es nicht, dass der Stellvertreter des lokalen Sheriffs, Harley Jensen, bei einer seiner vielen nächtlichen Patrouillen just in einem leerstehenden Farmhaus den jungen Paul Reddick in weiblicher Begleitung aufstöbert. Dieser bringt mit seinem jugendlich-provokanten Auftreten den Sheriff-Stellvertreter aus dem Konzept. Vor allem die Frage, was Reddick dort zu suchen hatte, treibt Jensen auch nach der nächtlichen Begegnung um.

Vor einigen Jahren wurde der kleine Bruder der Reddick-Brüder ermordet. Bevor der Mörder allerdings den Ort der Leiche preisgeben konnte, brachte er sich um. Dieses Trauma hat die Familie bis heute nicht verwunden und geht ganz unterschiedlich mit dem Verlust um. Und auch Jensen selbst hat seine Mutter verloren, die noch das Abendbrot für die beiden Kinder herrichtete, ehe sie sich umbrachte.

Von diesen Traumata erzählt Thornton sehr eindringlich und gönnt auch den andere Figuren in diesem Ensembleroman kein nennenswertes Glück. So ist Pam Reinhardt, die Schwägerin von Paul, mit ihrer Rolle als Mutter in prekären finanziellen Verhältnissen zutiefst unglücklich. Sie will ihren Mann und das gemeinsame Kind verlassen – und findet just in Harley Jensen eine verwandte Seele, mit der sich eine Liebesbeziehung entspinnt. Derweil wittert Rick, Pauls Bruder und Pams Ehemann, die Untreue, was ihn immer stärker umtreibt.

Eher zwischenmenschliche als kriminalliterarische Themen

Wie man an diesen Beschreibungen des Inhalts schon merkt, ist Pickard County ein Roman, der eher von zwischenmenschlichen denn von kriminalliterarischen Themen geprägt wird. Zwar gibt es krimitypische Zutaten wie den ungeklärten Verbleib des Reddick-Jungen und auch Polizeiarbeit fällt in Form von Brandstiftungen in verlassenen Höfen oder gestohlenen Gratiszeitungen an. Mit wirklich viel Lust verfolgt Chris Harding Thornton diese Ansätze aber nicht.

Eher ist es ein Zufallsprodukt, dass Harley Jensen gerade eben Stellvertreter des Sheriffs ist und damit eine polizeiliche Note in den Roman findet, was das Buch in die Nähe eines Krimis rückt. Die anderen Figuren von Pam Reinhardt über Paul Reddick bis hin zum alten Zisske in diesem Roman haben aber wenig Krimimäßiges an sich. Hier sind es viel mehr die Themen der unglücklichen Mutterschaft oder der nicht aufgearbeiteten Traumata oder das Begehren sowie das Leben in Armut, die im Mittelpunkt stehen und von denen Chris Harding Thorton anschaulich erzählt. .

Dort im von den deutschen Einwanderern geprägten Pickard County (viele nächtliche Streifenfahrten von Harley spielen sich auf der Schleswig-Holstein-Road statt, allenorten stammt man über Nachnamen mit deutschem Klang) gibt es viel Leid. Spannung findet man dafür eher weniger.

Dieses Fehlen von Suspense in Kombination mit und einer ganz anderen Schwerpunktsetzung im Roman selbst (eher Affäre statt Ermittlungsarbeit, eher Porträt des Lebens in der Unterschicht denn mitreißende Spannung) macht für mich die Einordnung als Kriminalroman zugegeben auch etwas schwierig.

Vielmehr ist Pickard County für mich das Porträt eines Landstrichs, in dem Unglück und Leid besonders gut zu gedeihen scheinen, wovon Chris Harding Thornton, nach Auskunft des Verlags Nebraskanerin der siebten Generation, auch hervorragend berichten kann. Wer eine ruhige Erzählung aus dem amerikanischen Nirgendwo mit wenig Hoffnung aber präzise gestalteten Figuren zu schätzen weiß, der darf hier gerne zugreifen. Krimifans, die von Krimis vor allem Spannung und Tempo erwarten, sollten aber eine andere Lektüre wählen.

Fazit

Mit Pickard County lotet der Polar-Verlag die Grenzen des Genres des Kriminalromans einmal mehr aus. Denn statt Spannung, Tempo und mitreißender Ermittlungsarbeit gibt es hier ein langsam geschildertes und präzise beschriebenes Bild vom Leben auf dem Land, das für alle Beteiligten Unglück bedeutet. Außereheliches Begehren, nicht verarbeitete Traumata und sind die Themen, von denen Chris Harding Thornton in ihrem Debüt erzählt. Ist das noch ein Krimi? Das muss wohl jeder Leser und jede Leserin selbst entscheiden.

Das Buch lädt auf alle Fälle ein, die eigene Genredefinition zu überdenken und hilft bei der Schärfung des eigenen Krimibegriffs. Und auch wenn ich mich persönlich mit der Gattungsbezeichnung etwas schwertue, freue mich aber über ein Buch, das als Grenzgänger zwischen Country Noir und American Gothic, das Marcus Müntefering in seinem Nachwort zurecht in die Nähe von Polar-Autoren wie J. Todd Scott rückt. Ruhige (Kriminal-)Literatur aus der Einöde Nebraskas!


  • Chris Harding Thornton – Pickard County
  • Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
  • ISBN 978-3-948392-64-2 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 16,00 €
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