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Aurora Venturini – Die Cousinen

Den Weg von einer „Schule für Minderbemittelte“ bis zur ausstellenden Künstlerin, ihn zeichnet Aurora Venturini in ihrem außergewöhnlichen und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichneten Roman Die Cousinen nach, der nun postum in der Übertragung von Johanna Schwering und mit einem Nachwort von Mariana Enriquez zu entdecken ist.


Es war reichlich spät, genauer gesagt im Jahr 2007, als die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini im Alter von 85 entdeckt wurde und ihr der literarische Durchbruch in der Heimat gelang. Vorausgegangen war dem Ganzen eine Einsendung beim Literaturwettbewerb Premio Nueva Novela, den Aurora Venturini unter Pseudonym eingereicht hatte.

Venturinis Landsfrau Mariana Enriquez bemerkt in ihrem Nachwort, dass die Einsendung schon aufgrund der äußeren Form eines Typoskripts aus der Reihe fiel. Und auch der dargebotene Inhalt verweigerte sich jeder einfachen Kategorisierung oder Form. Mehr als außergewöhnlich war es, das die Autorin auf den maschinengetippten und korrigierten Seiten darbot. Exzentrik und Risikobereitschaft sprachen aus den Seiten des Textes, der von der Jury um Mariana Enriquez dann tatsächlich ausgezeichnet wurde und der das Interesse auf eine Dame lenkte, deren Leben selbst zum Roman taugen würde.

So zählte Aurora Venturini einst zum Unterstützerkreis der argentinischen Präsidenten Peron und war mit dessen Frau Eva befreundet. Sie ging ins Exil nach Frankreich, pflegte eine Freundschaft mit Jorge Luis Borges und arbeite fleißig am eigenen Mythos. Erst mit 85 Jahren sollte dann aber nach der Zuerkennung des Preises das literarische Interesse an Aurora Venturini geweckt werden. 2015 verstorbenen erschien nun im vergangenen Jahr eine erste Übersetzung dieser Autorin ins Deutsche, die Johanna Schwering besorgte. Zu entdecken ist ein origineller Text, der auf sprachlicher Ebene den alles andere als gefälligen Inhalt sinnreich umspielt und ergänzt und der eine Bildungsgeschichte erzählt.

Rettung durch die Kunst

Erzählerin ist Yuna López, die zusammen mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Betina eine „Schule für Minderbemittelte“ besucht.

Meine Schwester verließ die Schule in der dritten Klasse. Es hatte keinen Sinn mehr. Eigentlich hattes es bei uns beiden nicht viel Sinn und ich ging nach der sechsten Klasse ab. Aber ich lernte Lesen und Schreiben wenn auch letzteres mit vielen Rechtschreibfehlern, das stumme H schrieb ich zum Beispiel nie, wozu auch, wenn man es nicht hört?

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 14 f.
Aurora Venturini - Die Cousinen (Cover)

Ihre Schwester Betina ist schwer behindert und sitzt im Rollstuhl. Der Vater hat die Familie verlassen und die Mutter behilft sich in Erziehungsfragen mit dem Einsatz eines Rohrstocks, mit dem sie die Kinder ausgiebig züchtigt. Es ist ein armes und deprimierendes Umfeld, in dem Yuna aufwächst.

Doch es gibt einen Weg, mit dem Yuna diesem prekären Milieu in Adrogué, eine Vorort Buenos Aires, entfliehen kann. Dieser Weg ist die Kunst. Denn Yuna erweist sich als originelle Malerin mit einem ganz eigenen Ausdruck, die auch die Aufmerksamkeit ihres Professors weckt. Dieser ermutigt Yuna zum Malen und organisiert bald eine erste Ausstellung ihrer Werke, der bald weitere Schauen folgen werden. Allmählich emanzipiert sich Yuna und schafft es sowohl zu künstlerischer als auch finanzieller Eigenständigkeit, der später eine gemeinsame Wohnung mit ihrer Cousine, der kleinwüchsigen Petra, folgen wird.

Ein Bericht einer Bildung

Von ihrem Werdegang berichtet sie in Form eines Berichts, das den Charakter und den Bildungsweg seiner Verfasserin abbildet.

