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Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung

Mit seiner Novelle Der Frühling der Barbaren stellte sich Jonas Lüscher im Jahr 2013 kraftvoll auf dem Literaturmarkt vor und erzählte von den Entgleisungen des Kapitalismus und gesellschaftlicher Dekadenz. Sein nächster Wurf Kraft blieb nicht nur eine titelgebenden Behauptung, sondern zeigte ebenjene Kraft auch literarisch im Inneren des Buchs, in dem Lüscher enorm unterhaltsam das Taumeln und den Fall eines Mannes im akademischen Betrieb zeigte. Dafür wurde ihm neben viel Kritikerlob (mich eingeschlossen) im Jahr 2017 auch der Schweizer Buchpreis zugesprochen.

Umso erstaunlicher ist jetzt das, was Lüscher unter dem Titel Verzauberte Vorbestimmung als Einstand bei seinem neuen Verlag Hanser fabriziert hat.


Schlägt man das von einem Ausschnitt des Gemäldes The leader of the luddites geschmückte Buch von Jonas Lüscher auf, so stößt man auf ein Zitat des Autors und Sängers PeterLicht. Dieser behauptet darin , dass es die Technik wie die Liebe seien, die uns retten würden. Ein Maschinenstürmer auf dem Cover und das Vertrauen auf ebenjene von den Maschinenstürmern bekämpfte Technik, und das im Abstand von nur wenigen Seiten. Es ist ein Widerspruch, der dem Ganzen innewohnt und er auch alles Folgende in Verzauberte Vorbestimmung kennzeichnen wird.

Denn wer einen roten Faden in Lüschers Werk sucht, der wird nicht fündig werden. Stattdessen dominiert ein Vielerlei aus Themen und Motiven, die über 340 Seiten nicht zusammenfinden und den Eindruck eines nicht einmal in Ansätzen konsistenten und reichlich überladenen Erzählwerks hinterlassen. Schon die Nachzeichnung der groben erzählerischen Linien muss scheitern, da sie in diesem Roman allenfalls angedeutet vorkommen.

Von den Schlachtfeldern Yperns zu Peter Weiß und nach Kairo

Jonas Lüscher - Verzauberte Vorbestimmung (Cover)

Der Roman hebt mit der Schilderung eines aus Algerien stammenden Soldaten an, der sich dem Kampfgeschehen der Schlacht bei Ypern im Ersten Weltkrieg entzieht. Inmitten von Gasschwaden erhebt er sich aus den Gräben, um das Kampfgeschehen zu verlassen und stattdessen Briefträger in Lyon zu werden. Von diesem kurzen Schlaglicht geht es weiter zum Schriftsteller Peter Weiß, auf dessen Spuren sich der Erzähler begibt. Die Frage des Widerstandes, sie verbindet den Postboten im Krieg mit Weiß‘ berühmtesten Werk, das den Titel Ästhetik des Widerstands trägt und in dem sich der Schriftsteller mit antifaschistischem Widerstand und Faschismus auseinandersetzt.

Aber auch mit der Geschichte eines Briefträgers beschäftigte sich Peter Weiß. In seinem Werk Rapporte greift er die Lebensgeschichte eines Briefträgers auf, der zeit seines Lebens mit der Errichtung des sogenannten Palais idéal nach eigenem Vorbild beschäftigt war. Bis nach Südfrankreich führt diese Suche auf Spuren des Briefträgers und des gefeierten Autors Peter Weiß. Später wird der Schriftsteller bis Kairo reisen, dazu kommen an den unterschiedlichen Schauplätzen imaginierte Geschichten, die unter anderem im Stil einer Fabel von dem auf dem Cover abgebildeten Ludditen Ned Ludd und dessen Zerstörung von Webstühlen per Hammer erzählen. Mal geht es in Böhmen zurück in die Vergangenheit, mal geht es in Ägypten bis in die Zukunft.

Es ist ein wildes Durcheinander, dass das „Roman“ geheißene Werk Jonas Lüschers kennzeichnet. Eine Aufzählung von KZ-Gefangenen, die auf einem Todesmarsch umgekommen sind, steht neben einer Reiseerzählung nach Kairo, aus der sich dann die nächste erzählerische Dystopie ergibt, ohne dass eine Zusammenhang oder eine Motivierung der Themen klar ersichtlich würde.

