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Peter Heller – Die Lodge

So ein Blog hat auch sein Gutes. So dachte ich, mit Peter Heller einen ganz neuen Autoren entdeckt zu haben, nur um dann festzustellen, dass er bereits seit einigen Jahren auf dem Blog hier vertreten ist. So hatte ich sein dystopisches Debüt The Dog Stars im Jahr 2013 unter dem Titel Das Ende der Sterne wie Big Hig sie kannte tatsächlich schon gelesen und besprochen, wie ich bei einem Blick ins Archiv feststellen durfte. Die damalige Erstbegegnung mit Peter Heller war mir – auch eingedenk der verstrichenen Zeit von neun Jahren – so gar nicht mehr präsent.

Erst vor zwei Jahren war Peter Heller wieder auf meinem Radar aufgetaucht, damals veröffentlichte der Verlag Nagel & Kimche den Outdoor-Thriller Der Fluss um zwei Freunde, die eine Kanutour auf dem Maskwa River in Nordkanada unternehmen wollen. Die Lodge ist die Fortsetzung des Vorgängerbandes, die mit 272 Seiten exakt die gleiche Lauflänge wie der erste Outdoor-Thriller aufweist, für dessen Lektüre man Der Fluss allerdings nicht gelesen haben muss. Nach den Geschehnissen in jenem Buch ist es nun nur noch Jack, der im Mittelpunkt steht.

Ein Job auf einer exklusiven Fishing-Lodge

Dieser möchte es etwas ruhiger angehen und hat auf einer exklusiven Fishing-Lodge eine Stelle als Guide erhalten. Den restlichen Sommer über bis zum Beginn des Winters dauert sein Engagement, das äußerst gut dotiert ist:

Die Lodge sei ab dem zwanzigsten August ausgebucht, hatte ihm der Manager gesagt. Sie würden entweder am einunddreißigsten Oktober schließen oder wenn es zu sehr schneite, je nachdem, was zuerst kam. Jack würde einen Angler pro Tag führen, höchsten zwei, aber nicht mehr. Absolutes Luxusangeln. Zweihundert Dollar pro Tag plus Trinkgeld, alle zehn Tage einen Tag frei, es sei denn, er verzichtete darauf. Ein schönes Sümmchen. Weniger, als er auf einen Driftboot auf dem Colorado verdienen konnte, aber dafür inklusive Lost, Logis und [zwei Drinks oder zwei Bier am Abend].

Peter Heller – Die Lodge, S. 10
Peter Heller - Die Lodge (Cover)

Das lässt sich nicht schlecht an, sodass Jack den Job gerne antritt. Allerdings beunruhigt ihn das hermetisch abgeschlossene Gebiet der Lodge etwas. Er braucht einen Code, um die Lodge zu verlassen, Waffen muss er abgeben, auf dem angrenzenden Grundstück lebt ein schießwütiger Nachbar, der bei unerlaubtem Eindringen auf sein Gebiet zur Flinte greift. Auf einem anderen Grundstück laufen Mastiffs frei herum. Und als Jack das erste Mal zum Angeln aufbricht, entdeckt er unter einer Brücke eine Kamera, die ihn beobachtet.

Zusammen mit seinem Gast, der Sängerin Alison, versucht Jack langsam hinter das Geheimnis der Lodge zu kommen. Welche Geheimnisse verbergen die anderen Gäste? Wozu dient die Videoüberwachung? Und welches Spiel spielt der Manager der Lodge?