Mein Bild wurde fertig, diesmal Öl auf Leinwand und es war so schön geworden, dass es mir leidtat es zu verkaufen aber ich lebte voller Stolz von meinem Werk und zahlte Miete im Haus meiner Familie das mir Tag für Tag und ich weiß gar nicht warum immer fremder erschien, mehr ihrs als meins denn ich war eine blasse Ombrage (ebd.) die von Zeit zu Zeit Flure und Gefilde durchstrolchte (ebd.); ebd. bedeutet übrigens Wörterbuch aber es kommt mir zupass weil es eine Abbreviatur ist und weil ich mich niemals mit fremden Federn schmücke, erläutere ich, dass auch der Begriff Abbreviatur meinen Wörterbuchkulturforschungen entstammt die mir helfen meiner geerbten Minderbemittelung zu entkommen.

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 105

Immer wieder wendet sich Yuna an die Lesenden, erklärt ihre Gefühle, Erlebnisse und fasst wie in einem mündlichen Bericht noch einmal Erlebtes oder Verwandtschaftsverhältnisse zusammen, um danach mit ihrem Bericht fortzufahren. Dabei bildet der Text den Bildungsweg der jungen Frau nach, die sich ihre Bildung selbst aneignet. Immer wieder flicht sie in Wörterbüchern gefundene Wörter ein und erklärt diese Funde. Das Bemühen um eine verständliche Schilderung trotz aller Schwierigkeiten mit der schriftlichen Darstellung spricht aus allen Zeilen.

Eine preisgekrönte Übersetzung

Orthographische Feinheiten wie Kommasetzung oder ähnliche Finessen kennt Yuna dabei nicht. Stattdessen orientiert sie sich stark an der Mündlichkeit und erfindet Wortspielereien wie den Rollstuhl ihrer Schwester, der immer wieder rummrumst. Gelungen schafft es Johanna Schwering, diese Charakterisierung durch Sprache und Schreiben aus dem argentinischen Spanisch ins Deutsche hinüberzuretten. Sie erzeugt auch in der deutschen Variante dieses Textes neben der eigentlichen Schilderung auch indirekt über die Sprache einen bleibenden Eindruck seiner Erzählerin. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse lobte das Ganze wie folgt:

Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz. Ihr ist es mitzuverdanken, dass mit diesem fabelhaften Künstlerinnenroman erstmalig ein Buch der Argentinierin Aurora Venturini auf Deutsch vorliegt. Es mögen hoffentlich viele weitere, natürlich in der Übersetzung von Johanna Schwering, folgen.

(Aus der Begründung der Jury zur Preisvergabe an Johanna Schwering)

Die Welt, von der Yuna so erzählt, ist eine düstere und wenig Hoffnungsvolle, in der besonders Männer schlecht wegkommen. Der Vater ist verschwunden, der Kunstprofessor, der später zum Vormund Yunas wird, hegt auch nicht nur hehre Motive. Sexuelle Gewalt, Scham und Ausgrenzung sind Marker dieser Welt, von der Yuna berichtet. Frauen sterben hier nach Abtreibungen, werden missbraucht und müssen ganz eigene Strategien entwickeln, um in dieser Welt zu überleben, allen voran die findige Cousine Petra, die sich als Prostituierte durchschlägt, die sich um die Aufklärung von Yuna kümmert und die ihr auch die Spielregeln der Gesellschaft der 40er Jahre in Argentinien näherbringt.

Die Cousinen ist ein Familienroman aus einem dumpfen, gewaltgesättigten Milieu, der trotz aller Schwere und Hoffnungslosigkeit eben auch von der Kunst als Rettungsanker erzählt, mithilfe dessen sich Yuna von ihrem Umfeld emanzipieren kann. Auch in der Sprache und der Form des Berichts findet die junge Frau ein Ausdrucksmittel, das in seinem ganzen Facettenreichtum aufgrund der herausragenden Übersetzung durch Johanna Schwering auch im Deutschen erlebbar wird.

Fazit

Mit diesen Buch erweist sich Aurora Venturini als eine Wegbereiterin jüngerer argentinischer Autorinnen wie etwa Claudia Piñeiro, mit der sie das scharfe Auge für gesellschaftliche Missstände, Kritik an der Bigotterie und nicht zuletzt auch den Handlungsort Adrogué teilt, in dem auch Piñeiro ihren anklagenden Roman Kathedralen spielen lässt.

