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Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata

Alles kehrt irgendwann wieder. So tauchen vererbte Merkmale in verschiedenen Generationen immer wieder auf – und auch literarische Themen und Trends folgen den Gesetzen der Vererbungslehre, gerade wenn es um das Erzählmuster von Familiensagas geht. So sollte Leser*innen folgende Grundkonstellation bekannt vorkommen:

Ein abgeschiedenes Dorf in der Weite der Natur, verschiedene Generationen von Dorfeinwohner*innen, magische und übersinnliche Ereignisse, die in verschiedenen Generationen immer wieder auftauchen. Das sind nicht nur die Zutaten, die Gabriel García Márquez‚ für seinen Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit dienten. Auch in der italienischen Po-Ebene funktioniert das Erzählen mit diesen Ingredienzen, wie Daniela Raimondi in ihrem gute fünfzig Jahre nach Marquez‘ Welterfolg erschienenem Familien- und Generationenroman An den Ufern von Stellata zeigt.


Obschon wir uns bei Raimondi nicht im fiktiven Dörchen Macondo im unwegsamen Dschungel Lateinamerikas befinden – auch in der Region der Po-Ebene gibt es Dörfer, die der blühenden Fantasie von Gabriel García Márquez entsprungen sein könnten.

Es war ein Dorf mit wenigen Hundert Einwohnern, das zwischen der Straße und dem Fluss lag; ein armes Dorf, das allerdings einen so schönen Namen hatte, dass man glaubte, er sei erfunden. Denn abgesehen von seinem sternenfunkelnden Namen war an Stellata nur wenig Poetisches: eine Piazza mit Bogegengängen, ein bescheidenes Kirchlein aus dem vierzehnten Jahrhundert, zwei Trinkbrunnen sowie die Ruinen einer alten Festung gleich am Fluss.

Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata, S. 19

Dort, in der Po-Ebene, wo das Veneto, die Lombardei und die Emilia-Romagna aufeinandertreffen, liegt jenes Stellata, dessen Geschichte eng mit der der Familie Casadio verknüpft ist. Außerhalb des Ortes an einem kleinen Kanal befindet sich das Haus dieser Familie, die durch die Ankunft von fahrendem Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinandergewirbelt wird, wie der Prolog des Buchs erzählt.

Generationen von Casadios

Daniela Raimondi - An den Ufern von Stellata (Cover)

Der Sohn Giacomo, ein träumerischer und zugleich schwermütiger Mann, nimmt sich eine zingara namens Viocalla zur Ehefrau. Sie ist so ganz anders als die Frauen, die bislang das Geschick der Familie bestimmten, und bringt das eingefahrene und tradierte Weltbild der Familie Casadio gehörig ins Wanken. Neben ihrer ganz eigenen Weltsicht und ihren Gebräuchen ist auch das Tarot eine von den Casadios kritisch beäugte Methode, mit der Viocalla das Familienleben bereichert. Es dient ihr zur Vorhersage des Schicksals und um den Verlauf des eigenen und fremder Lebens zu deuten.

Dabei sieht Viocalla für die kommenden Generationen Unglück, ebenso wie Freuden und gedeihliches Auskommen voraus. Propehzeiungen, die sich tatsächlich bewahrheiten werden – und stets wird auch das Übersinnliche Begleiter von Generationen der Casadios sein. Mal ist es ein Schwein, das eine überlebenswichtige Rolle spielen wird. Mal können Abkommen der von Giacomo und Viocalla begründeten Dynastie mit den Toten reden. Mal folgen ihnen nach Heilungswundern Bienen.

Das erinnert an den magischen Realismus von Gabriel Garcia Marquez‘, drängt sich aber nicht in den Vordergrund von Daniela Raimondis Erzählung. Das Esoterische ist hier allenfalls schmückendes Beiwerk und sollte niemanden von der Lektüre abschrecken, allzu stimmig binden sich diese Elemente in das Gesamtwerk ein und passen ganz wunderbar zu Milieu und Ton dieses Romans.

