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Anuk Arudpragasam – Nach Norden

Eine Reise zu den Schmerzpunkten verschiedener Leben und denen eines ganzen Landes. Anuk Arudpragasam schickt in Nach Norden seinen Protagonisten auf eine Reise durch das vom Bürgerkrieg gezeichnete Sri Lanka und spürt dabei dem Schmerz in vielen Facetten nach.


Fast sechs Stunden dauert es laut Google Maps, möchte man mit dem Auto von Colombo bis nach Kilinochchi im Norden Sri Lankas reisen. Begibt man sich in die Hände des Reiseleiters Anuk Arudpragasam, so wird aus dieser knapp 340 Kilometer langen Strecke eine Lesereise von annähernd ähnlich vielen Seiten, die tief in die Geschichte Sri Lankas führt.

Dabei beginnt alles mit zwei Nachrichten, die in Krishan, dem Helden von Anuk Arudpragasams Roman, starke Erinnerungen und Bewegungen auslösen.

Zwei Nachrichten und eine Reise

So schreibt ihm Anjum, seine ehemalige Geliebte, die er einst in Indien kennenlernte und die sich nun nach langer Stille bei Krishan über dessen Verbleib erkundigt. Und dann stirbt auch noch Rani, die die Betreuung von Krishans pflegebedürftiger Großmutter Appamma übernommen hat.

Rani stammte aus dem Nordosten Sri Lankas, ein Gebiet, das lange vom Bürgerkrieg und dem Kampf der tamilischen Tiger geprägt war. Sieverlor in diesem Krieg ihre beiden Söhne, den jüngeren tragischerweise noch am vorletzten Tag jenes Krieges, der viele zehntausende Opfer forderte und erst 2009 nach fünfundzwanzig Jahren des blutigen Kampfes beendet wurde. Dieser Kampf, die Erinnerungen an Anjum und sein eigenes kurzzeitiges Engagement dort im Norden lösen vielfältiges Erinnern aus.

In den Jahren seit dem Ende der Kämpfe war er besessen geworden von den Massakern, die im Nordosten stattgefunden hatten, mehr und mehr hatte ihn die Schuld des Überlebenden ergriffen, und er sehnte sich nach der Art Leben, die er vielleicht führen könnte, wenn er die träge akademische Welt verließ, in die er sich abgesondert hatte, und an einem Ort lebte und arbeitete, der ihm etwas bedeutete.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 21

Von Colombo nach Kilinochchi

Anuk Arudpragasam - Nach Norden  (Cover)

Krishan beschließt, sich von seinem aktuellen Wohnort Colombo an der Westküste Sri Lankas nach Kilinochchi im Norden der Insel zu begeben. Von dort stammt Rani, dort verunglückte sie und dort soll sie nun im Kreis ihrer Familie beerdigt werden. Und dorthin zieht es nun auch Krishan, der sich dort seinen Gedanken und Erinnerungen stellen möchte.

Während er also per Bahn in den Norden reist, stürmen die Erinnerungen immer stärker auf ihn ein. Seine Großmutter Appamma und ihr Abgleiten in die Hilflosigkeit und ihr Schwanken zwischen Selbstbehauptung und dem Einfordern von Hilfe. Die Anstellung von Rani, die nach dem Tod ihrer Söhne in Depressionen verfiel, die sie mit immer stärker werdender Elektroschocktherapie zu bekämpfen versuchte, ehe sie in der Anstellung als Betreuerin von Rani in Colombo neuen Sinn fand. Die Erinnerungen an Anjum, ihr gemeinsames Kennenlernen in Indien, die langsame und intensive Romanze, die sich entspann. All diese Erinnerungen stürmen auf den Erzähler ein – genauso wie zahlreiche Erinnerungen an Gedichte, Dokumentarfilme und Legenden, derer sich der junge Mann erinnert.