Ein geradliniger Outdoor-Thriller

Peter Heller hat einmal mehr einen geradlinigen Outdoor-Thriller geschrieben, der das Angeln in der wilden Natur mit dunklen Machenschaften kreuzt, die der findige, waffenversierte und äußerst kernige Held Jack nach und nach aufdeckt. Vom friedlichen Angeln in der Idylle bis zu einem finalen Survivalthriller reicht der Bogen, den Peter Heller spannt. Dabei passiert alles vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie. Die Menschen tragen Masken, strecken sich nur Ellenbogen oder die Fäuste zur Begrüßung hin – und von der Ferne dräut schon wieder eine weitere Pandemie…

Das Buch liest sich schnell, kann durch die ausgiebigen Naturschilderungen überzeugen und passt sich damit in eine ganze Reihe ähnlicher Bücher ein, beispielsweise die Erzählungen von Taylor Brown, Claire Fuller oder Michael Christie. Ein Thriller, wie gemacht, um ihn in einem Zug zu lesen. Eine imposante Kulisse, ein uramerikanischer Held, dunkle Machenschaften. Peter Heller liefert, was von ihm erwartet wird und knüpft damit an seinen Erfolg Der Fluss an.

Dabei war es alleine das Bilderberger-Eliten-Verschwörungsnarrativ, das Peter Heller in Die Lodge bedient, das mich in seiner Einfachheit und Abgedroschenheit etwas störte. Ansonsten gibt es bei diesem geradlinigen Thriller wenig zu meckern. Und da Nature Writing in Verbindung mit Krimihandlungen gerade sowieso boomt (man denke nur an Delia OwensDer Gesang der Flusskrebse), rechne ich auch diesem Buch durchaus wieder gute Chancen auf dem Buchmarkt aus.


  • Peter Heller – Die Lodge
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Marlene Fleißig
  • ISBN 978-3-7556-0008-4 (Nagel & Kimche)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage

Romane, die vom Überleben in der Natur erzählen, liegen im Trend. Das zeigen viele der Neuerscheinungen in letzter Zeit. Da wäre etwa Gabriel Tallents Mein Ein und Alles, in dem der Autor von einem Mädchen und dessen Vater erzählt, der sich als Prepper auf das Überleben in der Natur vorbereitet und sein Kind als Waffe erzieht und prägt. Diesem mit zu viel literarischen Geschmacksverstärkern, krasser Explizität und Fehltönen aufgeladenen Roman folgten eine ganze Riege an thematisch ählich gelagerten Romanen.

Mick Kitson tat dies mit Sal, und machte seinen Job deutlich besser. Auch C. H. Beck brachte eine Überlebensgeschichte in der Wildnis auf den Markt. Diese lieferte Rye Curtis mit dem Titel Cloris und erzählte von der gleichnamigen Seniorin, die sich nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der Bitterroot Mountains durchschlägt. Während eine alkoholkranke Rangerin die Seniorin sucht, kämpft sich diese mithilfe eines mysteriösen Helfers durch die unwirtliche Natur.

Auch könnte man Michael Crummeys Schilderung des Überlebenskampfes eines Geschwisterpaars vor der rauen Kulisse Neufundlands um 1800 in diese Reihe stellen. Oder in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt wäre Edan Lepuckis California zu nennen. Viele Bücher also, zu denen sich nun auch noch Claire Fullers Roman Unsere unendlichen Tage gesellt. Ein Roman, der viele Themen und Motive der eingangs erwähnten Bücher in sich vereint.

Trotzdem sollte man dieses Buchs nicht der billigen Kopie oder einer lieblosen Amalgamierung von bereits Bestehendem bezichtigen. Denn dieser Roman ist das Debüt Claire Fullers, der eigentlich schon 2015 erschien, nun aber erstmals auf Deutsch vorliegt. Ein Buch, das viele der späteren Themen der Autorin vorwegnimmt und das vom Überleben in der Bergwelt Bayerns erzählt.


Liest man Unsere unendlichen Tage, so ist man erstaunt, wie viele Motive und Themen sich hier finden, die später in den Romanen der Britin wichtig werden sollten.

Sie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Peggy, die in den 70ern als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter aufwächst. Ihre Mutter Ute ist eine gefeierte Konzertpianistin, die sogar den renommierten Chopin-Wettbewerb gewonnen hat. Ihr Vater ist das, was wir heute als Prepper bezeichnen. Ein Apokalyptiker, der sich mittels hauseigenem Atombunker, Listen und Vorräten auf das Überleben nach einem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereitet. Als ihre Mutter zu einer längeren Konzertreise aufbricht, beginnt Peggys Vater zusammen mit ihr eine Reise.