Generationen wie Wellen

Mit den Ufern von Stellata hat die Autorin ein schönes titelgebendes Bild gefunden, denn hier sind die verschiedenen Generationen Casadios die Wellen, die ans Ufer von Stellata schlagen. Mögen sie sich auch von der Heimat entfernen, in Kriege ziehen oder auf brasilianischen Plantagen ihr Glück suchen, irgendwann kommen sie alle wieder nach Stellata zurück und finden dort ihr Glück – oder auch nicht.

Fünf Generationen sind es, die den erzählerischen Bogen vom Jahr 1800 bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen. Generationen voller unterschiedlicher Menschen, die mal von ihrem Charakter und Wesen nach der Patriarchin Viocalla kommen, mal sind es die Gene des schwermütigen Giacomo, die sich in einem Familienzweig durchsetzen. Raimondi gelingt es, das alles abwechslungsreich und mitreißend zu schildern. Und auch wenn man bei einer Länge von über 500 Seiten befürchten könnte, dass der Spannungsbogen irgendwann bricht oder sich mit einer weiteren Generation Casadios so etwas wie Langeweile oder Ermattung einstellen könnte – allein: es passiert nicht.

Geschickt variiert Raimondi ihre Generationenporträts, die sich immer wieder überlappen und in den jede Menge Zeitgeschichte steckt. Die einschneidenden Erlebnisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Freiheitskampf Garibaldis oder die Auswanderungsbewegungen, etwa wenn Teile der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Schweiz abwandern, weil auf dem flachen Land kaum mehr ein Auskommen ist. All das vermittelt fügt sich organisch in den erzählerischen Bogen ein und ergibt ein – wenngleich ich das Wort eigentlich nicht mag – absolut süffiges Leseerlebnis.

Fazit

Daniela Raimondi erschafft hier einen ganz großen Bilderbogen, der in der Tradition des Magischen Realismus von Gabriel Garcia MarquezHundert Jahre Einsamkeit steht. Sie erzählt über fünf Generationen hinweg von 170 Jahren Krieg und Frieden, Not und Leid, Glück und Erfüllung. Ihr gelingt eine abwechslungsreiche Familiensaga, die über die gesamte Länge von 500 Seiten trägt und die ebenso stimmig von Zeitgeschichte, wie von Übersinnlichem, von Liebe und familiären Zusammenhalt erzählt. Ein großer Schmöker aus Italien, der hier zu entdecken ist.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20176-9 (Ullstein)
  • 512 Seiten. Preis: 23,99 €
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Michael Christie – Das Flüstern der Bäume

Ein Roman wie ein Schuss mitten durch einen mächtigen Baum: der Kanadier Michael Christie erzählt in Das Flüstern der Bäume von vier Generationen natur- und waldverbundener Menschen. Eine opulente Familiensaga mit aktuellen Themen, bestechend montiert.


Gesetzt den Fall, man schösse auf einen dicken Baum. Träfe man den Baum genau in der Mitte und hätte die Kugel genug Kraft, sie würde ungefähr folgende Reise erleben: zunächst wäre da die Rinde, die die Kugel durchschlägt. Es folgt das Kambium, das die Kugel passiert, ehe sie auf ihrer Reise durch den Baum das Splintholz erreicht. Immer weiter dringt sie auf ihrer Reise durch den Baum vor, durchmisst Jahresring um Jahresring, ehe sie schließlich in das Kernholz des Baumes vordringt. Dort passiert sie das Herz des Baums, ehe sie die Reise dann wieder in umgekehrter Reihung aus dem Baum hinaus antritt.

Genau auf die gleiche Weise montiert Michael Christie seinen Roman, der das erzählerische Konzept schon in einem Schaubild zu Beginn des Buchs präsentiert. Da ist der Querschnitt eines Baumes zu sehen, der von einem Zeitstrahl durchkreuzt wird. Der Zeitstrahl setzt 2038 an, um dann ins Innere des Baums vorzudringen, das 1908 seinen Endpunkt erreicht. Danach geht die Reise wieder wie gewohnt vorwärts weiter, um dann wiederum im Jahr 2038 seinen Abschluss zu finden.