Themen tauchen kurz auf, verschwinden dann wieder, dazwischen gibt es Passagen, die eine gewisse Kongruenz des reisenden Schriftstellers mit dem tatsächlichen Jonas Lüscher nahelegen, etwa wenn es in Passagen um das mehrwöchige Martyrium im Krankenhaus infolge einer Covid 19-Erkrankung geht, deren literarischer Verarbeitung man hier Zeuge wird.

Ein Roman wie schmelzende Wachsfiguren

Mit Verzauberte Vorbestimmung ist es wie mit den Wachsfiguren, die in einer in Kairo spielenden Erzählepisode zum Ende des Romans hin beschrieben werden.

Vor einigen Jahren ist die Klimaanlage ausgefallen, und Mahmoud, der die Galerie mit den Wachsfiguren schon immer gehasst hat, hat sich nie bemüht, sie wieder in Stand zu setzen, und bald fing irgendein Insekt an, große Löcher in die Samtvorhänge vor den Fenstern zu fressen, so dass die Sonne Strahlenbündel in den Raum zu werfen begann, die nach Jahreszeiten in unterschiedlichen Pfaden über die Figuren wanderten.

Das war den prominenten Ägyptern nicht gut bekommen.

Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung, S. 298

Ein Boutros Boutros-Ghali, der wie in einem Dalí-Gemälde zerfließt, eine Königin Hatschepsut oder König Tutanchamun, der zerflossene Gesichter an einen Schlaganfall erinnern oder schon fast vollständig zerfallene Figuren – das Panoptikum des Verfalls und der auflösenden Formen, es gilt leider auch für Verzauberte Vorbestimmung selbst. Zwar kann man im Buch durchaus verheißungsvolle Ideen für einen Roman erkennen, de facto erweist sich das Buch als literarisches Äquivalent zu den geschmolzenen Wachsfiguren aus Kairo: wenig ansehnliches, mühsam zu dechiffrieren und auch nicht zu einer vertieften Beschäftigung mit Figuren und Themen einladend.

Viele Fragen, kaum Antworten

Am Ende bleiben viele Fragen. Wäre das Buch als Erzählungsband vielleicht die bessere Wahl gewesen? Wo sind die roten Fäden, wo ist der Wille zu einer nachvollziehbaren Geschichte hin, warum die immensen Sprünge durch Zeit und Raum, wenn daraus nur eine Überfrachtung des Buchs mit Themen resultiert? Wollte er womöglich einfach zu viel für ein Buch? Technik, Sterben, Widerstand, Aufbruch, Peter Weiß, Abhängigkeit von Maschinen – was ist das eigentliche Anliegen und warum hat das Verbindende und Erklärende so fast gar keinen Platz? Und warum ist die Gestaltung der Figuren so in den Hintergrund geraten?

Zumindest für mich läuft alles auf die zentrale Frage hinaus, auf die ich auch nach der Lektüre und der schriftlichen Beschäftigung in Form dieser Rezension noch keine Antwort gefunden habe: was wollte uns der Künstler damit bloß sagen?

Fazit

Auch wenn Jonas Lüscher hier wieder mit Satzgirlanden, einer registerreichen Sprache sein Talent fürs Erzählen unter Beweis stellt, leider scheint es auch, als habe den Schriftsteller die Lust zu einer wenigsten einigermaßen übersichtlichen und nachvollziehbaren Gestaltung dieses überfrachteten Gebirges verlassen. Der Roman wirkt an vielen Stellen wie die Ideensammlung für ein im Entstehen befindliches Bühnenstück, dessen Regisseur schon nach der ersten Leseprobe hingeworfen hat und das Ganze dann in dem unbearbeiteten Zustand heillos überfrachtet auf die große Bühne gebracht hat.

Nahezu unlesbar stand ich bei der Lektüre von Verzauberte Vorbestimmung mehrfach vor einem Abbruch, den ich mir aufgrund von Lesedisziplin und die Wertschätzung des bisherigen Werks des Autors aber nicht erlaubte.

