Tag Archives: Natur

Rye Curtis – Cloris

Es gibt hilfreichere Dinge als ein paar Karamellbonbons, einen Stiefel und eine Bibel, um damit einen Flugzeugabsturz zu überleben. Doch genau damit muss die Seniorin Cloris Waldrip im gleichnamigen Roman von Rye Curtis überleben. Dieser erzählt in seinem Debüt von zwei ganz unterschiedlichen Frauen, dem Überleben in der Wildnis und dem, was uns durchhalten lässt, wenn alles auswegslos scheint (übersetzt von Cornelius Hartz).


Eigentlich eine schöne Idee, die der Ehemann von Cloris Waldrip da hatte. Das texanische Paar wollte einen Rundflug über die Bitterroot Mountains im Nordwesten der USA unternehmen. Doch dann stürzt das Kleinflugzeug ab. Ihr Mann und der Pilot sterben noch an der Unfallstelle. Wie durch ein Wunder überlebt allerdings Cloris und muss sich nun in der Wildnis der größten Aufgabe ihres Lebens stellen – der zu überleben. Die alte Dame nimmt den Kampf an und macht sich auf den Weg zurück in die Zivilisation, bewaffnet mit einer Bibel, Karamellbonbons und einem Stiefel ihres verstorbenen Mannes.

Derweil verbeißt sich die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis in die Suche nach Cloris. Während die Öffentlichkeit und auch Lewis‘ Kollegen davon ausgehen, dass auch Cloris den Absturz nicht überlebt hat und in der Wildnis verstorben ist, folgt Debra ihren eigenen Instinkten. Zusammen mit einem Suchtrupp, einem Flugzeugpiloten und einer stets mit Merlot gefüllten Trinkflasche organisiert sie die Suche nach Cloris.

In der Wildnis der Bitterroot Mountains

Es sind zwei ungewöhnliche Heldinnen, die sich Rye Curtis für sein Debüt ausgesucht hat. Während Cloris uns ihr Schicksal per Nacherzählung schildert, unterbricht immer wieder die Gegenperspektive in Form von Debras Suchaktion die Erzählung. Die beiden Figuren nähern sich in der Wildnis der Bitterroot Mountains immer näher an. Doch da ist auch noch eine dritte, prominente Figur, die in der unzugänglichen Bergregion umherstreift. Es handelt sich um einen maskierten Mann, der Cloris immer wieder beisteht und ihr Überleben dort droben am Berg sichert. Wer ist dieser Mensch? Eine Erscheinung oder eine ganz weltliche Figur?

Rye Curtis - Cloris (Cover)

Lange Zeit ist nicht sicher, worum es sich bei dem Fremden handelt (wenngleich die meisten Leser*innen recht früh eine Ahnung haben dürften). Nicht nur diese Figur wird sich am Ende als sperrig und nicht so leicht einordenbar erweisen. Auch Cloris und Debra sind zwei Figuren, die durchaus Ecken und Kanten besitzen. So erinnerte mich persönlich die Merlot trinkende Rangerin stark an einge von Frances McDormand verkörperte Frauenfiguren, etwa Mildred Hayes in Three Billboards outside Ebbing, Missouri.

Wie es Rye Curtis gelingt, sich die Perspektiven der beiden Frauen anzunehmen, das ist für einen derart jungen Schriftsteller wirklich beeindruckend. Er verleiht den beiden Frauen unterschiedliche und überzeugende Stimme. Auch gelingt es ihm, die Wildnis der Bitterroot Mountains mitsamt der Berglöwen und Unbill der Natur eindrucksvoll einzufangen. Wie die alte Dame Cloris dort kämpft, sich (unterstützt durch den maskierten Mann) durchschlägt, und wie auch Debra Lewis unbeirrt ihr Ziel der Rettung von Cloris unbeirrt verfolgt, das macht dieses Buch so beeindruckend.