Das erzählerische Konzept Michael Christies (Quelle: „Das Flüstern der Bäume“, Penguinverlag)

Erzählen in Schichten

Diese interessante Erzählweise, die so auch ein Stück weit an eine russische Matruschka-Puppe erinnert, entfaltet bei Michael Christie einen ganz eigenen Charme. Je weiter er in der Zeit zurückgeht, umso stärker wird sein Erzählen, das eigentlich mit einem Zusammenprall im Jahr 1908 beginnt. Dieser Zusammenprall bindet das Schicksal der Kinder Everett und Harris Greenwood aneinander, die beide der Unfall zu Waisen macht. In der Folge gelingt Harris eine Karriere als Holzmagnat, der mit der Abholzung von Bäumen und der Ausbeutung seiner Mitarbeiter ein Vermögen macht. Everett zieht in den Ersten Weltkrieg und wird in der Folge zu einem Herumtreiber. Erst mit dem Zufallsfund eines Babys findet Everett seine Bestimmung.

Drei Generationen Greenwoods werden folgen. Eine Aussteigerin, die sich vom Erbe ihrer Eltern lossagt. Ihr Sohn, der als Handwerker wieder mit Holz zu tun bekommt. Und als äußerte Schicht der Matruschka-Puppe Jacinda. Sie ist im Jahr 2038 nach Kanada geflüchtet, um zu Überleben. Das sogenannte Welken hat große Teile der Erde nahezu unbewohnbar gemacht. Sie arbeitet als Führerin nun auf einer Insel vor der Küste Kanadas, einem Resrevat, in dem die letzten großen Bäume Nordamerikas zu finden sind. Mit ihr fängt im Buch alles an, und mit ihr wird alles enden.

Eine hochinteressante Kompositionsform

Die Kompositionsform, die Michael Christie für seinen Roman gewählt hat, ist bestechend. Dabei zählt für mich die äußerte Erzählschicht um Jane zu den schwächeren Seiten dieses Buchs. Denn der der erhobene pädagogische Zeigefinger ist schon sehr deutlich, wenn Christie in düsteren Farben ausmalt, wohin der fehlende Umweltschutz und das Welken in der Zukunft geführt haben. Diese Volksschulhaftigkeit von Christies Agenda erinnert doch auch sehr an das Sendungsbewusstsein der Bestseller Maja Lundes.

Michael Christie - Das Flüstern der Bäume (Cover)

Doch je mehr weiter Christie mit seinem Erzählen in der Zeit zurückreist, umso dichter und runder wird seine Familiensaga. Besonders schön die Tatsache, dass sich Christie für seine Erzählung nicht nur für ein durchgehendes Erzählkonzept, sondern für literarische Varianz entschieden hat. So bekommt jede der vier Generationen Greenwoods einen eigenen Erzählstil zugesprochen. Währendd die Geschichte um Everett und Harris Greendwood von einem „Wir“ erzählt wird, ist es die Erzählung um den Schreiner Liam, die eigentlich fast nur über Rückblenden erzählt wird.

Die große Kunst an diesem Buch ist die Tatsache, dass sich die kleinen Mosaiksteinchen, die Christie im Lauf seiner vier Generationen verstreut, immer klarer zu einem Bild verfugen. Manche Andeutungen oder Besonderheiten der Figuren werden erst durch die Lebensgeschichten der anderen Figuren klar, womit Christie hier das Wurzel- und Lebensgeflecht der Bäume auf das der Menschen überführt. Das ist schrifstellerisch gut gelungen und bereitet durch die Montagetechnik das ein ums andere Mal erstaunliche Freude. Auch die Übersetzung von Stephan Kleiner überzeugt.

Fazit

Das Leben der Bäume ist ein mehr als empfehlenswerter Roman, dem man angesichts seiner im innewohnenden Qualität auch den kitschigen Titel verzeiht. Das Buch ist ein klug konstruierter Familienroman, der zugleich eine Hymne auf die Bäume darstellt. Formal toll durchkomponiert mit einer Botschaft versehen, deren Penetranz sich im Buch dann wohltuend abmildert, sodass am Ende eine klare Leseempfehlung von mir steht. Nicht nur zur Weihnachtszeit ein guter Geschenktipp.