Eine Reise zu den Schmerzpunkten eines ganzen Landes und seiner Bewohner

Dabei ist Nach Norden ein Buch der Erinnerung, das konsequent die Schmerzpunkte eines Landes und seiner Bewohner umkreist und auch berührt. So schon sich schon Krishan wenig, wenn er mit akribischer Genauigkeit der verflossenen Romanze zwischen Anjum und ihm nachspürt, sich ihr ganzes Kennenlernen noch einmal vor Augen führt, was den Schmerz der Trennung noch einmal deutlicher werden lässt.

Auch das familiäre Gefüge mit der verfallenden eigenen Großmutter und den notwendigen Kraftanstrengungen, die die heimische Pflege erfordert, beschreibt uns Krishan ungeschönt. Er führt dies von der persönlichen Ebene dann auf die nationale Ebene, wenn langsam die ganze Bedeutung des Bürgerkriegs, die Zerstörung, das persönliche Leid und das der Gesellschaft in Nach Norden offenbar wird. Hier schon jemand weder sich noch sein Land, um die einschneidende Bedeutung des Bürgerkriegs dort im Norden der Insel zu vermitteln.

Ein genauer Beobachter

Zudem ist erweist sich der junge 1988 geborene Tamile Arudpragasam hier auch als genauer Beobachter, der seine Sprache bewusst wählt und bei der es ein Fehler wäre, allzu schnell über sie hinwegzugehen oder sie nur als Vehikel der Erzählung zu begreifen.

Egal ob erotisch aufgeladene nächtliche Begegnungen im Schlafwagen oder die Bestattungszeremonie von Rani – diese Prosa der Gedanken- und Erinnerungsschleifen gleicht in manchen Szenen einer hochauflösenden Zeitlupe, in der sich der tamilische Erzählung manchmal schon schmerzhaft viel Zeit nimmt, um die Handlung und inneren Bewegungen zu schildern.

Nach Norden ist ein Roman, der sich Zeit lässt, der seine Themen genau umkreist und der alle Wahrnehmungen in langen Satzperioden genau nachzubilden und abzubilden versucht (Übersetzung durch Hannes Meyer):

Als er sie beobachtete und sie ihn, hinter ihr die Landschaft vorbeirauschte, er aber nur das Blinzeln ihrer Augen und das Schlagen seines Herzens wahrnahm, war Krishan dankbar, dass sie beide Teil desselben Ortes und derselben Zeit waren, dass sie zumindest jetzt diesen Augenblick teilten, einen Augenblick, der nicht nur Nahes und Fernes enthielt, sondern auch Vergangenes und Zukünftiges, ein Augenblick ohne Länge und Breite und Höhe, der aber alles von Bedeutung in sich barg, so als wären alle anderen Bestandteil der Welt bloß kosmische Kulisse, eine Illusion, die nun verschwinden konnte, da sie entlarvt war. Was man in Ermangelung eines besseren Ausdrucks oft Liebe nannte, das wurde ihm in jener Nacht klar, war weniger die Beziehung weiter Menschen an und für sich als vielmehr eine Beziehung zwischen zwei Menschen und der Welt, deren Zeugen sie waren, einer Welt, deren Oberflächen und Äußerlichkeiten sich allmählich auflösten, währen die beiden Menschen tiefer und tiefer in ihrer Liebe versanken.

Anuk Arudpragasam – Nach Norden, S. 176 f.

Fazit

Mit Nach Norden nimmt uns Anuk Arudpragasam mit auf die zerrissene Insel Sri Lanka und zeigt ein Land fernab der touristischen Glanzpunkte. Vielmehr sind es die Schmerzpunkte, die Arudpragasam auf persönlicher genauso wie auf gesellschaftlicher Ebene interessieren. Seine Reise wird zu einer Reise in die Vergangenheit eines vom Bürgerkrieg gezeichneten Landes und auch zu einer Reise des eigenen seelischen Schmerzes. Gewiss keine leichte Literatur, aber ein Buch, auf das man sich mit genügend Zeit einlassen sollte und dessen Sprache das ideale Vehikel für Arudpragasams Erzählansatz der Langsamkeit und Nachdenklichkeit ist.


