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Archil Kikodze – Der Südelefant

Ich finde mich auf der Cinamzgvrischwili-Straße wieder. Für meine heutige Route gab es von Anfang an keinen Plan, aber nachdem ich dem Haus einen Besuch abgestattet habe, wird sie noch chaotischer. Jetzt will ich heim, aber bei mir ist ja Tazo, und zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal im Leben bin ich von ihm genervt, so sehr verlangt es mich danach, mich auf mein Sofa fallen zu lassen, das Telefon, den Rechner, das Internet abzuschalten, mich abzuwenden von allem und andertalb Tage lang bloß an die Decke zu starren.

Bis heute Abend wird all dies jedoch nicht möglich sein, und ich bezweifele, ob ich es heute Abend hinkriege, lange vom Rechner fernzubleiben. Und so werde ich herumlaufen, bis es so weit ist, werde frische Luft schnappen.

Archi Kikodze – Der Südelefant, S. 184

Ein Mann wandert durch Tbilisi. Seine Wohnung hat er einem alten Freund für ein Tête-a-tête zur Verfügung gestellt und nun durchmisst er die Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt – und seine eigenen Erinnerungen.


Schon früh morgens verlässt der Erzähler sein Heim, das er seinem alten Freund Tazo zur Verfügung gestellt hat. Von seiner Nachbarschaft aus wandert er in den nahegelegenen Park, trifft alte Bekannte, kehrt in Cafés und McDonalds-Filialen ein, immer in Begleitung seines Handys, seines Androiden, wie er es nennt. Ihn treiben die Erinnerungen an seine Ex-Frau und seine Tochter um, seine eigene Familiengeschichte, sein Werdegang als Regisseur, seine Freundschaften und die Vergangenheit, die sich in Tbilisi an allen Ecken und Enden offenbart.

Ein wacher Verstand ist vonnöten

Archil Kikodze - Der Südelefant (Cover)

Der Südelefant ist ein Buch, das man mit wachem Verstand lesen muss, und das keine Unaufmerksamkeit verzeiht. Archil Kikodze hat ein ungemein dichtes Textgewebe angefertigt, bei dem innere und äußere Handlung beständig ineinanderfließen, sich Erinnerungsschichten überlagern und die Gedanken immer wieder abschweifen. Das macht die Lektüre spannend, aber eben auch wirklich fordernd. Genauso wie bei einem Stadtspaziergang lohnt es sich, mit offenen Augen und offenem Geist durch Kikodzes Tbilisi zu wandern. Und wie bei einer interessanten Stadt würde ich behaupten, dass man auch beim ersten Besuch in diesem literaturgewordenen Straßen- und Erinnerungslabyrinth keinesfalls alles erfasst.

Dieses Buch lädt dazu ein, es ein oder vielleicht sogar noch zweimal hintereinander zu lesen, um die Abschweifungen und Bezüge wirklich zu erkennen. Denn Archil Kikodze mutet den Leser*innen einiges zu. Er geht bis in die Zeit des georgischen Bürgerkriegs zurück, erzählt von den verschiedenen Einflüssen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen

Ein Blick auf Tbilisi und Georgien

Denn wenn Der Südelefant etwas zeigt, dann das: Tbilisi und Georgien im Ganzen ein heterogenes Land, das vielen Verwerfungen und Veränderungen unterworfen war und ist. Mingrelien, Abchasien, Swanetiens – alle diese Regionen haben Einfluss und prägen den Charakter von Tbilisi, den des Landes und den des Erzählers, dessen wechselvolle Vergangenheit sich erst langsam aus dem Text herausschält. Die Beziehung zu seinem Kind, sein Schaffen als Regisseur, sein Scheitern, all das enthüllt sich allmählich und braucht jenen schon angesprochenen wachen Geist, um alles zu erfassen. Wer vor solcher Leseearbeit zurückschreckt, der wird mit Archil Kikodzes Buch freilich nicht glücklich werden.

Alle anderen, die Herausforderungen bei der Lektüre zu schätzen wissen und ein Buch auch zur Wiederlektüre zur Hand nehmen, sei dieses Buch ans Herz gelegt, gerade eingedenk der Tatsache, dass georgische Literatur hierzulande ja normalerweise selten erhältlich ist und uns hier ein kluger und gebildeter Erzähler an die Hand nimmt und durch die Stadt strawanzt.

Schön, dass dieses Buch im Rahmen von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 von Nino Haratischwili und ihrem Mann Martin Büttner aus dem Georgischen ins Deutsche übertragen wurde. Da verzeiht man auch kleine Inkonsistenzen in der Übersetzung, etwa wenn einmal vom Fangesang der Anhänger des FC Liverpool die Rede ist, die Liverpool, du bist nicht alleine singen, und in einer anderen Erinnerungspassage dann aber das bekannte „You’ll never walk alone“ anstimmen.