Schön, dass die so spät entdeckte Argentinierin Venturini nun auch hierzulande lesbar ist. Noch schöner, dass die Übersetzerin Johanna Schwering und der herausgebende dtv-Verlag den Wunsch der Leipziger Jury nach weiteren Übersetzungen schon so schnell erfüllen. In wenigen Monaten gibt es mit Wir, die Familie Caserta schon ein weiteres Werk aus dem Schaffen von Aurora Venturini zu entdecken!


  • Aurora Venturini – Die Cousinen
  • Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering
  • Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez
  • ISBN 978-3-423-29031-9 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht

Ein Vater mit seinem Sohn auf der Flucht durch Argentinien. Ihnen auf der Spur: die Geister der Vergangenheit und Geister der Gegenwart. Mariana Enriquez hat mit Unser Teil der Nacht ein wuchtiges, dunkles, bisweilen verstörendes Mammutwerk vorgelegt, das zwischen verschiedenen Genres und Stilen oszilliert und sich einer genauen Zuordnung entzieht.


Um ihren Roman zu erzählen, wählt Mariana Enriquez den Erzählansatz verschiedener Stimmen, die mal aus auktorialer oder Ich-Perspektive erzählen. All diese Episoden spielen zu verschiedenen Zeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ergeben erst langsam ein großes Ganzes. Die Hauptgeschichte entspinnt sich Mitte der 70er Jahren in Argentinien. Es herrscht die Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, Oppositionelle werden gefoltert und verschwinden spurlos.

Ein Vater und sein Sohn auf der Flucht

In dieser Zeit lernen wir Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Sie befinden sich auf dem Weg zum Landgut Puerto Reyes, wo sie erwartet werden. Schon auf dem Weg der beiden zeigt sich, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Juan ist ständig erschöpft, will seinen Sohn schützen – und dieser sieht in Hotelzimmern Gestalten und Geister, die nicht von dieser Welt stammen.

Mariana Enriquez - Unser Teil der Nacht (Cover)

Schnell stellt sich heraus, dass sowohl Juan als auch Gaspar so etwas wie ein zweites Gesicht haben. Sie können Geister und dunkle Kräfte sehen oder sogar heraufbeschwören. Diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der einer dunklen Welt jenseits der unseren macht vor allem Juan für einen zunächst nicht näher definierten Orden höchst interessant. Aber auch Gaspar ist für den Orden von Interesse – schließlich könnten sich die Mediumsfähigkeiten seines Vater ebenfalls auf ihn übertragen haben. Ein mögliches Schicksal, vor dem Juan seinen Sohn um jeden Preis beschützen möchte.

Und während die beiden in Richtung des Landguts Puerto Reyes reisen, treibt Juan eine weitere Sorge um. Seine Frau Rosario ist verschwunden. Ob tot oder nur verschollen, das ist noch fraglich. Um mehr über ihr Verschwinden herauszufinden, beschwört er Geister herauf, um zu klären, was es mit dem Schicksal seiner Frau auf sich hat. Doch die Beschwörungen haben ihren Preis…

Über andere Erzählerinnen und Erzähler in anderen Zeiten klären sich langsam die Rollen von Juan, Gaspar und Rosario. Aber auch in späteren Zeiten, in denen Gaspar dann schon größer ist, ist die Dunkelheit nicht fern. So verliert Gaspar beim Spielen mit Freund*innen in Buenos Aires dann eine Freundin beim Erkunden eines verlassenen Hauses an die Dunkelheit. Denn egal ob in den 70er Jahren oder bis hinein in die 90er Jahre – die Dunkelheit ist nie fern, wofür auch der geheimnisvolle Orden sorgt, der an Gaspar so großes Interesse hat.

Eine wilde Mischung mit hohen Dunkelanteil

Es ist eine völlig wilde Mischung, die Mariana Enriquez hier anrührt. Bislang ist sie mit Kurzgeschichten in Erscheinung getreten (etwa Was wir im Feuer verloren, 2017 bei Ullstein erschienen), nun legt sie ein über 830 Seiten starkes Werk vor, das alle Genrezuordnungen sprengt.