Fazit

Gewiss: bequem und glattgezogen ist das alles nicht. Rye Curtis Buch ist gefährlich. So manches Mal ist ein starker Magen vonnöten und gefällig ist Cloris auch nicht immer. Eben ganz genauso, wie es die Natur dort in der Einöde Nordamerikas auch ist. Hier schreibt ein junger Autor mit einer Stimme, die aufhorchen lässt. Ein Buch voller souveräner Frauen im Mittelpunkt, die sich nicht beirren lassen. Literatur der Marke „Originell, kantig, und bleibt im Kopf“.


  • Rye Curtis – Cloris
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-75535-4 (C.H. Beck)
  • 352 Seiten, 24,00 €
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Wo die Flusskrebse singen

Delia Owens – Der Gesang der Flusskrebse

Gerne ist in Rezensionen (meinen eingeschlossen) von atmosphärischen Schilderungen die Rede. Doch was bedeutet das eigentlich? In Delia Owens Debüt Der Gesang der Flusskrebse lässt sich das nahezu in Perfektion beobachten.

Die Hütte lag etwas entfernt von den Palmettopalmen, die sich über Sandwatt bis zu einer Perlenschnur von grünen Lagunen erstreckten, und dahinter, in der Ferne, kam die weite Marsch. Meilenweit widerstandsfähiges Riedgras, das sogar in Salzwasser wuchs, nur unterbrochen von Bäumen, die der Wind nach seinem Belieben gekrümmt hatte. Eichenwald umringte die Hätte auf der anderen Seite und schützte die nächstgelegene Lagune, deren Oberfläche vor Leben schäumte. Salzluft und Möwengeschrei drangen vom Meer durch die Bäume herüber.

Owens, Delia, Der Gesang der Möwen, S. 15

Man meint, förmlich selbst mit durch die Marschlandschaft zu wandern, wenn sie Delia Owens (toll von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzt) so in Szene setzt. Die Atmosphäre überträgt sich in diesem Buch durch die präzise geschilderten Landschaftsbeschreibungen, die unter anderem den Reiz dieser Erzählung ausmachen. Zusammen mit der jungen Kya durchfährt man Kanäle, beobachtet Flora und Fauna und ist mit ihr weit draußen in der Natur, dort wo die Flusskrebse singen. So hat es ihr zumindest ihre Mutter erzählt, denn erst wenn man sich alleine und ungestört in die Natur begeben hat, dann hört man ihn vielleicht, den Gesang der Flusskrebse, draußen in den Marschen North Carolinas.

In den Marschen North Carolinas

Doch von ihrer Mutter bleibt Kya außer dieser Weisheit wenig. Schon zu Beginn der Geschichte verlässt sie die Familie. Der Exodus der Familienmitglieder setzt sich immer weiter fort, und so bleibt dann nur Kya zusammen mit ihrem jähzornigen Alkoholikervater in jener ärmlichen Hütte zurück, die Delia Owens im Eingangszitat beschreibt. Kyas Kindheit und das Aufwachsen in den Sümpfen erfahren wir in chronologischen Rückblenden, die die Handlung in der erzählten Gegenwart von 1969/70 ergänzen.

Delia Owens - Der Gesang der Flusskrebse (Cover)

Denn in zu dieser Zeit ist die lokale Polizei um die Aufklärung eines eventuellen Mordes bemüht. Chase Andrews, vielversprechendes Sporttalent und Womanizer, liegt tot am Fuße eines Turms in der Marsch. Zwar gibt es keine eindeutigen Beweise, aber die Polizei geht von Mord aus. Und die Verdächtige steht auch schnell fest: die junge Kya, von allen das Marschmädchen genannt. Und so ist man als Leser*in Zeuge, wie der Krimi seinen Ausgang nimmt, der später im Gerichtssaal enden wird.

Es sind also die verschiedensten Zutaten, die Delia Owens in ihrem Debüt verquickt. Ein Krimi, ein Justizdrama, ein Coming-of-Age-Roman, ein Naturbuch. Das dieses Gemisch nicht in seine Einzelteile zerfällt, das ist der Autorin hoch anzurechnen. Mit ihrem Sinn für Atmosphäre kreiert sie einen ganz eigenen Kosmos, der ähnlich dem ist, den William Kent Krueger in Für eine kurze Zeit waren wir glücklich präsentierte.