  • Michael Christie – Das Flüstern der Bäume
  • Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-328-60079-4 (Penguin)
  • 560 Seiten. Preis: 22,00 €
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Zora del Buono – Die Marschallin

Zora del Buono schreibt über Zora del Buono. Wer nun allerdings ein weiteres Werk des boomenden Genres Autofiktion erwartet, sieht sich schnell getäuscht. Vielmehr nähert sich die Autorin in Die Marschallin ihrer eigenen Großmutter literarisch an. Ein Buch, dessen starke zweite Hälfte die Mängel der ersten wettmacht.


Wenn es um die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geht, steht uns die Bundesrepublik lebhaft vor Augen. Dass auch andere Regionen mit einer mindestens ebenso wechselhafte Geschichte aufwarten können, das verlieren wir leicht aus dem Blick. Besonders der ehemalige Ostblock mit seinen sich verändernden Ländergrenzen und ethnischen Spannungen ist ein spannendes Beispiel, das wir hier in Zentraleuropa nicht immer auf dem Schirm haben. Wie sehr die Verwerfungen ganze Generationen geprägt haben, davon erzählt Zora del Buonos Roman Die Marschallin. Darin erzählt sie die wechselhafte Geschichte ihrer eigenen Großmutter. Zeit ihres Lebens besaß diese nacheinander fünf Pässe, die ihre verschiedenen Nationalitäten dokumentierten. Aufgewachsen in den 1910er Jahren in Bovec, einem kleinen Ort im heutigen Slowenien, lebte sie ein Leben, das auch Stoff für ein ganzes Dutzend Romane ergeben würde.

Eine Kindheit mit vier Brüdern in Slowenien, ein Umzug nach Italien, die Hochzeit mit dem Arzt Pietro del Buono. Ein eigens geplantes Haus, drei Söhne. Der Aufstieg Mussolinis, der Aufstieg Titos an die Macht. Die Entstehung von Jugoslawien, Partisanenkriege, tragische Unglücksfälle en masse. In Zora del Buonos Leben spiegelt sich die ganze wechselvolle Geschichte dieses so besonderen Jahrhunderts.

Das wechselvolle Leben der Marschallin

Zora del Buono - Die Marschallin

Zora del Buono erzählt davon weitestgehend chronologisch und beginnt im Mai 1919 mit der Geschichte ihrer Großmutter. Sie springt von dort aus durch die Jahre, verfolgt Zoras Lebensgeschichte ebenso wie die ihres Mannes und der Kinder.

Bis nach El Shatt auf der Sinaihalbinsel in Ägypten entführt die Geschichte. Dorthin flohen im Zweiten Weltkrieg viele Italiener vor Mussolini. 17 Kapitel sind es, in denen Zora del Buono die Lebensgeschichten ihrer Familie bis hinein in das Jahr 1948 erzählt. Hiernach bricht die Erzählung ab, um mit einem erzählerischen Perspektivwechsel hin zu Zora selbst 1980 zu enden. Im Pflegeheim räsoniert sie über ihrer Geschichte und die Schicksale ihrer Familienmitglieder. Viele erzählerische Fäden werden hier zuende geführt, die im ersten Teil des Buchs noch in der Luft hingen.

Tatsächlich rundet auch erst dieser Teil das ganze Buch, das zuvor viele Themen angerissen hat, aber kaum Raum für eine zufriedenstellende Ausarbeitung bot. So ist da zum einen ja schon die Rasanz, mit der Zora del Buono erzählt. Auf nicht einmal 300 Seiten werden die 29 Jahre Familien- und Zeitgeschichte in Hochgeschwindigkeit abgehandelt. Zum anderen weist dieses Buch eine unglaubliche Fülle an Schauplätzen, Themen und Personal auf. 50 Personen führt alleine schon das Dramatis personae auf. Dann sind da auch noch jede Menge Themen wie Kommunismus, Partisanenkriege, Homosexualität, die Frage, was eine Familie ausmacht, Medizin, Tito, das Leben Antonio Gramscis und dergleichen mehr. Zu viele Themen für 300 Seiten, die so auch leider nur oberflächlich behandelt werden.