  • Anuk Arudpragasam – Nach Norden
  • Aus dem Englischen von Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-446-27381-8 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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Archil Kikodze – Der Südelefant

Ich finde mich auf der Cinamzgvrischwili-Straße wieder. Für meine heutige Route gab es von Anfang an keinen Plan, aber nachdem ich dem Haus einen Besuch abgestattet habe, wird sie noch chaotischer. Jetzt will ich heim, aber bei mir ist ja Tazo, und zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal im Leben bin ich von ihm genervt, so sehr verlangt es mich danach, mich auf mein Sofa fallen zu lassen, das Telefon, den Rechner, das Internet abzuschalten, mich abzuwenden von allem und andertalb Tage lang bloß an die Decke zu starren.

Bis heute Abend wird all dies jedoch nicht möglich sein, und ich bezweifele, ob ich es heute Abend hinkriege, lange vom Rechner fernzubleiben. Und so werde ich herumlaufen, bis es so weit ist, werde frische Luft schnappen.

Archi Kikodze – Der Südelefant, S. 184

Ein Mann wandert durch Tbilisi. Seine Wohnung hat er einem alten Freund für ein Tête-a-tête zur Verfügung gestellt und nun durchmisst er die Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt – und seine eigenen Erinnerungen.


Schon früh morgens verlässt der Erzähler sein Heim, das er seinem alten Freund Tazo zur Verfügung gestellt hat. Von seiner Nachbarschaft aus wandert er in den nahegelegenen Park, trifft alte Bekannte, kehrt in Cafés und McDonalds-Filialen ein, immer in Begleitung seines Handys, seines Androiden, wie er es nennt. Ihn treiben die Erinnerungen an seine Ex-Frau und seine Tochter um, seine eigene Familiengeschichte, sein Werdegang als Regisseur, seine Freundschaften und die Vergangenheit, die sich in Tbilisi an allen Ecken und Enden offenbart.

Ein wacher Verstand ist vonnöten

Archil Kikodze - Der Südelefant (Cover)

Der Südelefant ist ein Buch, das man mit wachem Verstand lesen muss, und das keine Unaufmerksamkeit verzeiht. Archil Kikodze hat ein ungemein dichtes Textgewebe angefertigt, bei dem innere und äußere Handlung beständig ineinanderfließen, sich Erinnerungsschichten überlagern und die Gedanken immer wieder abschweifen. Das macht die Lektüre spannend, aber eben auch wirklich fordernd. Genauso wie bei einem Stadtspaziergang lohnt es sich, mit offenen Augen und offenem Geist durch Kikodzes Tbilisi zu wandern. Und wie bei einer interessanten Stadt würde ich behaupten, dass man auch beim ersten Besuch in diesem literaturgewordenen Straßen- und Erinnerungslabyrinth keinesfalls alles erfasst.

Dieses Buch lädt dazu ein, es ein oder vielleicht sogar noch zweimal hintereinander zu lesen, um die Abschweifungen und Bezüge wirklich zu erkennen. Denn Archil Kikodze mutet den Leser*innen einiges zu. Er geht bis in die Zeit des georgischen Bürgerkriegs zurück, erzählt von den verschiedenen Einflüssen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen

Ein Blick auf Tbilisi und Georgien

Denn wenn Der Südelefant etwas zeigt, dann das: Tbilisi und Georgien im Ganzen ein heterogenes Land, das vielen Verwerfungen und Veränderungen unterworfen war und ist. Mingrelien, Abchasien, Swanetiens – alle diese Regionen haben Einfluss und prägen den Charakter von Tbilisi, den des Landes und den des Erzählers, dessen wechselvolle Vergangenheit sich erst langsam aus dem Text herausschält. Die Beziehung zu seinem Kind, sein Schaffen als Regisseur, sein Scheitern, all das enthüllt sich allmählich und braucht jenen schon angesprochenen wachen Geist, um alles zu erfassen. Wer vor solcher Leseearbeit zurückschreckt, der wird mit Archil Kikodzes Buch freilich nicht glücklich werden.