Viele der Geschichten wirken zunächst einmal reichlich unverbunden, die Anknüpfungspunkte zum bisher Gelesenen erschließen sich manchmal erst spät. So gibt es Passagen, die stark an Serien wie Stranger Things und Abenteuerbücher wie die Drei ??? erinnern, dann gibt es Horrorelemente, Beschreibung größter körperlicher Pein und Folter, bei denen die Militärdiktatur manchmal ein guter Deckmantel ist, mit dem man die eigentlichen, unsäglichen Verbrechen des Ordens kaschieren kann. Es gibt explizite Liebesszenen, Fantasy- oder eher Horrorszenen (besonders in den Ritualen, in denen die Dunkelheit beschworen wird). Wir haben es mit einer Familiensaga zu tun, genauso gibt es Okkultes neben Profanen, Orgien und erste Liebe – und die Lyrik ist sowieso immer von Bedeutung.

Stellenweise wirkt Unser Teil der Nacht wie der dunkle Gegenpart zu Carlos Ruiz Zafons Der Schatten des Windes. In Zeiten von Verbrechen und Gräuel suchen ein Vater und ein Sohn nach den Hintergründen des Verschwindens der Frau oder Mutter und erleben dabei Fantastisches, das außerhalb unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt liegt. Wo bei Zafon alles wie in Sepia getaucht wirkt, ist die Welt von Mariana Enriquez bedeutend dunkler. Der Tod und die Geister sind stets präsent, auf dem Landgut Puerto Reyes spielt sich Unsägliches ab. Juan versucht seinen Sohn davor zu schützen, aber die Schatten reichen weit. Und die Toten reisen schnell.

Fazit

Das zeigt Mariana Enriquez eindrücklich, der mit Unser Teil der Nacht ein dunkles, bisweilen schwer erträgliches Buch mit einem hohen Horror-Anteil gelingt. Die Militärdiktatur, ein grausamer Orden, ein Vater, der seinen Sohn vor dem Schicksal bewahren will. Das sind Teile dieser großen, dunklen Saga, die die zweite Hälfte des vergangen Jahrhunderts aus argentinischer Perspektive noch einmal aufleben lässt. Wuchtig, verstörend, dunkel- thematisch wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.


  • Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht
  • Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann
  • ISBN 978-3-608-50161-2 (Klett-Cotta)
  • 832 Seiten. Preis: 28,00 €
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Damiano Femfert – Rivenports Freund

Ein Arzt in einer Klinik im Nirgendwo mit einer Faszination für Schmetterlinge. Und ein gedächtnisloser Mann, der als Patient in das Krankenhaus jenes Arztes eingeliefert wird. Darum dreht sich das Debüt von Damiano Femfert. Eine moderne Adaption des Kaspar-Hauser-Mythos, die leider etwas blass und überraschungsfrei bleibt.


Es ist schon wieder fünfzehn Jahre her. Damals griff die Polizei nächtens in der Grafschaft Kent in England einen jungen Mann im Smoking auf. Völlig vom Regen durchnässt war er durch die Gegend geirrt, bis die Polizei den mysteriösen Patienten in ein Krankenhaus brachte. Die Geschichte erregte weltweit großes Aufsehen. Denn der Mann sprach nicht und schien sein Gedächtnis verloren zu haben. Lediglich als man den Patienten an das Klavier der Krankenhauskapelle setzte, spielte er einigen Zeitungsberichten nach plötzlich ein klassisches Konzert.

Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind. Ein junger Mann ohne Erinnerung mit einer Inselbegabung. Ein großes Rätselraten um dessen Identiät und Spuren, die sich im Nichts verlieren. Dass sich die Geschichte am Ende als Fake herausstellte und es zu einigen Unstimmigkeiten in der Darstellung des Falls kam, tat der Faszination um diesen modernen Kaspar Hauser keinen Abbruch. Längst hatte der Fall um den von der Presse Piano Man getauften Mann eine eigene Dynamik bekommen.

Der Piano Man in S.

Auch Damiano Femfert scheint sich von der Geschichte des Piano Man und anderen Amnesiegeschichten Inspiration geholt zu haben. Denn die Geschichte, die er in Rivenports Freund erzählt, weist einige Parallelen zu dem aufsehenerregenden Fall in England auf. Allerdings spielt Femferts Geschichte nicht auf der britischen Insel, sondern 1952 im nördlichen Landstrich Argentiniens, direkt an der Grenze zu Chile. Dort liegt die Kleinstadt S..