Gebracht hat es nichts, am Ende steht trotz aller Bereitschaft für eine Auseinandersetzung mit den Themen und den erzählerischen Ansätzen ein klares Urteil: Verzauberte Vorbestimmung ist leider weder ver- noch bezaubernd, sondern leider nur eines: verwirrend, unkonturiert, disparat, herausfordernd und überfordernd zugleich. Auf dieses Buch muss man sich wirklich einlassen wollen.

Weitere Meinungen

Nuancierter als in dieser Rezension beschäftigt sich der Schweizer Buchclub mit Lüschers Buch. Für Carsten Otte im SWR ist der Roman eine Romanruine, für Wiebke Porombka bei Deutschlandfunk Kultur ist das Buch hingegen eine präzise und zugleich philosophische Reflexion unserer Gegenwart, noch dazu literarisch brillant.


  • Jonas Lüscher – Verzauberte Vorbestimmung
  • ISBN 978-3-446-28304-6 (Hanser)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €
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Penelope Lively – Nachtglimmen

Während ihr eigenes Lebenslicht zusehends schwächer wird, versetzt sich Claudia Hampton in Penelope Livelys Roman Nachtglimmen von einem Krankenhausbett aus noch einmal an zentrale Punkte ihres Lebens. Mal aus der eigenen Geschichte heraustretend, mal ganz präsent entsteht das vielgestaltiges Bild eines Lebens, das für Claudia von der Kriegsreporterin bis hin zur Mutter viele Rollen kannte.


Moon Tiger, so heißt jenes brennbare Material, dessen Verglimmen Moskitos fernhalten soll und das auch Penelope Livelys Buch im Original von 1987 und den bisher erschienenen deutschen Ausgaben des Romans (1994 als deutsche Erstausgabe, 1997 als Neuauflage) seinen Titel gibt. Auch Claudia Hampton diente der Moon Tiger als Schutz vor Moskitos, führte sie ihr Leben von England aus doch an entlegene Schauplätze wie Kairo, wo man Moon Tiger einsetzte, um des Nachts die Gefahr durch die Insekten zu mildern.

Auch andere Ländern wie Indien oder Spanien zählten zu den Stationen ihres Lebens, ehe Claudia zurück in ihre britische Heimat kam. Dort liegt sie im Alter von 76 Jahren nun abermals in einem Bett – nur Moon Tiger verglimmt nicht mehr neben ihr.

Schichten eines Lebens

Stattdessen ist es ihr Lebenslicht, das zusehends schwächer wird und nur noch flackert, womit der Titel des Nachtglimmens ebenso metaphorisch wie konkret zu lesen ist. Wechselnd zwischen realen Momenten dort im Krankenhaus und dem überwiegenden Abtauchen in die eigenen Erinnerungen entsteht langsam ein Bild, das die Schichten von Claudia Hampton freilegt. Denn nicht umsonst ist sie seit Kindertagen von fossilen Ablagerungen wie Ammoniten fasziniert und zählt den Bauingenieur William Smith zu ihren Vorbildern. Dieser nutzte seine Kanal-Baustellen, um nebenher Studien über die unterschiedlichen Schichten im Gestein zu betreiben.

William Smith bezog seine Inspiration durch die Schichtenbildung. Meine Schichten sind nicht so leicht zu erkennen wie die der Felsen von Warwickshire, und im Kopf sind sie nicht einmal in Folgen angeordnet, sondern ein Wirbel aus Worten und Bildern.

Penelope Lively – Nachtglimmen, S. 29

In diesen Wirbel taucht man im Folgenden mit Claudia ein und widmet sich den unterschiedlichen Schichten und Stadien ihres Lebens, die sich zu dem Menschen sedimentiert haben, der nun im Krankenbett zwischen persönlichen Erinnerungen in Ich-Form und Außenbetrachtungen hin und herwechselt.

Die vielen Facetten der Claudia Hampton

Penelope Lively

Die Kindheit, die im Zeichen von Konkurrenz und Anziehung zu ihrem Bruder Gordon bestand, die Zeit als Kriegsreporterin zur Zeit des Zweiten Weltkriegs in Kairo, eine große Liebe und eine weniger liebende Partnerschaft, die Erfahrungen als Mutter und ihre eigene Karriere, all diese Aspekte ihres Leben scheinen in den Erinnerungen auf, die zwar an manchen Stellen durcheinanderwirbeln und sich gegenseitig überlagern, dennoch aber ein klares und ja – vielschichtiges Bild von Claudia und ihrem fast acht Jahrzehnte währendem Leben ergeben.