Alle anderen, die Herausforderungen bei der Lektüre zu schätzen wissen und ein Buch auch zur Wiederlektüre zur Hand nehmen, sei dieses Buch ans Herz gelegt, gerade eingedenk der Tatsache, dass georgische Literatur hierzulande ja normalerweise selten erhältlich ist und uns hier ein kluger und gebildeter Erzähler an die Hand nimmt und durch die Stadt strawanzt.

Schön, dass dieses Buch im Rahmen von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 von Nino Haratischwili und ihrem Mann Martin Büttner aus dem Georgischen ins Deutsche übertragen wurde. Da verzeiht man auch kleine Inkonsistenzen in der Übersetzung, etwa wenn einmal vom Fangesang der Anhänger des FC Liverpool die Rede ist, die Liverpool, du bist nicht alleine singen, und in einer anderen Erinnerungspassage dann aber das bekannte „You’ll never walk alone“ anstimmen.

Fazit

In der Tradition großer Flaneurs- und Tagesromane, allen voran natürlich James Joyce‘ Ulysses ist Der Südelefant von Archil Kikodze ein anspruchsvoller Roman, der wie ein literaturgewordenes Schlüsselloch funktioniert, das uns in Form dieses Tbilisi-Spaziergangs einen Blick auf Georgien und dessen wechselvolle Geschichte erlaubt. Außergewöhnliche Literatur, die es ohne Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse wahrscheinlich nicht ins Deutsche geschafft hätte – gut so, dass das geschehen ist!


  • Archil Kikodze – Der Südelefant
  • Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner
  • ISBN 978-3-550-08197-2 (Ullstein)
  • 272 Seiten. Presi: 22,00 €
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Maya Angelou – Was für immer mir gehört

Wenn es noch eines Beweises für die Berühmtheit Maya Angelous bedurft hätte, hier wäre er. Der Puppenhersteller Mattel hat sich entschieden, im Rahmen der Reihe „Inspirierende Frauen“ auch eine Maya Angelou nachempfundene Puppe auf den Markt zu bringen.

Während sie in den USA als Ikone gefeiert wird, für ihr Engagement geehrt wurde und als erste schwarze Frau bei einer Präsidenten-Inauguration in den USA sprechen durfte, ist sie in Deutschland deutlich unbekannter. 2018 legte der Suhrkamp-Verlag die 1980 von Harry Oberländer für den Verlag Stroemfeld/Roter Stern übersetzte Fassung von Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt noch einmal neu auf.

Im Rahmen des Lesekreises des Blogs 54Books entstand damals meine Besprechung des Buchs. Es handelt sich bei diesem Buch um den ersten Teil ihres insgesamt sieben Bände umfassenden Erinnerungszyklus. Sämtliche weitere Teile dieser Memoiren wurden nicht mehr ins Deutsche übertragen. Allerdings wagt sich nun der Suhrkamp-Verlag sukzessive an die Veröffentlichung des Werks. Melanie Walz übertrug nun zum ersten Mal das ursprünglich 1974 erschienene Gather together in my name ins Deutsche. Und im Gegensatz zu der altmodischen und überholten Übersetzung Harry Oberländers gelingt ihr diese Aufgabe deutlich besser.

Mehr als ein Leben

Das Buch setzt an der Stelle ein, an der Angelou ihren ersten Band beendete. Sie ist als Siebzehnjährige mit ihrem Sohn Guy alleinerziehend und hat beschlossen, ihre Herkunft hinter sich zu lassen. Weit weg vom rassistischen Süden, dem Krämerladen ihrer Großmutter und der Gefahr durch den Ku-Kux-Klan will sie in Kalifornien ein neues Leben beginnen. Doch dass Träume manchmal Schäume sein können, das zeigt sich sehr schnell. So versucht sich Maya als Köchin, als Zuhälterin oder als Tänzerin. Zweimal verliebt sie sich in die falschen Männer. Lässt ihren Sohn in der Obhut anderer Frauen zurück, um Geld zu verdienen.