Eine Reise, die sie über den Ärmelkanal führen wird, quer durch verschiedene Länder, ehe die beiden einer Bergregion ankommen, in der die Bewohner Bajuwarisch sprechen, wie ihr Vater es Peggy erklärt. Er ist von der Idee einer hutta besessen, die sich dort irgendwo in den Bergen befinden soll. Nach einiger Suche stoßen die beiden tatsächlich auf die Überreste einer Hütte, die zum Unterschlupf der beiden für die nächsten acht Jahre werden soll. Die Menschheit, so erklärt es Peggy ihr Vater, ist vernichtet worden, hinter den Gipfeln und einem reißenden Fluss befindet sich das Nichts. Nur sie beiden hätten überlebt, so geht die Geschichte ihres Vaters, die Peggy zunächst nicht hinterfragt.

Vom Überleben in der Natur

Claire Fuller - Unsere unendlichen Tage (Cover)

Immer wieder springt Claire Fuller in ihrem Roman zwischen den Ereignissen in jenen acht Jahren und der Gegenwart des Jahres 1985 hin- und her. Peggy ist in der erzählten Gegenwart zurück im Elternhaus – inzwischen hat sie sogar einen Bruder bekommen. Doch der ganze Umfang der damaligen Ereignisse und die Hintergründe liegen noch im Nebel. Erst allmählich dröselt sie ihre Geschichte auf, verbindet Erkenntnisse aus der Gegenwart mit Zurückliegendem.

Unsere unendlichen Tage ist eine Geschichte, die vom Überleben erzählt und die die Natur mitsamt all ihrer Reize und Gefahren ausleuchtet. Stark, wie Claire Fuller die archaische Bergwelt inszeniert. Der reißende Fluss, die reichhaltige Flora und Fauna, aber auch die tödlichen Gefahren durch lange Winter und Waldbrände. Fuller zeichnet das Überleben in der Natur in sämtlichen Schattierungen.

Dass die Plausibilität des Debüts manchmal etwas auf der Strecke bleibt, möchte ich hier nicht verschweigen. Dass Peggy und ihr Vater unbemerkt in dieser Hütte acht Jahre leben sollten, das scheint mir auch im Bayerischen Wald der 70er Jahre etwas übertrieben, vor allem eingedenk der Tatsache, dass der Bayerische Wald seit dem Jahr 1970 Nationalpark ist. Zwei Menschen in einer Hütte, unbemerkt von Landvermessern, Waldarbeitern oder Jägern, da scheint doch die Realität mit der Fiktion zu kollidieren.

Nicht immer ist dieses Erählen ganz präzise, manchmal bleiben Leerstellen, auch die Auflösung deutet sich schon etwas zu klar an. Die psychologische Ausdeutung des Vaters bleibt durch den kindlichen Blick Peggys über lange Zeit auf der Strecke und wird genauso wie die räumliche Verortung des Schauplatzes erst sehr spät angegangen. Dennoch hat das alles Wucht – für ein Debüt läuft der Erzählmotor erstaunlich rund und kraftvoll.

Viele spätere Themen sind schon angelegt

Blickt man nun auf diesen Erstling zurück, ist es auch faszinierend, wie viele Themen aus den folgenden Werken Claire Fullers hier schon angelegt sind.

Da ist zunächst die Kultur als Überlebenstechnik, wie sie später für Ingrid in Eine englische Ehe essenziell wird. Wo Ingrid die Literatur zum Leitstern der eigenen Existenz wird, ist es in Unsere unendlichen Tage die Musik in Form eines selbstgebauten Klaviers, das sich Peggy und ihr Vater ausgedacht haben. Darauf lernt Peggy das Klavierspiel und kehrt immer und immer wieder zu Lizsts La Campanella zurück, das ihr Kraft und Trost spendet.

