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Maria Borrély – Mistral

Schon kurz nach dem Beginn fällt der unabhängige Kanon-Verlag durch ein ambitioniertes Programm auf. Nun ist dem Berliner Verlag eine echte Entdeckung gelungen. In ihrem ursprünglich 1929 erschienenen Roman Mistral erzählt Maria Borrély ebenso präzise wie lyrisch von einem kleinen Dorf in der Provence, vom wechselseitigen Walten der Kräfte in der Natur und im Menschen und von einer unglücklichen Liebe


Manche Bücher gehen ungewöhnlichen Wege, ehe wir sie als Leser*innen zu Gesicht bekommen. Maria Borrélys Buch ist hierfür ein Beispiel, beginnt die Geschichte doch mit einer Vitrine in einer Kneipe im französischen Dörfchen Puimoisson. Dort, inmitten der Provence, verbringt die Übersetzerin Amelie Thoma regelmäßig ihre Urlaube und stieß beim Besuch einer Kneipe auf eine Vitrine, wie sie in ihrem Nachwort des Buchs erklärt. In jener Vitrine fanden sich neben den üblichen regionalen Spezialitäten auch die Erzeugnisse eines kleinen Verlagshauses, darunter den Roman Sous le vent von Maria Borrély. Schauplatz des Buches ist ebenjenes Dorf Puimoisson, in dem Thoma nun knappe 100 Jahre nach Erscheinen des Romans auf das Buch stieß – und begeistert war.

Der Grund ihrer Begeisterung ist nun in Thomas Neuübersetzung zu lesen, nachdem die ursprüngliche Übersetzung von Walter Gerull-Kardas im Züricher Scientia-Verlag aus dem Jahr 1939 datiert und in ihrer barocken Gestaltung dem vielschichtigen Ton von Maria Borrély nicht wirklich gerecht wurde, wie Amelie Thoma in ihrem Nachwort erklärt. Die Suche nach einem Verlag, der eine Neuausgabe des Werks wagte, trug in Form des Kanon-Verlags offenkundig Früchte und so gibt es nun eine französische Autorin zu entdecken, die genau auf Natur und Mensch blickt und mit ihrem Schreiben als eine der Vorreiterin der aktuell so boomenden Gattung des Nature Writing gelesen werden kann.

Le vent nous portera

Maria Borrély - Mistral (Cover)

Schauplatz des Romans von Maria Borrély ist die Region Haute-Provence in ihrer ganzen Fülle. Dort, auf und am Fuße des Plateaus gibt es den ganzen Reichtum zu entdecken, die die Natur so spendet. Mandelernte, später im Jahr der blühende Lavendel, Quitten, Salbei, Korn und dichte Wälder. Es ist nahezu ein Paradies, kostet den Menschen aber auch entbehrungsreiche Arbeit.

Die Umwelt gibt den Takt vor, nach dem die Menschen im kleinen Dörfchen hier leben. Gemeinsam trifft man sich abends im Schein der Lampe, um Mandeln zu pulen, während der Mistral ums Haus weht. Gemeinsam werden die Acker geeggt und besät. Man folgt dem Rhythmus der Natur, dem Werden und Vergehen, während die die verschiedenen Winde vom Plateau herab wehen und durch die verlassenen Viertel des Dorfs streichen.

Der Südwind bläst seit zwei Tagen, heiß wie aus einem Backofen, und hat das Korn zu schnell reifen lassen. […].

Die dichten, glänzenden Halme kommen ihm vor wie das volle Haar der drallen Erde. Den Falten des Geländes folgend, sind sie herrlich goldbraun gereift. Wo die Bäume ihnen Schatten geben, ist die Farbe weniger intensiv. An manchen Stellen sinken sie in schweren Bündeln um, als hätten sie einen Sonnenstich.

Rund um das vor Licht, trunkenen Zikaden und sonnenverbrannten Ähren sirrende Plateau bilden die Hügel einen Ring aus blauer Frische. Auf der Montagne de Lure ist ein Hauch Schnee zu erahnen.

Und der Lavendel, zwischen zwei Weizenfeldern, erscheint wie der violette Grund einer Schlucht am Morgen.

Maria Borrély – Mistral, S. 53

Frühlings Erwachen

Während neben der Natur als Hauptdarstellerin mehr oder weniger das ganze Dorf das menschliche Personal des Romans bildet, schält sich bald die junge Marie als Ankerpunkt des auktorial erzählten Geschehens heraus. Sie spürt nicht nur die Kräfte der Natur im Frühjahr erwachen – auch in ihr wirken die Kräfte der Natur und lassen die Sehnsucht und das Begehren erwachen. Ziel von Maries Leidenschaft ist der junge Müllersknecht Olivier Roure, der ihr den Kopf verdreht hat und den sie im Lauf des Frühlings und Sommers zunehmend begehrt.

Als sie im oberen Viertel herauskommt, sieht sie Olivier auf dem Karren und ist auf einmal atemloser als eben noch, während sie die steile Straße hinaufeilt.

Mit zugeschnürter Kehle verlangsamt sie ihren Schritt und wünscht, sie könnte mit den Händen ihr hüpfendes Herz festhalten.