Maya Angelou - Was für immer mir gehört (Cover)

Und auch wenn es effektiv nur zwei Jahre sind, die Angelou in ihrem Buch beschreibt, so bekommt man doch den Eindruck, dass sie in einem Jahr mehr erlebt hat, als es den meisten Menschen in einem ganzen Leben vergönnt ist. Schonungslos berichtet sie von fataler Liebe, Fehlentscheidungen, ihren Versuchen, sich zu prostituieren, Drogen und der Beziehung zu ihrer Familie. Das Scheitern ist in diesem knapp 250 Seiten starken Buch genauso Thema wie ihr unverzagtes Sich-Ausprobieren und Neuerfinden. Man kann Maya Angelou nur bewundern, wie klar sie ihren Lebensweg hier offen legt und zeigt, wie wechselvoll ihre Geschichte war und ist.

Sie beschönigt nichts, schont weder sich selbst noch andere und schreibt so ein lebenspralles Buch, das eine Ahnung auf die Fülle gibt, die die weiteren Memoirs von Maya Angelou bereithalten.

Ein Nachwort von Verena Lueken

Maya Angelou - Nur mit meiner Stimme (Cover)

Verena Lueken erzählt in ihrem Nachwort vom Einfluss, den Maya Angelou auf das schwarze Leben in Amerika hatte. Für Persönlichkeiten wie James Baldwin, Malcom X., Barack Obama oder Toni Morrison stellte sie eine Inspiration dar. Sie schrieb Reden, Gedichte, Theaterstücke, spielte in Filmen mit, engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung. Kurz, und das macht auch Luekens Nachwort klar: sie führte ein überreiches Leben, das sich jeder Einordnung oder Kategorisierung entzog.

Gespannt bin ich deshalb auch schon auf die weiteren Werke Maya Angelous, die nun auch hierzulande langsam etwas bekannter werden. Im Juni folgt im Suhrkamp-Verlag dann ebenfalls in der Übersetzung von Melanie Walz der nächste Band des Angelou’schen Erinnerungszyklus. Er trägt den Titel Nur mit meiner Stimme. Man sollte ihn auf dem Zettel haben, nicht nur wenn man sich für Schwarze Identität oder Empowerment interessiert!


  • Maya Angelou – Was für immer mir gehört
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz
  • ISBN: 978-3-518-47082-4 (Suhrkamp)
  • 247 Seiten. Preis: 16,00 €

Titelbild: „Maya Angelou“ von Burns Library, Boston College lizenziert unter CC BY-NC-ND 2.0

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Eine Oral History des 11. September

Garett M. Graff – Und auf einmal diese Stille

Es ist zweifelsohne eines der einschneidendsten Erlebnisse des 21. Jahrhunderts: der 11. September 2001. Wohl jeder Mensch weiß noch, was er an diesem Tag getan hat, als die Nachricht des Attentats auf das World Trade Center die Welt kurzzeitig aus dem Takt geraten ließ. Inzwischen ist die Erinnerung an diese wirkmächtigen Anschläge auf Amerika etwas verblasst. Die Bilder werden natürlich wiederholt und haben sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben. Das Gedenken, das Verlesen der Namen, das Läuten der Totenglocke, im Fernsehen meist überkleistert mit Musik von Enya. Das Gedenken ist inzwischen zu einem Ritual geworden, das aber nun dank der fast schon 20 vergangenen Jahre seit dem Anschlag in der von immer neuem Terror überlagert und überschrieben wird.

Garett M. Graff holt mit seinem Buch die Ereignisse rund um das World Trade Center, das Pentagon und Co. nun allerdings wieder prominent auf die Bühne und entstaubt die Erinnerung an jenes ikonische Datum maximal. Ihm gelingt in Und auf einmal diese Stille ein Erinnerungsbuch, das mit Wucht den 11. September in allen Facetten beleuchtet. Ein wichtiges Zeitdokument.

Augenzeugenberichte des 11. September

Garrett M. Graff - Und plötzlich diese Stille (Cover)

Dabei besteht die Leistung des Autors und seines Teams keinesfalls in eigenen Beschreibungen des 11. Septembers. Vielmehr versammelt das Buch Augenzeugenberichte und Schilderungen des gesamten Tages. Diese reichen von den Erinnerungen des einzigen Amerikaners, der sich am 11.09 nicht auf der Erde, sondern auf der ISS befand, bis hin zu hochrangigen Politiker*innen wie etwa die damalige Verteidigungsministerin Condoleeca Rice und dem Beraterstab rund um Präsident George W. Bush.