Doch nicht nur die Kultur ist schon hier als Motiv zu entdecken, auch die Natur spielt immer wieder im Schreiben Claire Fullers eine Rolle, etwa wenn das Herrenhaus in Bittere Orangen langsam von der Natur zurückerobert wird, während die Beziehungen der Protagonist*innen ebenfalls großen Veränderungen unterworfen sind.

Auch die Frage weiblicher Selbstbestimmung ist ein Motiv, das sowohl Unsere unendlichen Tage als auch die späteren Romane der Autorin prägt. Das Erkennen eigener Bedürfnisse, die Ausprägung eines eigenen Charakters gegen männliche Widerstände, das ist etwas, das die Autorin merklich umtreibt.

Schön, wie man diese ganzen Motive und ihre Entwicklung nun dank des abermals von Susanne Höbel ins Deutsche übertragenen Debütromans verfolgen kann. Hier ist eine Autorin zu entdecken, die sich mit jedem Buch neu erfindet, in ihren übergreifenden Motiven aber treu bleibt – und das auf einem erfreulich hohem Niveau.

Fazit

Trotz aller Mängel und kleinen Unwuchten im Erzählen ist Unsere unendlichen Tage ein beeindruckendes und nachhallendes Buch. Für ein Debüt schnurrt der Erzählmotor hier bereits sehr rund. Claire Fuller gelingt ein Buch, das vom Überleben in der Natur und der Rettungskraft der Musik erzählt. Im Konzert der eingangs erwähnten Überlebenstitel kann Fullers Roman absolut bestehen.

Schön, dass dieses nachgereichte Debüt nun endlich auf Deutsch vorliegt. Claire Fuller wäre größerer Ruhm zu gönnen – ihr vielfältiges Schreiben verdient es!


  • Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-492-05828-5 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michael Christie – Das Flüstern der Bäume

Ein Roman wie ein Schuss mitten durch einen mächtigen Baum: der Kanadier Michael Christie erzählt in Das Flüstern der Bäume von vier Generationen natur- und waldverbundener Menschen. Eine opulente Familiensaga mit aktuellen Themen, bestechend montiert.


Gesetzt den Fall, man schösse auf einen dicken Baum. Träfe man den Baum genau in der Mitte und hätte die Kugel genug Kraft, sie würde ungefähr folgende Reise erleben: zunächst wäre da die Rinde, die die Kugel durchschlägt. Es folgt das Kambium, das die Kugel passiert, ehe sie auf ihrer Reise durch den Baum das Splintholz erreicht. Immer weiter dringt sie auf ihrer Reise durch den Baum vor, durchmisst Jahresring um Jahresring, ehe sie schließlich in das Kernholz des Baumes vordringt. Dort passiert sie das Herz des Baums, ehe sie die Reise dann wieder in umgekehrter Reihung aus dem Baum hinaus antritt.

Genau auf die gleiche Weise montiert Michael Christie seinen Roman, der das erzählerische Konzept schon in einem Schaubild zu Beginn des Buchs präsentiert. Da ist der Querschnitt eines Baumes zu sehen, der von einem Zeitstrahl durchkreuzt wird. Der Zeitstrahl setzt 2038 an, um dann ins Innere des Baums vorzudringen, das 1908 seinen Endpunkt erreicht. Danach geht die Reise wieder wie gewohnt vorwärts weiter, um dann wiederum im Jahr 2038 seinen Abschluss zu finden.

Das erzählerische Konzept Michael Christies (Quelle: „Das Flüstern der Bäume“, Penguinverlag)

Erzählen in Schichten

Diese interessante Erzählweise, die so auch ein Stück weit an eine russische Matruschka-Puppe erinnert, entfaltet bei Michael Christie einen ganz eigenen Charme. Je weiter er in der Zeit zurückgeht, umso stärker wird sein Erzählen, das eigentlich mit einem Zusammenprall im Jahr 1908 beginnt. Dieser Zusammenprall bindet das Schicksal der Kinder Everett und Harris Greenwood aneinander, die beide der Unfall zu Waisen macht. In der Folge gelingt Harris eine Karriere als Holzmagnat, der mit der Abholzung von Bäumen und der Ausbeutung seiner Mitarbeiter ein Vermögen macht. Everett zieht in den Ersten Weltkrieg und wird in der Folge zu einem Herumtreiber. Erst mit dem Zufallsfund eines Babys findet Everett seine Bestimmung.