Der zweite Teil heilt den ersten

Dieser erste Teil stellte mich aufgrund dieser Hast und Überladenheit überhaupt nicht zufrieden. Zwar verfügt dieser über wirklich interessante Anlagen, allerdings ist er alles andere als rund. Umso besser, dass der zweite Teil die Mängel des ersten heilt. So ist Zora del Buono hier als hochbetagte Dame eine Ich-Erzählerin, die ich zuvor dem Buch schon gewünscht hätte. Wie sie davon erzählt, welche Schicksalsschläge sie und ihre Familie erlitten, unterbrochen immer wieder von kurzen Miniaturen über die Tode von Familienmitgliedern, dann rührt das doch an. Die Marschallin, die zuvor ihre Kinder die Isonzoschlachten nachspielen ließ oder Waffen schmuggelte, wird hier zur gesetzten und desillusionierten Generalin a.D., der die Zügel doch irgendwann aus der Hand glitten.

So ist Die Marschallin ein Buch, das etwas mehr Fleisch auf den erzählerischen Rippen benötigt hätte. Zwar versöhnt das Ende, aber bis dahin braucht es einen Durchhaltewillen. Ein Familienroman mit einem spannenden Setting, in dem allerdings mehr drin gewesen wäre.


  • Zora del Buono – Die Marschallin
  • ISBN 978-3-406-75482-1 (C.H. Beck)
  • 382 Seiten, 24,00 €
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Carmine Abate – Der Hügel des Windes

Der Barilla-Effekt

Immer wenn es um italienische Literatur geht, kommt mir schnell etwas unter, das ich den Barilla-Effekt getauft habe: Liebevolle Nonnas, die ihre Kinder verhätscheln und bei denen immer ein Topf mit Spaghetti ragú auf dem Herd blubbert. Kleine Rabauken, die sich durch halbverfallene Gässchen jagen. Ein sonnengefluteter Dorfplatz mit Campanile und einer Cafeteria, die den Mittelpunkt des Dorfes bilden. Postkartenkitsch also, durch Film und Werbung zum Klischee für die Ewigkeit geronnenen.

Viele Bücher aus Italien perpetuieren diese Bilder und sorgen damit zwar für hohe Absatzzahlen und Wohlfühlatmosphäre, die findige Werber gerne auch als Urlaub in Buchform anpreisen. Aber Literatur, die hinter die Kulissen schaut und sich für ihre Figuren inklusive möglicher Abgründe interessiert, das sind diese Bücher zumeist nicht.

Ein Buch, das ab und an dem Barilla-Effekt erlegen ist, nichtsdestotrotz aber auch gut lesbare Unterhaltung bietet, ist der Roman Der Hügel des Windes von Carmine Abate.

Dieser Roman ist in Kalabrien angesiedelt und hat einen unbestreitbaren Helden, nämlich den Rossarco. So haben die Bewohner der Region jenen Hügel getauft, der im Buch zum Fixpunkt für Generationen wird. Ein Archäologe vermutet die antike Stadt Krimisa unter dem Hügel. Andere wollen den Hügel mit Windrädern oder Hotels bebauen. Doch die Familie von Arcuri weiß sich zu wehren und hegt und pflegt den Hügel über Generationen hinweg. Und diese Geschichte der Generationen erzählt Abate in seinem Roman – drei Schichten Arcuris auf 314 Seiten (übersetzt von Esther Hansen).