Graff gliedert seine Augenzeugenberichte weitgehend chronologisch und beginnt den 11. September morgens noch ganz ruhig. Er lässt etwa den Flughafenmitarbeiter zu Wort kommen, der die Attentäter eincheckte. Auch die Feuerwehren beobachtet er an diesem Morgen oder lässt vom eigentlich geplanten Tagesablauf des amerikanischen Präsidenten berichten.

Ausgehend vom ersten Einschlag eines Flugzeugs erzählt er mithilfe der niedergeschriebenen Erinnerungen von den entführten Flugzeugen, dem Anschlag aufs Pentagon, der Unsicherheit im Umfeld von Präsident Bush oder von den Rettungskräften, die zum brennenden World Trade Center eilten und diesen Einsatz häufig mit dem eigenen Leben bezahlten.

Das Gefühl von Unmittelbarkeit

Man ist fast selbst in den Treppenhäusern der Twin Towers dabei, als couragierte Büromitarbeiter einen Kollegen im Rollstuhl dutzende von Stockwerken nach unten tragen. Oder man kann sich einfühlen, wie Menschen reagieren, deren Angehörige sich aus entführten Flugzeugen melden und letzte Worte hinterlassen. Wie Rettungskräfte verschüttet und wieder ausgegraben werden. Wie unzählige Menschen vom Himmel stürzen und dabei noch andere mit in den Tod reißen (dieses Kapitel „Springen“ zählt sicherlich zu den schockierendsten und buchstäblich niederschmetterndsten). Von all diesen Momenten erzählt Und auf einmal diese Stille. Graff selbst bemerkt im Vorwort:

Und auf einmal diese Stille ist zwar umfassend, aber keineswegs vollständig. Die hier präsentierten Geschichten erfassen nur einen einzelnen historischen Moment. Der 11. September ist aber nicht zuletzt deshalb so ergreifend, weil wir etwas über die weiteren Schicksale der betroffenen Menschen erfahren, darüber, wie es ihnen in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren danach ergangen ist. Während das Land nach den Angriffen einerseits enger zusammenrückte und die Menschen sich solidarisch zeigten, zog es zugleich in zwei Kriege, die bis heute keinwirkliches Ende gefunden und viele Weltgegenden drastisch verändert haben. Auch deshalb ist der 11. September jeden Tag gegenwärtig. Dieser Tag hat unsere Art des Reisens, unser Alltagsleben und unser Miteinander grundlegend verändert.

Garret M. Graff: Und plötzlich diese Stille, S. 11

Diesen Tag wieder gegenwärtig zu machen, ihn in seiner Vielgestaltigkeit erneut begreif- und erlebbar zu machen, diese Aufgabe erfüllt Garrett M. Graffs Buch bravourös. Und auf einmal diese Stille ist eine minutengenaue Chronik, die uns Lesenden spüren lässt, warum dieser 11. September eine solche Zäsur der jüngeren Geschichte war und ist.


  • Garrett M. Graff – Und auf einmal diese Stille
  • Übersetzt von Philipp Albers und Hannes Meyer
  • ISBN: 978-3-518-47090-9 (Suhrkamp)
  • 537 Seiten. Preis: 20,00 €
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Robert Seethaler – Der letzte Satz

Der Meister der literarischen Verknappung ist wieder zurück. Zwei Jahre nach seinem polyphonen Totengesang gibt es nun eine neue Erzählung des österreichischen Romanciers Robert Seethaler. Diesmal konzertriert er sich auf eine historisch verbürgte Figur, die er in Der letzte Satz zu Wort kommen lässt – Gustav Mahler.

Dieser befindet sich auf der Überfahrt nach Amerika. Die Kaiserkabine auf einem Schiff der Norddeutschen Lloyd AG ist für ihn gebucht. Ein eigner Schiffsjunge steht für den Maestro auf Abruf bereit – doch Mahler kann all den Komfort und Luxus überhaupt nicht genießen. Bluthusten und andere körperliche Gebrechen quälen den zeitlebens mit einer schwächlichen Konstitution geschlagenen Komponisten und Dirigenten. Während er an der Reling des Schiffs steht, fliegen seine Gedanken davon.