Drei Generationen Greenwoods werden folgen. Eine Aussteigerin, die sich vom Erbe ihrer Eltern lossagt. Ihr Sohn, der als Handwerker wieder mit Holz zu tun bekommt. Und als äußerte Schicht der Matruschka-Puppe Jacinda. Sie ist im Jahr 2038 nach Kanada geflüchtet, um zu Überleben. Das sogenannte Welken hat große Teile der Erde nahezu unbewohnbar gemacht. Sie arbeitet als Führerin nun auf einer Insel vor der Küste Kanadas, einem Resrevat, in dem die letzten großen Bäume Nordamerikas zu finden sind. Mit ihr fängt im Buch alles an, und mit ihr wird alles enden.

Eine hochinteressante Kompositionsform

Die Kompositionsform, die Michael Christie für seinen Roman gewählt hat, ist bestechend. Dabei zählt für mich die äußerte Erzählschicht um Jane zu den schwächeren Seiten dieses Buchs. Denn der der erhobene pädagogische Zeigefinger ist schon sehr deutlich, wenn Christie in düsteren Farben ausmalt, wohin der fehlende Umweltschutz und das Welken in der Zukunft geführt haben. Diese Volksschulhaftigkeit von Christies Agenda erinnert doch auch sehr an das Sendungsbewusstsein der Bestseller Maja Lundes.

Michael Christie - Das Flüstern der Bäume (Cover)

Doch je mehr weiter Christie mit seinem Erzählen in der Zeit zurückreist, umso dichter und runder wird seine Familiensaga. Besonders schön die Tatsache, dass sich Christie für seine Erzählung nicht nur für ein durchgehendes Erzählkonzept, sondern für literarische Varianz entschieden hat. So bekommt jede der vier Generationen Greenwoods einen eigenen Erzählstil zugesprochen. Währendd die Geschichte um Everett und Harris Greendwood von einem „Wir“ erzählt wird, ist es die Erzählung um den Schreiner Liam, die eigentlich fast nur über Rückblenden erzählt wird.

Die große Kunst an diesem Buch ist die Tatsache, dass sich die kleinen Mosaiksteinchen, die Christie im Lauf seiner vier Generationen verstreut, immer klarer zu einem Bild verfugen. Manche Andeutungen oder Besonderheiten der Figuren werden erst durch die Lebensgeschichten der anderen Figuren klar, womit Christie hier das Wurzel- und Lebensgeflecht der Bäume auf das der Menschen überführt. Das ist schrifstellerisch gut gelungen und bereitet durch die Montagetechnik das ein ums andere Mal erstaunliche Freude. Auch die Übersetzung von Stephan Kleiner überzeugt.

Fazit

Das Leben der Bäume ist ein mehr als empfehlenswerter Roman, dem man angesichts seiner im innewohnenden Qualität auch den kitschigen Titel verzeiht. Das Buch ist ein klug konstruierter Familienroman, der zugleich eine Hymne auf die Bäume darstellt. Formal toll durchkomponiert mit einer Botschaft versehen, deren Penetranz sich im Buch dann wohltuend abmildert, sodass am Ende eine klare Leseempfehlung von mir steht. Nicht nur zur Weihnachtszeit ein guter Geschenktipp.