Das ist neben dem Inhalt des Romans insbesondere aufgrund der schon erwähnten stilistischen Besonderheit des Buchs besonders prägnant. Denn immer wieder tritt Claudia aus ihrer eigenen Geschichte, betrachtet durch die personale Erzählweise sich selbst und ihr Verhalten anderen Menschen gegenüber aus der Distanz, um dann wieder in das eigene Erleben und die Kontakte mit ihren Lebensmenschen im Krankenhaus zurückzuwechseln.

Ein Frauenleben unter herausfordernden Bedingungen, das Schwanken zwischen Vergessen und Erinnern, das ist souverän erzählt und steht in der Tradition anderer großer britischer Autor*innen wie Graham Swift, Michael Ondaatje oder Jane Gardam. Dass die 1933 in Kairo geborene und 2012 zur Dame Commander of the Order of the British Empire ernannte Penelope Lively hierzulande nicht bekannter ist, ist angesichts der literarischen Klasse dieses Buchs bedauerlich – schließlich errang sie für Nachtglimmen 1997 den Booker Prize.

Ein neuer Blick auf eine bisweilen verkannte Autorin

Dass der Dörlemann-Verlag sich nun daran macht, Penelope Lively mit dieser Neuausgabe ihres Romans wieder ins öffentliche Interesse zu rücken, ist begrüßenswert. Alte, bei dtv erschienene Auflagen ihres Buchs sind im Buchhandel allenfalls noch antiquarisch erhältlich – und auch die damalige Kritik scheint veraltet, wie Eli Shafak in ihrem neuen Vorwort für den Roman schreibt.

Herablassend und bestenfalls gönnerhaft sei im englischsprachigen das damalige Urteil der Kritik ausgefallen, so die Autorin in ihrem Vorwort (hierzulande reicht das Archiv des Perlentauchers nur 25 Jahre zurück, sodass sich das deutsche Echo auf Livelys Roman nicht mehr wirklich nachvollziehen lässt).

Die Vielschichtigkeit im Charakter von Livelys Heldin, die Anerkennung der Komplexität und Widersprüchlichkeit und deren Anspruch, sich selbst zu ermächtigen, um ihre eigene Lebensgeschichte und damit verbunden die der Welt zu erzählen, all das sei von der männlich geprägten Literaturkritik nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen worden.

Auch wenn sich manche dieser Verhaltensmuster in der professionellen Kritik auch hierzulande noch immer beobachten lassen, erlaubt die Neuauflage doch nun einen freieren Blick auf die Qualitäten und den Anspruch von Livelys Erzählen. Schade nur, dass die Übersetzung nicht – oder noch immer nicht – mit diesem Anspruch Schritt hält.

Eine begrüßenswerte Neuausgaben – mit Mängeln in der Übersetzung

Denn der einst von Ulrike Budde und nun laut Verlagsangaben von Ulrike Miller aus dem britischen Englischen übersetzte Roman krankt an der in Teilen mangelhaften Übersetzung.

So liest sich der Roman, als sei er nur in groben Zügen der neuen Rechtschreibung angepasst worden. Fehler wie der Begriff des “ Torpedobeschußss“ (S. 231) weisen in diese Richtung. Auch gibt es manche Eigentümlichkeiten wie das eine Seite zuvor auftauchende und im Deutschen nicht gebräuchliche Adjektiv „handsam“. Ob hier „handsome“ kreativ übertragen wurde oder von „handzahm“ die Rede sein sollte, bleibt ein Rätsel.

Zudem erscheint die Übersetzung von Begriffen an einigen Stellen erratisch. Während die einzelnen Regimenter genannt mit ihren originalen Titeln genannt werden, gibt es plötzlich ein Hochländer-Regiment, das in einer konsistenten Übersetzung als Highlander-Regiment Bestandsschutz hätte genießen müsste.

Neben einigen unnötig komplizierten und wenig idiomatischen Wendungen und der Verwendung von problematischen Begriffen wie „Rassen“ bleibt hier der Eindruck, dass mit einer präziseren Übersetzung im Deutschen noch einige zusätzliche Schärfegrade von Penelope Livelys Prosa hätten freigelegt werden können.