In dieser nicht näher beschriebenen Kleinstadt versieht der verwitwete Arzt Rivenport seinen Dienst als Direktor des örtlichen Krankenhauses. Sein wahres Interesse gilt aber der Entomologie, genauer gesagt der Schmetterlingskunde. In der Klassifizierung und der Präparierung seiner gefangenen Exponate findet er die wahre Erfüllung. Sein großes Ziel ist die Einrichtung eines eigenen Schmetterlingsmuseums, für das er einen ehrgeizigen „Generalmarschplan“ verfolgt.

Aber auch im Norden Argentinien trifft Dürrenmatts Diktum zu, der einst bemerkte: „Je planvoller die Menschen vorgehen, desto wirksamer werden sie vom Zufall getroffen.“ Im Falle von Doktor Rivenport trägt der Zufall den Namen Kurt. Dieser Kurt wird nämlich in der argentinischen Wüste in der Nähe des Grenzübergangs nach Chile aufgefunden.

Kurt scheint das Gedächtnis verloren zu haben. Nackt hat man ihn in der aufgegriffen, Dokumente führte er keine mit sich. Auf Kontaktversuche reagiert er nicht, lediglich auf Deutsch angesprochen, äußert er den Namen Kurt. Ansonsten ist der erwachsene Mann wieder in das Stadium eines Kleinkindes zurückgefallen.

Obwohl zunächst völlig ablehnend, weckt der Fall des retardierten Patienten ohne Gedächtnis und Geschichte das Interesse von Rivenport. Denn als man den blonden Mann an die Orgel der kleinen Stadtkirche setzt, ereignet sich fast so etwas wie ein Wunder. Obwohl er sich kaum ausdrücken kann, spielt der Gedächtnislose plötzlich ein Konzert, das alle Anwesenden ins Staunen versetzt: Buxtehude, Pachelbel und Bach intoniert der Patient in einer Qualität, die so zuvor noch nie in S. zu hören war.

Wer ist Kurt?

In der Folge begeben sich Rivenport und wir Leser*innen mit ihm auf die Suche nach dem Geheimnis des Mannes. Woher kommt er? Was hat ihn in die Einöde Nordargentiniens verschlagen? Nachdem die Polizei sehr passiv bleibt, ergreift Rivenport selbst die Initiative und betätigt sich als Schmalspur-Ermittler.

Leider gelingt es Damiano Femfert dabei nicht, mich als Leser mit dem Geheimnis von Kurt auf irgendeine Art und Weise zu überraschen – [Achtung, wer das Buch noch nicht gelesen hat – es folgt ein Spoiler!]. Ein blonder, blauäugiger und deutsch sprechender Mann 1952 in Argentinien, der vor irgendetwas geflohen ist. Schon bei der Lektür des Klappentextes weckte das bei mir Assoziation zu der in Südamerika endenden Rattenlinie im Zweiten Weltkrieg. Ebenso kam mir unmittelbar das Buch Das Verschwinden des Josef Mengele von Olivier Guez in den Sinn. Und genauso, wie ich mir das schon vor Beginn des Buchs ausmalte, kommt es dann auch. Hier platzt keine Bombe, hier explodiert höchstens ein Knallbonbon.

Schade ist es auch, dass die Fragen und Erkenntnisse, die Rivenport aus dem Geheimnis Kurts ziehen könnte, auf ein paar wenigen Seiten abgearbeitet werden. Die Geschichte des retardierten Patienten hätte zu einer goßen Reflektion eingeladen: Wie gehen wir miteinander um eingedenk dessen, was oder was wir nicht übereinander wissen? Wann hat man Schuld verbüßt? Kann es überhaupt so etwas wie Sühne geben? Viele Fragen, die sich angeboten oder fast aufgedrängt hätten. Leider reizt Femfert dieses seiner Geschichte innewohnende Potenial überhaupt nicht aus.

Statt sich den Überlegungen zu stellen und verändert aus der erlebten Gschichten herauszugehen, kehrt Rivenport wieder zu seinen Schmetterlingen zurück. Der Generalmarschplan wartet ja schließlich nicht. Der Erkenntnisgewinn für den Doktor (und auch für mich) beläuft sich eher auf null.

Nicht genutzte Chancen

Damiano Femfert vergibt in Rivenports Freund die Chance, den Text mit stärkerer Bedeutung und philosophischer Tiefe anzureichern. Stattdessen begnügt sich Femfert damit, einfach seine Geschichte zu erzählen.