  • Michael Christie – Das Flüstern der Bäume
  • Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-328-60079-4 (Penguin)
  • 560 Seiten. Preis: 22,00 €
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Charlotte McConaghy – Zugvögel

Und wir schauen in den Himmel
denn bald ist es soweit
In jedem Jahr auf diesem Platz zur gleichen Zeit
bilden Zugvögel ein V am Firmament
und wir schauen ihnen nach bis man das V nicht mehr erkennt

Thees Uhlmann – Zugvögel

Doch was passiert, wenn man am Himmel kein Vögel mehr beobachten kann, die in V-Formation gen Süden fliegen? Wenn die meisten Tiere auf der Erde verschwunden sind? Woran soll man noch festhalten? Diese Frage stellt sich auch Franny. Sie hat die letzten Küstenseeschwalben aufgestöbert und will deren Zug nachverfolgen. Denn Küstenseeschwalben gehören zu den belastbarsten Zugvögeln, legen in ihrem Leben den Weg von Arktis zu Antarktis mehrfach zurück. In ihrem Leben fliegen die Tiere eine Strecke von über 2,4 Millionen Kilometer, das ist eine Strecke, der der dreifachen Distanz zum Mond entspricht.

Küstenseeschwalben in Patagonien (By PMATAS – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48578659)

Wenn es also robuste und überlebensfähige Tiere gibt, dann die Küstenseeschwalben. Und so beringt Franny drei Tiere mit einem Peilsender und will ihrem Kurs folgen. Vielleicht gibt es an dem Ort ihrer Brut ja noch mehr Tiere?

Franny überzeugt den Kapitän eines Fischerbootes, dem Signal der Tiere zu folgen. Denn dort wo die Küstenseeschwalben sind, muss es auch Fische geben. Für die Crew des Kutters ein entscheidendes Argument, schließlich liegen die letzten Fangerfolge schon wieder eine ganze Weile zurück. Wie die anderen Tiere, so sind auch die Fische größtenteils verschwunden. Eine Reise beginnt, die einen unvorhergesehenen Verlauf nehmen wird.

Zugvögel – ein gutes Buch

Manchmal kann ein Urteil über ein Buch ganz einfach ausfallen. Zugvögel ist ein Buch, das ein solches Urteil erlaubt. Das bedeutet im konkreten Falle: dieses Buch ist wirklich gut! Mit ihrem Debüt ist Charlotte McConaghy ein stimmiges Debüt gelungen, das mich überzeugt hat.

Charlotte McConaghy - Zugvögel (Cover)

In diesem Roman findet vieles zusammen. Eine komplexe Protagonistin, deren Hintergrundgeschichte sich erst langsam entfaltet. Ein dystopisches Setting, das aber nicht brachial aufgemotzt wird, und das für die eigentliche Handlung nur die Grundierung darstellt. Themen wie Naturschutz oder Selbstfindung, die die Geschichte bereichern, aber nicht erdrücken. Und eine Heldin, die widersprüchlich ist und die die Sympathie der Lesenden ein ums andere Mal mit ihrem Verhalten strapaziert.

Trotz der vielen Rückblenden und Zeitsprünge entwickelt Zugvögel einen Sog und ein Tempo, der in die Geschichte rund um die Küstenseeschwalben und Frannys Lebens- und Liebesgeschichte hineinzieht. Nature Writing, Liebe, Umweltschutz – dieses Buch vereint viele zeitgeistige Themen. Es würde mich nicht wundern, wenn diesem Roman ein großer Erfolg beschieden ist. Übersetzt wurde es im Übrigen von Tanja Handels.


  • Charlotte McConaghy – Zugvögel
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-10-397470-6 (S. Fischer)
  • 398 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rye Curtis – Cloris

Es gibt hilfreichere Dinge als ein paar Karamellbonbons, einen Stiefel und eine Bibel, um damit einen Flugzeugabsturz zu überleben. Doch genau damit muss die Seniorin Cloris Waldrip im gleichnamigen Roman von Rye Curtis überleben. Dieser erzählt in seinem Debüt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen, dem Überleben in der Wildnis und dem, was uns durchhalten lässt, wenn alles auswegslos scheint (übersetzt von Cornelius Hartz).