Fazit

Von diesem Wermutstropfen abgesehen bietet Nachtglimmen die Chance, eine ambitionierte und literarisch versierte Autorin (wiederzu)entdecken, die mit Claudia Hampton eine vielschichtige und widersprüchliche Figur mit einer faszinierenden Lebensgeschichte in den Mittelpunkt rückt.

Hier glimmt nichts, das ist ein literarisches Leuchten!


  • Penelope Lively – Nachtglimmen
  • Mit einem Vorwort von Eli Shafak
  • Aus dem britischen Englisch von Ulrike Miller
  • ISBN 978 3 03820 153 3 (Dörlemann)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Merle Kröger – Die Experten

From the needle to the rocket

So lautete der Slogan, den der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser in den 60er Jahren für sein Land ausgab. Von der Nähnadel bis hin zu Raketen sollte alles in Ägypten gefertigt werden. Man wollte sich frei machen von Abhängigkeiten und strebte nach eigener Stärke. Doch besonders für den komplizierten Bereich der Raketenfertigung war es nicht leicht, im Land selbst genug Kompetenz zu versammeln. Die Lösung hierfür: Experten von außerhalb, genauer gesagt aus Deutschland. Denn während der Zeit des Nationalsozialismus hatten die Forscher in Peenemünde und anderswo für die Nazis bereits Raketen konstruiert. Und diese Kompetenz war ja immer noch vorhanden, wenngleich durch die Entmilitarisierung nach dem Krieg für die Forscher in Deutschland mehr oder minder ein Beschäftigungsverbot galt.

Raketenpräsentation in Ägypten (Quelle: Wikimedia)

So warb Ägypten zahlreiche deutsche Ingenieure und Wissenschaftler an, die darauf drängten, ihre Rüstungsprojekte fortzusetzen. In und um Kairo entstand so eine Community von Deutschen, die sich der Raketenforschung und des Bau dieser Waffen verschrieben. Die Deutschen konnten ihre Arbeit fortsetzen, Nasser bekam seine Raketen, die er nach dem Austritt Syriens aus seiner Vereinigten Arabischen Republik (kurz VAR) dringend als Zeichen seiner außenpolitischen Stärke brauchte. Eine Win-Win-Situation also für den Präsidenten und seine deutschen Experten, die Ägypten auf die (rüstungspolitische) Weltbühne zurückbringen sollten.

Deutsche Experten in Ägypten

Rita Hellberg, die Heldin von Merle Krögers Roman ist die Tochter eines solchen Experten. Friedrich Hellberg konstruierte einst mit der Hilfe von Zwangsarbeitern im Dritten Reich Überschallflugzeuge. Und auch wenn den Deutschen ab 1958 wieder die Arbeit in der Luftfahrtindustrie erlaubt wurde – „richtige Arbeit“ war und ist das für Friedrich Hellberg nicht. Er hat seinen Traum vom Bau militärischer Überschallflugzeuge noch nicht aufgegeben.

Düsentriebwerke, Raketen, Kampfflugzeuge – das ist das Ideal, das Hellberg mit vielen anderen Deutschen trotz der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg teilt. So folgt er mit seiner Familie dem Ruf Nassers nach Ägypten. Nach einem Besuch seiner minderjährigen Tochter Rita behält er diese kurzerhand in Kairo vor Ort. Er hat ihr einen Job als Sekretärin beim Raketenwissenschaftler Wolfgang Pilz besorgt. Durch diesen bekommt Rita langsam einen Einblick in die ägyptische Expat-Gemeinde und das Tun und Treiben der deutschen Experten vor Ort.

Merle Krögers großer erzählerischer Bogen

Merle Kröger hat einen halb dokumentarisch, halb fiktionalen Roman vorgelegt, der sich eines hochspannenden Themas annimmt. Eines, das in der der deutschen Literatur bislang sträflich vernachlässigt wurde. Ein Fehler, wie das Buch von Merle Kröger zeigt. Denn die Verflechtungen, denen sie in Die Experten nachspürt, sind hochinteressant und lassen so manches Mal die Haare zu Berge stehen.