Fazit

In der Tradition großer Flaneurs- und Tagesromane, allen voran natürlich James Joyce‘ Ulysses ist Der Südelefant von Archil Kikodze ein anspruchsvoller Roman, der wie ein literaturgewordenes Schlüsselloch funktioniert, das uns in Form dieses Tbilisi-Spaziergangs einen Blick auf Georgien und dessen wechselvolle Geschichte erlaubt. Außergewöhnliche Literatur, die es ohne Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse wahrscheinlich nicht ins Deutsche geschafft hätte – gut so, dass das geschehen ist!


  • Archil Kikodze – Der Südelefant
  • Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner
  • ISBN 978-3-550-08197-2 (Ullstein)
  • 272 Seiten. Presi: 22,00 €
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Brechtpreis für Nino Haratischwili

Gestern Abend war es im Goldenen Saal der Stadt Augsburg soweit – die gebürtige Georgierin Nino Haratischwili bekam den Brechtpreis zugesprochen. Erhalten hat sie diesen Preis sowohl für ihr dramatisches als auch ihr literarisches Schaffen. Die Jury (unter anderem mit Uwe Wittstock, Hubert Spiegel und Shermin Langhoff besetzt) erkannte ihr den Preis mit folgender Begründung zu: „Nino Haratischwilis Romane und Theaterstücke lassen sich mit den großen Exildramen Bertolt Brechts in Verbindung bringen. Ihre Begabung, komplizierte historische Prozesse, Revolutionen und Kriege ebenso wie menschliches Versagen, Opportunismus und Machtmissbrauch sowie individuelle Katastrophen in sinnliche Geschichte und großartige Frauenfiguren zu fassen, erinnert an Brechts „Mutter Courage“ und seinen Kaukasischen Kreidekreis

Andreas Platthaus bei seiner Laudatio

Die Verbindung zwischen Brechts in Georgien bzw. Grusinien spielendem Kaukasischen Kreidekreis und der dort geborenen Nino Haratischwili zog bereits in seinen Begrüßungsworten der Dritte Bürgermeister der Stadt Augsburg, Stefan Kiefer. Ihm folgte dann Andreas Platthaus, der eine elaborierte, verspielte und treffende Rede auf die Preisträgerin hielt. So attestierte Platthaus Haratischwili, dass wenn Brecht das epische Theater erfunden hätte, dann sei es die Preisträgerin, die die theatralische Epik erfunden hätte. In seiner Laudatio nahm der Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Komposition von Haratischwilis Opus Magnum Das achte Leben (für Brilka) auf und hielt eine Preisrede in mehreren Anfängen. Er näherte sich der Laureatin auf verschiedenen Wegen und schaffte es auch, die Verbindung von Brechts Schaffen und der Poetik Haratischwilis herauszustellen.

Eine Verbindung, die die Autorin nach der Übergabe der Urkunde und dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt dann selber auch bestätigte. Sie erzählte von den Anfängen ihres literarischen und dramatischen Schreibens und welche Einflüsse Brecht dabei gehabt hätte. Passenderweise sei es Der kaukasische Kreidekreis gewesen, der in ihr den Wunsch nach dem eigenen Schreiben und Inszenieren geweckt habe. Als 15-jährige habe sie einer Aufführungen jenes Stückes in Tiflis beigewohnt. Auch wenn der Strom nicht immer für ein ganzes Stück hielt und die Stromausfälle während der Aufführungen schon fast zu den Inszenierungen selbst gehörten, so habe sich eine Magie entfaltet, die ihren künftigen Lebensweg entscheidend geprägt habe.

In der Folge emigrierte Haratischwili aus ihrer georgischen Heimat in den Westen, genauer gesagt nach Hamburg. Sie fand Aufnahme an einer Theaterakademie, entwickelte sich beständig fort, schrieb über 20 Theaterstücke und drei Bücher (das vierte Buch erscheint im Herbst diesen Jahres) – und erhielt nun genau für dieses literarische Schaffen und ihr mit über 1200 Seiten starkes Mammutwerk Das achte Leben den mit 15.000 Euro dotierten Brechtpreis. Eine gute Wahl der Jury – mit dieser Auszeichnung reiht sich die bislang jüngste Preisträgerin ein in eine Schar großer Namen. Bisherige Brechtpreisträger sind unter anderem Robert Gernhardt, Albert Ostermaier, Dea Loher und zuletzt Silke Scheuermann.

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