Eigentlich eine schöne Idee, die der Ehemann von Cloris Waldrip da hatte. Das texanische Paar wollte einen Rundflug über die Bitterroot Mountains im Nordwesten der USA unternehmen. Doch dann stürzt das Kleinflugzeug ab. Ihr Mann und der Pilot sterben noch an der Unfallstelle. Wie durch ein Wunder überlebt allerdings Cloris und muss sich nun in der Wildnis der größten Aufgabe ihres Lebens stellen – der zu überleben. Die alte Dame nimmt den Kampf an und macht sich auf den Weg zurück in die Zivilisation, bewaffnet mit einer Bibel, Karamellbonbons und einem Stiefel ihres verstorbenen Mannes.

Derweil verbeißt sich die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis in die Suche nach Cloris. Während die Öffentlichkeit und auch Lewis‘ Kollegen davon ausgehen, dass auch Cloris den Absturz nicht überlebt hat und in der Wildnis verstorben ist, folgt Debra ihren eigenen Instinkten. Zusammen mit einem Suchtrupp, einem Flugzeugpiloten und einer stets mit Merlot gefüllten Trinkflasche organisiert sie die Suche nach Cloris.

In der Wildnis der Bitterroot Mountains

Es sind zwei ungewöhnliche Heldinnen, die sich Rye Curtis für sein Debüt ausgesucht hat. Während Cloris uns ihr Schicksal per Nacherzählung schildert, unterbricht immer wieder die Gegenperspektive in Form von Debras Suchaktion die Erzählung. Die beiden Figuren nähern sich in der Wildnis der Bitterroot Mountains immer näher an. Doch da ist auch noch eine dritte, prominente Figur, die in der unzugänglichen Bergregion umherstreift. Es handelt sich um einen maskierten Mann, der Cloris immer wieder beisteht und ihr Überleben dort droben am Berg sichert. Wer ist dieser Mensch? Eine Erscheinung oder eine ganz weltliche Figur?

Rye Curtis - Cloris (Cover)

Lange Zeit ist nicht sicher, worum es sich bei dem Fremden handelt (wenngleich die meisten Leser*innen recht früh eine Ahnung haben dürften). Nicht nur diese Figur wird sich am Ende als sperrig und nicht so leicht einordenbar erweisen. Auch Cloris und Debra sind zwei Figuren, die durchaus Ecken und Kanten besitzen. So erinnerte mich persönlich die Merlot trinkende Rangerin stark an einge von Frances McDormand verkörperte Frauenfiguren, etwa Mildred Hayes in Three Billboards outside Ebbing, Missouri.

Wie es Rye Curtis gelingt, sich die Perspektiven der beiden Frauen anzunehmen, das ist für einen derart jungen Schriftsteller wirklich beeindruckend. Er verleiht den beiden Frauen unterschiedliche und überzeugende Stimme. Auch gelingt es ihm, die Wildnis der Bitterroot Mountains mitsamt der Berglöwen und Unbill der Natur eindrucksvoll einzufangen. Wie die alte Dame Cloris dort kämpft, sich (unterstützt durch den maskierten Mann) durchschlägt, und wie auch Debra Lewis unbeirrt ihr Ziel der Rettung von Cloris unbeirrt verfolgt, das macht dieses Buch so beeindruckend.

Fazit

Gewiss: bequem und glattgezogen ist das alles nicht. Rye Curtis Buch ist gefährlich. So manches Mal ist ein starker Magen vonnöten und gefällig ist Cloris auch nicht immer. Eben ganz genauso, wie es die Natur dort in der Einöde Nordamerikas auch ist. Hier schreibt ein junger Autor mit einer Stimme, die aufhorchen lässt. Ein Buch voller souveräner Frauen im Mittelpunkt, die sich nicht beirren lassen. Literatur der Marke „Originell, kantig, und bleibt im Kopf“.


  • Rye Curtis – Cloris
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-75535-4 (C.H. Beck)
  • 352 Seiten, 24,00 €
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