Das ist ja auch durchaus legitim, allerdings gibt es auch hier neben dem etwas zähen Tempo in der Mitte des Buchs auch andere leichte Schwächen, die für mich ins Gewicht fallen.

Das Personal, mit dem Femfert seinen Roman besetzt, bleibt recht eindimensional. Abgesehen von Rivenport und Kurt bekommt keine der Figuren Tiefe. Die Polizisten sind faul, die Nonnen Frömmlerinnen, die Zugehfrau ein Hausdrache, die Kollegen im Krankenhaus haben nicht viel mehr als Namen abbekommen. Nach einem Bordellbesuch winselt und heult Rivenports verheirateter Kollege beispielsweise und rennt die ganze Zeit im Kreis (S. 207). Ein bisschen raffinierter dürfte die Charakterisierung der Figuren für meinen Geschmack da schon ausfallen.

Und auch die Sprache Femferts wirkt stellenweise etwas abgegriffen. So macht man sich im Buch gegenseitig die Hölle heiß, Menschen taumeln wie Motten in das Licht, der Blondschopf gibt dem Doktor Rätsel auf, man erlebt verflixte Morgen, im Verhör nimmt Rivenport Kurt hart ran. Das kann man alles so schreiben. Für mich, der ich eine gehobene Sprache, frische Formulierungen und kreative Sprachbilder schätze, war das Buch in dieser Hinsicht leider etwas enttäuschend.

Hätte Femferts Buch die Fragen nach Schuld und Sühne vertieft behandelt oder das Thema der Metamorphose im Buch weiterverfolgt (Schmetterlinge als Leitmotive, Menschen, die sich als etwas entpuppen und Entwicklungen durchmachen, etc.), dann wäre sein Debüt für mich überzeugender ausgefallen, als es jetzt der Fall ist. Nichtsdestotrotz stellt sich mit Damiano Femfert hier ein Autor vor, der als Erstling einen soliden Unterhaltungsroman und eine moderne Kaspar-Hauser-Adaption vorgelegt hat und der sicher noch von sich reden macht.

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María Cecilia Barbetta – Nachtleuchten

Ein Roman wie eine Stadt voller Winkel und Gassen – in Nachtleuchten versucht sich María Cecilia Barbetta an einem großen Panorama Argentiniens im Umbruch zwischen 1974 und 1975. In meinem Falle mit durchwachsenem Erfolg.

Schon der Blick in die Inhaltsangabe macht klar – hier schreibt jemand mit einem großen Stilwillen und Formbewusstsein. Genau 100 Kapitel weist Barbettas Roman auf, aufgeteilt in drei große Teile á 33 Abschnitte (33 die magische Zahl, wie es im Buch thematisiert wird) sowie ein Schlusskapitel namens Die vierte Dimension. Hier zeigt sich der Anspruch der Autorin, die ihr Geschichte als Brennglas für die Umsturzsituation 1974/1975 in Argentinien nach Juan Péron benutzt.

Die in den drei Teilen im Mittelpunkt stehenden Figuren erleben alle aus eigenen Blickwinkeln den Alltag und die Veränderungen im Land, wobei Barbetta vom Kleinen auf das Große kommt. Ihre Geschichte spielt in Ballester, einem Viertel Buenos Aires, das auch die Heimat von María Cecilia Barbetta selbst  ist. Dort kam die Autorin 1972 zur Welt, siedelte allerdings 1996 nach Deutschland über. Ihren Roman hat sie auf Deutsch verfasst. Und hier liegt für mich nun der Reiz ihres 521 Seiten starken Textes, den Barbetta gewissermaßen in spanischem Deutsch schreibt. Sie selbst drückt es wie folgt aus:

Das Überbordende gehört zu mir, es gehört zu Lateinamerika. es gehört zum Katholizismus, meine Sprache ist blumig und ich hab ein großes Herz für Kitsch.

Damit schafft sie eine Gratwanderung zwischen spanischer und deutscher Welt – und bringt damit auch ein Kapitel argentinischer Geschichte ins deutsche Bewusstsein, welches nicht allzu präsent ist. Dies gelang ihr bereits so gut, dass es für einen Ausschnitt des Romans den Alfred-Döblin-Preis gab. Und nun befindet sie sich mit Nachtleuchten auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Doch befindet sich die Autorin zu recht auf dieser Liste und ist ihr gar noch mehr zuzutrauen?