Merle Kröger - Die Experten (Cover)

So spannt die Autorin ihren Bogen von der Zeit der sechziger Jahren bis hinein in die Zeit der Studentenunruhen. Sie erzählt von der deutschen Expat-Gemeinde, die aus Forschern, Ordensschwestern, aber auch untergetauchten Kriegsverbrechern wie etwa dem KZ-Arzt Hans Eisele besteht. Neben der Aufrüstungsstrategie von Gamal Abdel Nasser sind die Verflechtungen der jungen BRD und Ägyptens Thema. Das Antichambrieren Franz Josef Strauß‘, die innen- und außenpolitischen Winkelzüge der Mächtigen erörtert Merle Kröger nachvollziehbar und höchst spannend. Gerade als dann der Mossad im Ränkespiel um die deutschen Experten mitzumischen beginnt, bekommt dann das Buch die Spannung, die zuvor noch etwas auf sich warten ließ.

Rita wird in ihrer Funktion als Sekretärin zur Geheimnisträgerin. Sie beginnt, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, hin und hergerissen in ihren Sympathien. Dass ihr dabei das Elternhaus mit den beiden Antipoden des horoskopbegeistern Vaters und der bigotten Mutter keinerlei Hilfe ist, beschreibt Merle Kröger eindrucksvoll.

Literarisch höchst souverän

Überhaupt – die literarische Souveränität, mit der Merle Kröger erzählt, ist unbedingt preiswürdig. So schafft sie es beispielsweise in einem Kapitel eine tiefgründige Charakterisierung der Familie Hellberg, indem jedes der vier Familienmitglieder einfach einen Brief verfasst. Alleine über diese vier Briefe zeigen sich so unterschiedliche Figuren, wie sie andere Autor*innen nicht einmal in einem ganzen Roman beschreiben könnten. Ihr gelingt eine glänzende Psychologisierung ihrer Figuren.

Allerdings sind Absätze das Ding der 1967 geborenen Autorin nicht. Sie wechselt die Perspektive innerhalb von drei Zeilen, treibt das Geschehen voran, rhythmisiert ihre Erzählung und erschafft so einen manchmal schon fast an Spoken-Word-Lyrik erinnernden Erzählfluss.

Neben den raschen Perspektivwechsel, Seitenblicken oder Rückblenden sind es auch die zahlreichen Dokumente, die die Prosa von Die Experten kennzeichnen. Immer wieder verwendet Merle Kröger Original-Zeitdokumente. Fetzen aus Spiegel-Stories, Geheimdienstberichte oder Dokumentation über die Zeit des Dritten Reichs, die sie in den Roman hineinmontiert. So entsteht eine reizvolle Mischung aus Fiktion und Dokumentarischen. Der Anhang gibt Auskunft über die zahlreichen Quellen, die in den Roman eingeflossen sind.

Fazit

Es wäre Merle Kröger zu wünsche, dass ihr nun mit Die Experten der große Durchbruch gelänge. Das Buch hat die Adelung durch einen Platz im Suhrkamp-Programm (ohne den famosen Ariadne-Verlag an einer Stelle kleinreden zu wollen) absolut verdient. Ihre Prosa besitzt einen eigenen Sound, die Themen sind großartig gewählt und haben allesamt gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Relevanz. Ihre Figuren sind glaubhaft entworfen, die Wiederauferstehung des Ägyptens der 60er Jahre ist geglückt. Zwar sträube ich mich etwas gegen das aufgedruckte Label Thriller, dennoch ist das Buch neben all den bereits genannten Vorzügen natürlich auch spannend und zeigt die geheimdienstlichen und politischen Fehden, die in den 60er Jahren dominierten. Für mich ist dieses Buch absolut preiswürdig. Es sollte Merle Kröger hoffentlich in die vordere Reihe deutscher Autorinnen katapultieren.

Zudem wäre es schön, wenn durch einen Erfolg dieses Buchs auch die Ariadne-Backlist dieser deutschen Autorin wieder entdeckt wird, die nur alle paar Jahre ein Werk vorliegt, das dann aber den Rest der zeitgenössischen Krimiproduktion im Staub zurücklässt. Das ist ganz große deutsche Literatur!


  • Merle Kröger – Die Experten
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-46997-2 (Suhrkamp)
  • 688 Seiten. Preis: 20,00 €
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