Menschen, die ihr Unglück und der Schmerz eint, irgendwo im Nirgendwo von Nebraska Ende der 70er Jahre. Das ist das Leben im Pickard County, das Chris Harding Thornton in ihrem Roman schildert. Es bleibt nur eine Frage: ist das noch ein Kriminalroman?
In einem Interview mit dem Blog Klappentexterin wurde der Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche vor wenigen Wochen gefragt, was für ihn einen guten Krimi ausmacht, der auch Chancen hat, in sein Programm aufgenommen zu werden. Wörtche, der für Suhrkamp schon einige Perlen wie etwas Louisa Luna oder Merle Kröger an Land gezogen hat, gab auf diese Frage hin Folgendes zu Protokoll:
Ich mag auch gerne grenzgängige Bücher, Genre-Hybride zum Beispiel, oder Bücher, die man nicht genau einsortieren kann, die sich angeblich festliegenden Kriterien verweigern.
Thomas Wörtche im Interview mit dem Blog Klappentexterin, 27.11.2022
Solche Kriminalromane findet man allerdings nicht nur im Krimisegment des Suhrkamp-Verlags. Mit dem Polar-Verlag hat sich ein ganzer Verlag alleine dem Kriminalroman und seinen verschiedenen Schattierungen verschrieben. Bestes Beispiel für einen Krimi, der sich den angeblich festliegenden Kriterien verweigert ist in meinen Augen das Debüt Pickard County der Autorin Chris Harding Thornton, der in der Übersetzung von Kathrin Bielfeldt im Oktober bei Polar erschienen ist.
Irgendwo im Nirgendwo von Nebraska
Darin erzählt sie vom titelgebenden County irgendwo im Nirgendwo Nebraskas. Man schreibt das Ende der 70er Jahre, im Fernsehen talkt Johnny Carson und auf dem Land herrscht Ödnis. Viele Farmhäuser wurden aufgegeben, so etwas wie eine nennenswerte Industrie gibt es hier nicht. Für Jugendliche ist hier sowieso kein Platz vorgesehen.
Da überrascht es nicht, dass der Stellvertreter des lokalen Sheriffs, Harley Jensen, bei einer seiner vielen nächtlichen Patrouillen just in einem leerstehenden Farmhaus den jungen Paul Reddick in weiblicher Begleitung aufstöbert. Dieser bringt mit seinem jugendlich-provokanten Auftreten den Sheriff-Stellvertreter aus dem Konzept. Vor allem die Frage, was Reddick dort zu suchen hatte, treibt Jensen auch nach der nächtlichen Begegnung um.
Vor einigen Jahren wurde der kleine Bruder der Reddick-Brüder ermordet. Bevor der Mörder allerdings den Ort der Leiche preisgeben konnte, brachte er sich um. Dieses Trauma hat die Familie bis heute nicht verwunden und geht ganz unterschiedlich mit dem Verlust um. Und auch Jensen selbst hat seine Mutter verloren, die noch das Abendbrot für die beiden Kinder herrichtete, ehe sie sich umbrachte.
Von diesen Traumata erzählt Thornton sehr eindringlich und gönnt auch den andere Figuren in diesem Ensembleroman kein nennenswertes Glück. So ist Pam Reinhardt, die Schwägerin von Paul, mit ihrer Rolle als Mutter in prekären finanziellen Verhältnissen zutiefst unglücklich. Sie will ihren Mann und das gemeinsame Kind verlassen – und findet just in Harley Jensen eine verwandte Seele, mit der sich eine Liebesbeziehung entspinnt. Derweil wittert Rick, Pauls Bruder und Pams Ehemann, die Untreue, was ihn immer stärker umtreibt.
Eher zwischenmenschliche als kriminalliterarische Themen
Wie man an diesen Beschreibungen des Inhalts schon merkt, ist Pickard County ein Roman, der eher von zwischenmenschlichen denn von kriminalliterarischen Themen geprägt wird. Zwar gibt es krimitypische Zutaten wie den ungeklärten Verbleib des Reddick-Jungen und auch Polizeiarbeit fällt in Form von Brandstiftungen in verlassenen Höfen oder gestohlenen Gratiszeitungen an. Mit wirklich viel Lust verfolgt Chris Harding Thornton diese Ansätze aber nicht.
Eher ist es ein Zufallsprodukt, dass Harley Jensen gerade eben Stellvertreter des Sheriffs ist und damit eine polizeiliche Note in den Roman findet, was das Buch in die Nähe eines Krimis rückt. Die anderen Figuren von Pam Reinhardt über Paul Reddick bis hin zum alten Zisske in diesem Roman haben aber wenig Krimimäßiges an sich. Hier sind es viel mehr die Themen der unglücklichen Mutterschaft oder der nicht aufgearbeiteten Traumata oder das Begehren sowie das Leben in Armut, die im Mittelpunkt stehen und von denen Chris Harding Thorton anschaulich erzählt. .
Dort im von den deutschen Einwanderern geprägten Pickard County (viele nächtliche Streifenfahrten von Harley spielen sich auf der Schleswig-Holstein-Road statt, allenorten stammt man über Nachnamen mit deutschem Klang) gibt es viel Leid. Spannung findet man dafür eher weniger.
Dieses Fehlen von Suspense in Kombination mit und einer ganz anderen Schwerpunktsetzung im Roman selbst (eher Affäre statt Ermittlungsarbeit, eher Porträt des Lebens in der Unterschicht denn mitreißende Spannung) macht für mich die Einordnung als Kriminalroman zugegeben auch etwas schwierig.
Vielmehr ist Pickard County für mich das Porträt eines Landstrichs, in dem Unglück und Leid besonders gut zu gedeihen scheinen, wovon Chris Harding Thornton, nach Auskunft des Verlags Nebraskanerin der siebten Generation, auch hervorragend berichten kann. Wer eine ruhige Erzählung aus dem amerikanischen Nirgendwo mit wenig Hoffnung aber präzise gestalteten Figuren zu schätzen weiß, der darf hier gerne zugreifen. Krimifans, die von Krimis vor allem Spannung und Tempo erwarten, sollten aber eine andere Lektüre wählen.
Fazit
Mit Pickard County lotet der Polar-Verlag die Grenzen des Genres des Kriminalromans einmal mehr aus. Denn statt Spannung, Tempo und mitreißender Ermittlungsarbeit gibt es hier ein langsam geschildertes und präzise beschriebenes Bild vom Leben auf dem Land, das für alle Beteiligten Unglück bedeutet. Außereheliches Begehren, nicht verarbeitete Traumata und sind die Themen, von denen Chris Harding Thornton in ihrem Debüt erzählt. Ist das noch ein Krimi? Das muss wohl jeder Leser und jede Leserin selbst entscheiden.
Das Buch lädt auf alle Fälle ein, die eigene Genredefinition zu überdenken und hilft bei der Schärfung des eigenen Krimibegriffs. Und auch wenn ich mich persönlich mit der Gattungsbezeichnung etwas schwertue, freue mich aber über ein Buch, das als Grenzgänger zwischen Country Noir und American Gothic, das Marcus Müntefering in seinem Nachwort zurecht in die Nähe von Polar-Autoren wie J. Todd Scott rückt. Ruhige (Kriminal-)Literatur aus der Einöde Nebraskas!
- Chris Harding Thornton – Pickard County
- Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt
- ISBN 978-3-948392-64-2 (Polar-Verlag)
- 312 Seiten. Preis: 16,00 €