Eine Überraschung zum Schluss

Für ihre jugendliche Protagonistin findet sie eine stimmige Erzählweise und die Rückblenden belegen die Formung des Charakters von Kya glaubhaft. Die Balance aus Krimihandlung in der Gegenwart und Rückblenden ins Leben des Marschmädchens ist gut austariert. Wenngleich eine der beiden im Buch geschilderten Liebesgeschichten etwas erwartbar bleibt, so fällt das auch dadurch kaum ins Gewicht, da Der Gesang der Flusskrebse dann mit einer Schlusspointe aufwartet, die man so nicht erwartet hätte (zumindest ich tat das nicht). Sie lässt die vorherige Handlung dann noch einmal in einem neuen Licht erscheinen, mehr sei dazu aber nicht verraten.

Auch das spricht ja für das schriftstellerische Vermögen von Delia Owens. Dieses Talent zu fesseln, zu überraschen, den Kopfkino-Projektor bei den Leser*innen anzuwerfen.

Insgesamt ist Der Gesang der Flusskrebse so ein Buch, das packende Lesestunden beschert, das berührt und das mitnimmt in die Marschlandschaften in North Carolina. Mehr kann man von einem Buch wahrlich nicht erwarten. Einer meiner großen Sommerurlaub-Lektüretipps!


Weitere Besprechungen dieses Titels finden sich bei Wortgelüste, Günther Keil und Nicolettantoinetta

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Anselm Oelze – Wallace

Von der Entstehung der Arten

Anselm Oelze hat ein Buch über die Evolutionstheorie geschrieben. Eines, das im Gewand eines historischen Romans daherkommt, dabei aber mehr Erkenntnis vermittelt als so manche Stunde Biologieunterricht. Und eines, das dem englischen Forscher Alfred Russel Wallace ein Denkmal setzt.


Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben. No time for losers, wie schon Queen einmal sangen. Doch nicht nur für Verlierer hat die Geschichtsschreibung kein Herz, auch Figuren aus der zweiten und dritten Reihe werden schnell aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt. So etwas wie Nachruhm ist keinem dieser Menschen gegönnt, die sich im Hintergrund halten.

Will man sich seinen Platz in der Geschichte sichern, dann ist dabei auch eine Charaktereigenschaft völlig fehl am Platz: Bescheidenheit. Man muss für sich werben, seine Verdienste herausstreichen – sich an die gegebenen Umstände anpassen. Geschichtsschreibung interessiert sich für die Gewinner, für die, die aus ihrer Ausgangslage das Beste gemacht haben. Anders betrachtet ist Geschichte auch eine Art Survival of the fittest. Wer sein Glück in die Hand nimmt, der wird sich durchsetzen und auch in der Rückschau einen Platz haben.

Dass just es der Vater dieser Entdeckung des Survival of the fittest selbst nicht in die Annalen der Geschichte geschafft hat – das ist eine bittere Pointe. Bescheidenheit nach der Entdeckung großer Zusammenhänge, das zahlt sich einfach nicht aus – besonders wenn man im Schatten anderer steht.

So mancher mag jetzt Einspruch erheben – schließlich ist Charles Darwin als Begründer der Evolutionstheorie doch weltweit anerkannt und respektiert. Lernte man im Biologieunterricht sein Betrachtungsmodell mitsamt seiner Erklärung des stets nach Verbesserung strebenden Wandels in der Natur, das seinem Konkurrenten Lamarck überlegen war, so haben seine Erkenntnisse doch weltweit höchste wissenschaftliche Ehren erfahren. Evolution = Charles Darwin, so die Allegorie, die Schulkinder auswendig hersagen können.

Alfred Russel Wallace, der Vater der Evolutionstheorie

Alfred Russel Wallace

Doch was ist mit Alfred Russel Wallace? Alfred wem?, so mag man hier fragen. Dass jener Mensch ebenfalls die Evolutionstheorie begründet hat und mit seinen Ideen sogar Darwin voraus war, das ist heute fast vergessen. Ein prominenter Fall eines Zweiten, den die Geschichte schon wieder vergessen und verdrängt hat.