Erinnerungen an sein verstorbenes Kind peinigen ihn; die schwierige Beziehung zu seiner Frau Alma treibt ihn genauso um wie entscheidende Wegmarken seines Lebens, die er in Gedanken noch einmal passiert. Modellsitzen für Rodin, das für damalige Verhältnisse megalomanische Konzert der Tausend, seiner 8. Sinfonie, die er in der eigenes umgebauten Konzertsaal in München vor 3000 Zuhörern aufführte oder auch seine musikalischen Siege und Niederlagen. Eine große assoziative Revue eines musikalischen Lebens ist es, die Seethaler uns Leser*innen hier in denkbar verknappter Form darbietet.

Rückblick auf ein Künstlerleben

Hierfür durchbricht er die Rahmenhandlung auf dem Schiff für Einschübe und Rückblicke, die allmählich das Bild eines hochtalentierten, aber auch gequälten Arbeiters ergeben, der weniger Musik-Genie, denn wirklicher Tonarbeiter war. Der mit seinem Wirken, seiner Ehe und seiner Religion haderte.

Robert Seethaler - Der letzte Satz (Cover)

Den Mythos des komponierenden und dirigierenden Talents, dem die Einfälle nur so zuflogen, Seethaler bricht es bewusst. Hier liegt ein Künstlerroman vor, der seine Figur nicht verklärt, sondern auch ihre Kämpfe und ihr Scheitern nicht verschweigt.

Das ist gut gemacht und liest sich absolut flüssig weg. Nach gerade einmal 125 großzügig gesetzten Seiten ist dieses Mahler-Porträt schon am Ende angelangt. Die letzte Reise des österreichischen Musikers, sie findet ihr Ende. „Und das war gut, denn es war Zeit zu gehen“ (S. 126). Mit diesem letzten Satz endet Der letzte Satz.

Bei aller literarischen Kunstfertigkeit, die Seethaler zweifelsohne zueigen ist. So sehr wie im Trafikanten oder auch in Ein ganzes Leben rührt Mahlers Schicksal dann aber doch nicht an. Denn für ein wirklich ergreifendes Porträt bleibt Seethaler viel zu sehr an der Oberfläche und wagt zu wenig Introspektion.

Fehlende Widerhaken

Im Gegensatz zum Vorgängerroman Das Feld ist dieses Buch nun schon wieder fast zu einfach zu lesen. Man fliegt förmlich durch die Seiten und damit durch Mahlers Leben, immer eng entlang der tatsächlichen historischen Begegebenheiten. Aber was bleibt am Ende von der Lektüre? Für mich leider nicht allzu viel, das von diesem Buch in Erinnerung bleiben wird. Als biographischer Roman ist es etwas dünn, als Künstlerroman ebenfalls nicht wirklich ausgearbeitet. Eine Studie über einen innerlich zerrissenen Mann vielleicht? Oder doch eher eine biographische Skizze?

Egal was dieses Büchlein ist. Unterhaltsam ist es auf alle Fälle und sprachlich auf dem gewohnt knapp-souveränen Seethaler-Niveau. Auch wird das Buch sicher die Leser*innen wieder für sich einnehmen und die Bestsellerlisten erklimmen, was dem Österreicher und seinem Verlag ja zu wünschen ist. Aber die literarischen Widerhaken, die das Buch langfristig in meinem Kopf verankern, sie fehlen mir hier leider. Leider nur ein sprachlich ansprechendes Porträt von Stationen aus dem Leben des Meisters, in dem für mich nicht genug Musik drin ist.

Eine andere spannende Stimme (die sich auch mit meiner deckt) gibt es bei Aufklappen,


  • Robert Seethaler – Der letzte Satz
  • ISBN 978-3-446-26788-6 (Hanser)
  • 128 Seiten. Preis: 19,00 €
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