Weniger Schicksal, mehr Dolce Vita

Der Tonfall von Abate ist recht einfach gehalten und auch die Erzählweise selbst ist konventionell gestaltet. Trotz einiger Unglücke, die die Familie Arcuri treffen, verpasst es Abate, seinem Roman Tiefgang zu verleihen. So berühren die Schicksalsschläge nicht, da diese zugunsten einer positiven La-Dolce-vita-Erzählhaltung nicht genauer verfolgt werden. Das ist schade, lässt aber andere Leser*innen genau deswegen glücklich mit diesem Titel werden. Denn wer den Barilla-Effekt mag und Bücher aus Italien genau deswegen schätzt, der dürfte hier sein Buch gefunden haben. Liebevoll schildert Abate den Wind, der auf dem Rossarco weht sowie die Flora und Fauna, die den Reiz dieser süditalienischen Landschaft ausmacht.

So ist das Buch gut konsumierbare Unterhaltung, die nicht schmerzt und zu einem kalabrischen Kurzurlaub einlädt. Zerstreuung in Buchform ohne wirklich Tiefgang – leicht und locker wie ein Sommer am Mittelmeer.

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Joël Dicker – Die Geschichte der Baltimores

Die Baltimores und die Montclairs

Den Schriftsteller Marcus Goldman dürften sehr viele Leser aus dem Debüt von Joël Dicker kennen. Er fand im ersten Buch des Schweizer Autors Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert heraus (und war damit völlig zurecht wochenlang an der Spitze der Spiegel-Bestsellerlisten zu finden). Nun ist er zurück und gräbt diesmal in seiner eigenen Familiengeschichte, statt in der seines schriftstellerischen Mentors Harry Quebert. Wie er dies tut, beziehungsweise wie das von Joël Dicker arrangiert wird, ist eine Freude zu lesen.

Dicker

Das Buch dreht sich um die Familiengeschichte der Goldman-Familie, von der es Ableger in den Städten Baltimore und Montclair gibt. Während die Montclairs (zu denen auch Marcus gehört) vor sich hin wursteln und ein Leben abseits von Glanz, Glamour und Geld führen, sind die Baltimores der komplette Gegenentwurf zu diesem bürgerlichen Leben. Die Familie um den Anwalt Saul Goldman hat keine materielle Sorgen, wird von Marcus‘ Großeltern bevorzugt und scheint bei der Verteilung des Glücks das große Los gezogen zu haben.

Der Zusammenhalt zwischen den Familien bildet die unverbrüchliche Goldman-Gang, bestehend aus Hillel, Woody und Marcus Goldman. Die Goldman-Cousins halten zusammen wie Pech und Schwefel und verbringen die Ferien stets miteinander. Gemeinsam werden die Jungs aus der Goldman-Gang älter, kommen in die Schule, verlieben sich und beginnen ihre eigenen Leben, wobei die Verbindung nie ganz abreißt. Doch dann droht eine Katastrophe, die Baltimores und die Montclairs auf ewig auseinander zu reißen …

Joël Dickers zweiter Streich

Konnte es Joël Dicker gelingen, das zu wiederholen, was er bei Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert schon einmal geschafft hatte – nämlich mich in seine amerikanische Vorstadtwelt hineinzusaugen und erst hunderte Seiten später freizugeben? Nach dem Ende des zweiten Streichs kann ich konstatieren: Ja!

Auch wenn ich das Wort süffig im Zusammenhang mit Büchern eigentlich vermeide, hier würde ich eine Ausnahme machen. Gelungen schafft es Dicker, den Leser schon mit den ersten Seiten abzuholen und ihn neugierig zu machen auf die Geheimnisse der Montclairs und Baltimores. Dieser liebevoll gestaltete Band weist schon durch das erneut an Edward Hopper erinnernde Titelbild auf das amerikanische Setting hin, das im Buch herrschen wird. Es gelingt dem Schweizer, eine amerikanische Welt im Kopf entstehen zu lassen, die auch eine wenig an die Welt von Franzen, Roth oder Begley erinnert, sich dabei aber auch eine gewisse Leichtigkeit bewahrt.

Es ist schon verrückt: Da braucht es einen französischsprachigen jungen Schweizer, der eigentlich Banker ist, um den überzeugendsten amerikanischen Familienroman der letzten Zeit vorzulegen. Wer seine Freude an Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert hatte, der sollte auch diesem Buch eine Chance geben. Man wird es kaum bereuen!

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