Bromberg spürte mit einem Mal eine Erregung in sich aufsteigen, die er nicht von sich kannte. „Aber es stimmt doch einfach nicht! Darwin ist nicht vor Wallace im Ziel gewesen! Er ist einfach nur früher losgelaufen! Es ist mir schleiferhaft, wie jemand, der früher losläuft, aber zeitgleich mit dem Konkurrenten ins Ziel gelangt, am Ende den Sieg davontragen kann! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu! Das muss man doch verhindern!

Schulzen lachte. „Na das möchte ich sehen! Wie du das jetzt verhinderst! Und sowieso, finde ich, ist die ganze Sache jetzt auch keiner dermaßen großen Aufregung wert. Es gibt genug Fälle, in denen ein und dieselbe Entdeckung von zwei verschiedenen Menschen gemacht wurde. Nimm nur die Technik der Infinitesimalrechnung, unabhängig voneinander entwickelt von Leibniz und Newton (…). Oder die Entwicklung des Prinzips des Zweisphasenwechselstroms mit rotierendem Feld. Zwei Leute, Nikola Tesla und Galileo Ferraris, ein Gedanke. Kurz gesagt: es lassen sich ohne große Mühe genug Beispiele von unglücklichen Zweiten, die eine Entdeckung gemacht haben, damit aber nicht allein waren und früher oder später ihrem Mitentdecker das Feld überlassen mussten. So ist es eben“

Oelze, Anselm: Wallace, S. 113 f

Kein Platz für Zweite in den Geschichtsbüchern

Niemand interessiert sich für Zweite. Das lehrt uns die Geschichte. Der zweite Mann auf dem Mond? Geschenkt. Menschen, denen etwas zum zweiten Mal gelingt, sind nicht für Geschichtsbücher gemacht. Doch ärgerlich wird es, wenn einem Menschen etwas zum ersten Mal gelingt, der Zweite dann aber seinen Platz in den Annalen erhält. Brombergs Empörung in obigem Ausschnitt ist also durchaus nachvollziehbar, denn die Erkenntnisse, die Alfred Wallace sammelte, sind für sich genommen bahnbrechend.

Mit dem, was er [Charles Darwin] nun an diesem Morgen von Wallace erhalten hat, verhält es sich ganz anders. ganz anders. Denn das, was da steht, in diesem Brief, das sind nicht irgendwelche Ideen zur Frage der Entstehung der Arten, das ist nicht irgendeine Theorie. Das ist seine Theorie! Seine eigene! Es ist genau die Erklärung, an der er seit bald zwei Jahrzehnten gearbeitet und deren Veröffentlichung er immer wieder aufgeschoben hat. Nicht nur, weil er der Sache noch nicht ganz traute, sondern vor allem auch, weil ihn andere Dinge, etwa die Regenwürmer, davon abhielten. Und nun kommt mit einem Mal dieser kleine Sammler an, seit vier Jahren auf Inseln wie Sumatra, Java und Celebes unterwegs, und beschreibt mit ähnlichen, tweilweise sogar mit den gleichen Worten, was Darwin sich seit Jahren im Stillen überlegt hatte: Dass nämlich Arten nicht unveränderlich ein für alle Mal geschaffen worden sind, sondern dass die komplexeren von einfacheren Formen abstammen, sich entwickelt haben und noch immer weiter entwickeln. Dass also sämtliche Arten nicht durch einen Schöpfergott, sondern durch ein natürliches Prinzip, einen Mechanismus, geschaffen worden sind und werden: den Mechanismus der natürlichen Selektion.“

Bromberg unterbrach.

„Wallace“, sagte er und bemühte sich dabei, so nüchtern wie möglich zu sprechen, „Wallace ist Darwin also zuvorgekommen?“

„Tja“, erklärte Schulzen. „Genau das ist der Knackpunkt bei der Sache“.