Unter dem dünnen Stoff zeichnen sich ihre Brüste ab wie zwei aufragende Wogen. Die runde Hüfte wiegt sich, schwingt. Die Blöße des schönen, erblühten Körpers strömt über, strahlt durch die schlichte Baumwolle, die an den kraftvollen Gliedern klebt, wie Licht durch einen Lampenschirm.

Er sieht sie in einer fließenden Bewegung näherkommen, mit einem Blick, der den keuschen Schleier durchdringt, trinkt die Glut, die die Wangen der jungen Frau rötet, wie Likör, denkt, dass das Schönste an ihr weder der Körper ist noch die geschmeidige Anmut ihres Gangs, sondern die Liebe, die ihr aus allen Poren dringt, die Leidenschaft, die sie verströmt wie ein Parfum.

Maria Borrély – Mistral, S. 60

Die Kräfte der Natur walten auch in diesen beiden jungen Menschen. Und doch kann es, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, nichts werden, mögen auch Sinn und Sinnlichkeit noch so stark für die beiden jungen Menschen sprechen.

Alles andere als Kitsch

Man könnte es sich nun leichtmachen mit Maria Borrélys Roman und ihn des übermäßigen Pathos und Kitsch zeihen. Doch das wäre falsch, auch wenn es einem Sätze wie „Ihr Herz ist ein blühendes Feld, das nach Hoffnung duftet“ natürlich einfach machen.

Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn Borrélys Buch ist unglaublich stimmig in der Art und Weise, wie sie Natur und Herz, Gefühl und Jahreszeiten hier zusammenbringt. Die knospende Natur, die auch in Marie waltet, die Kälte und Düsternis, die im Winter auf die junge Frau übergreift – hier schreibt eine Autorin mit einem tiefen Verständnis von Mensch und Natur, obschon man manches Sprachbild hundert Jahre später auch aufgrund wirklicher Kitsch-Autor*innen seither als abgegriffen empfinden mag.

Wie sie die Gegend dort in der Provence aber in hellen Farben schildert, wie sie den bäuerlichen Rhythmus und das Tagwerk, die versuchte Domestizierung von Äckern und Wäldern beschreibt, wie auf jeder Seite das Auge der Autorin für Ökologie durchscheint, das macht Maria Borrély in meinen Augen zu einer der frühen Vorreiterinnen der heute so boomenden Gattung des Nature Writing mit einer schon fast impressionistischen Sprachkraft, die Amelie Thoma im Deutschen nun erlebbar macht:

Auf den Tennen ein Konzert brummender Maschinen.

Die Sonne sticht vom Himmel.

Manch einer ist noch am Dreschen.

Rund um die Stangen wächst kegelförmig der Haufen aus Körnern und Spreu. Ansonsten ist der Platz gefegt, das uralte Pflaster mit seinen glänzenden abgewetzten Steinen, die die Fußsohlen verbrennen, nackt.

Maria Borrély – Mistral (S. 54)

Ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt

Sie erzählt vom Jahreskreislauf und findet immer wieder kraftvolle Metaphern, die man aus heutiger Sicht natürlich leicht als Kitsch abtuen kann, aber dabei außer Acht lässt, wie geschickt sie Natur und Sehnen verbindet.

Mistral ist ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt, die auf den ganzen 113 Seiten fast mit den Händen zu greifen ist. Zudem setzt Borrély in vielen Szenen auch auf eine großartig inszenierte Uneindeutigkeit in den Szenen, die verschiedene Lesarten erlaubt (unter anderem in der großartigen Schlussszene), und findet (auch vor allem dank ihrer Übersetzerin Thoma) Sprachbilder, die in ihrer Originalität überzeugen und bei einem bleiben, wie etwa dieses: „Der Tag sickert langsam aus den Umrissen der Dinge“.

So bleibt nach der Lektüre der Eindruck, hier einer wirklich Wiederentdeckung beigewohnt zu haben, deren Alter von fast hundert Jahren man auch dank Amelie Thomas Neuübersetzung kaum merkt. Schön, dass die weiteren Romane dieser hochinteressanten Autorin mit ihrer Prosa, deren „Reichtum an Farben, (…) eigentümlicher Klang, (…)unmittelbare Kraft bis in die kleinsten Sätze der Dialoge“ auch Andre Gide rühmte, der Borrélys Werk begutachtete und zur Veröffentlichung im renommierten Gallimard-Verlagshaus empfahl, demnächst im Kanon-Verlag erscheinen sollen!

Fazit

Das Werden und das Vergehen, die Kraft der erwachenden Natur, die auch Marie spürt, die Sinnlichkeit, die das Begehren und das ganze Leben dort am Fuße des Plateaus hat, all das fasst die 1890 in Marseille geborene und später als Dorflehrerin in der Provence lebende und lehrende Autorin konzise zusammen. Natur und Mensch, Gefühl und Jahreszeiten, alles verbindet sich in Mistral auf großartige Weise, gekleidet in eine Sprache, die an vielen Stellen an Impressionismus erinnert, und in der die Sinnlichkeit einen großen Platz einnimmt.

Eine großartige Entdeckung, die Amelie Thoma hier gemacht und gekonnt ins Deutsche übertragen hat. Diese Wiederentdeckung ist der beste Beweis, dass es sich auch im Urlaub mal lohnen kann, das literarische Angebot vor Ort mal genauer in Augenschein zu nehmen.


  • Maria Borrély – Mistral
  • Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-069-6 (Kanon)
  • 127 Seiten. Preis: 20,00 €
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