Würdig für den Deutschen Buchpreis 2018?

Ich selber hatte meine Probleme mit dem Buch – denn es ist für meinen Geschmack zu wuchtig, zu umfassend und verliert sich dabei selbst aus den Augen. Was ein wenig überrascht, da die durchkomponierte Strenge des Inhaltsverzeichnisses ja etwas anderes suggeriert.

Doch mein Problem mit Nachtleuchten lässt sich am besten mit einem Zitat aus dem Anfang des Romans von Seite 18 illustrieren:

Die Mädchen setzten sich schweigend in Bewegung. Sie schritten würdevoll durch das Kirchenschiff. Sie schritten wie die Nereiden. Sie schritten wie die Begleiterinnen des Poseidon, wie die verspielten Bewohnerinnen der Höhlen der Tiefen des Ozeans, sie schritten selbstvergessen wie die Beschützerinnen der Schiffbrüchigen, die edlen Töchter des Nereus und der Doris, Naturgottheiten, anmutige Nymphen, die auf Namen hörten, die wie Meeresrauschen klangen und an Schaum erinnerten, sie schritten wie Glauke, Eudora und Ligea, wie Eurydike, Klio und Xantho, wie Galateia, Kalypso, Thetis und Arethusa. Die Jungfrauen des SANTA ANA schritten, als erschlösse sich ihnen die Sprache der Delphine, Seesterne und Hippokampen.

Barbetta, María Cecila: Nachtleuchten, S. 18

Diese Pleonasmen finden sich häufig im Text. Für mich sind diese von redundanter Natur, die für mich eher die Belesenheit und Sprachmacht der Autorin zeigen sollen, denn den Text verbessern oder den Lesefluss ihrer Geschichte erhöhen.

Dieser Stilwillen zeigt sich an unzähligen Stellen im Buch – so lässt es die Autorin selten mit einer Zuschreibung gut sein, sondern häuft ganze Berge von Adjektiv- und Substantivgewittern auf, die meine Lektüre immer wieder hemmten. Ein letztes Beispiel sei hier noch zitiert, um einen Eindruck von der Beschaffenheit Barbettas Sprache zu geben:

Hier hast du deinen einzigen schwülstigen Matschhaufen, eine einzige faulige Melange aus Blutorange, Nelkenrot, Lippenstiftrot, Erdbeerrot, Merinorot, Rosenrot, Karminrot, Nagellackrot, na klar, wenn man in den eigenen vier Wänden eine Putzfrau gefangen hält und sich an den Rund-um-die-Uhr-Luxus leisten kann, ist es ja egal, Brillantrot, Mohnrot, Kirschrot, Blutrot, dann macht es überhaupt keinen Unterschied, Glutrot, Paprikarot, Hennarot, Leinrot, Saturnrot, Scharlachrot, Gelbrot, Tomatenrot angelaufen: denn dann putzt mir keiner hinterher, Sonnenuntergangsrot, Tizianrot, Safranrot, Purpurrot (…).

Barbetta, María Cecilia: Nachtleuchten, S. 119 f.

Der Abschnitt hier ergeht sich im Übrigen noch eine weitere halbe Seite in der Beschreibung der Rottöne, die in den Dialog eingeschnitten werden. Man kann das stilistisch brillant finden – für mich hingegen ist es nur anstrengend und vermindert den Lesegenuss dieser Geschichte erheblich, die für mich viel Potential hätte.

Ein Roman wie ein Stadtviertel

Mich erinnerte die Lektüre von Nachtleuchten selbst an eine Stadt beziehungsweise eine Stadtviertel wie Ballester, das Barbetta beschreibt. Es gibt schöne Ecken, tolle Plätze, viele geschichtsträchtige Winkel, in die man sich gerne verirrt. Dann gibt es aber auch Passagen, die wie aus einem Sachbuch abgeschrieben wirken oder stilistische Einsprengsel, die alles andere als zum Aufenthalt einladen. Diese Mischung aus verschiedenen Stilen und sprachlicher Opulenz überzeugte mich nicht wirklich, obwohl die Grundidee und die Ansätze ihres Buchs gut sind. Viel Lesefreude konnte mir das Buch nicht vermitteln – da sehe ich leider andere Titel auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Doch Nachtleuchten ist für meinen Geschmack einfach zu anstrengend.

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