Oelze, Anselm: Wallace, S. 111

Denn statt seine Erkenntnisse forsch zu postulieren und an wissenschaftliche Magazine zu schicken, entschied sich jener Wallace eben, seinen Brief zunächst an Charles Darwin zu schicken. Jenen Darwin, der mit seinem Reisebericht von der HMS Beagle große Bekanntheit erlangt hatte. Ein Brief, den Darwin dazu nutzt, im nächsten Jahr sein bekanntestes Werk On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) zu publizieren. No time for losers – lediglich eine kleine Gedenktafel in der Nähe von Darwins Grab in Westminster weist auf den Einfluss und die Beziehung hin, die zwischen Wallace und Darwin bestand.

Geschichte, wie gemacht für einen Roman

Eine Geschichte also, wie gemacht für einen Roman. Anselm Oelze hat sich dieser Geschichte angenommen und zu meinem Glück einen höchst unterhaltsamen, erkenntnissatten und hinreißend altmodischen Roman aus dieser historischen Ausgangslage gemacht.

Stellvertretend für uns Leser*innen, die wir in den seltesten Fällen schon einmal etwas von Alfred Russel Wallace und seinem Wirken mitbekommen haben dürften, steht der Museumswächter Albrecht Bromberg, der per Fotografie über Wallace stolpert. In der Figur und der Namensnennung zeigt sich hier schon wunderbar die leicht historisierende Erzählhaltung des Roman. Wie aus der Zeit gefallen wirken die meisten Figuren des Romans. Bromberg trifft sich mit Mitstreitern nicht einfach zu einem Stammtisch, die regelmäßige Zusammenkunft ist das Treffen der sogenannten Elias-Birnstiel-Gesellschaft. Die Haupthandlungsorte des in der Gegenwart spielenden Strangs sind Kellerkneipen, Antiquariate, Museum und eine kavernenartige Espressobar. Ein wunderbar eskapistisches Setting, das von genauso schrullig-exzentrischen Figuren bevölkert wird.

Geradlinig ist in Wallace selten etwas. Barock, mit großer Sprachkraft weiß Oelze seine Figuren und Welten zu schildern. Geradezu umständlich sind viele Szenen gebaut. Selbst wenn es in der äußeren Handlung nur um das Besorgen eines Buches oder die Zubereitung eines Gin Tonics geht: für Dozieren und Abschweifungen ist in Wallace immer genügend Platz. Leser*innen, denen es nicht schnell genug gehen kann, werden hier sicher nicht glücklich. Doch in der inneren Logik, der zugrundeliegenden Gemächlichkeit des Romans, ist das alles höchst stimmig und passgenau. Dass sämtliche Kapitel dabei mit am Barockroman geschulten Miniaturen eingeleitet werden, passt da gut ins Bild.

Erinnerungen an Kehlmann und Kracht

Auch der zweite Erzählstrang, der mit dem Gegenwartsstrang um Bromberg alterniert, ist großartig gemacht. Sehr farbsatt fängt Oelze die Gerüche und Farben der Welt ein, die Wallace alias Der Bärtige bei seinen Streifzügen durchreist. Gerade jener Erzählstrang erinnert auch an andere große deutsche Erähler wie Daniel Kehlmanns Vermessung der Welt oder Christian Krachts Imperium, ohne dass Oelzes Schilderungskraft jenen Autoren um viel nachsteht.

Wollte man etwas an diesem formidablen Buch kritisieren, dann ist es die Sache, dass die Figuren zumeist eher aus der Handlungsmotivation gespeist sind, denn aus einer inneren Tiefe. So stehen die Figuren plakativ für Thesen und Funktionen, müssen in Gesprächen stets Theorien präsentieren oder Einsprüche zu einer gerade verhandelten These sein – was dem Ganzen manchmal den Touch eines Lehrbuchs gibt. Da daraus aber auch Erkenntnis entsteht und es Oelze gelingt, seine These genauer zu illustrieren, fällt das nicht so sehr ins Gewicht.

Für die knappe Länge von 250 Seiten enthält Wallace wirklich erstaunlich viel. Zwei unterhaltsame Erzählstränge, viel naturwissenschaftliche Erkenntnis und endlich mal wieder auch guten Humor. Ein wirklich lustiges Buch, das einen leicht distinguierten Humor favorisiert, der sich angenehm neben den allzu platten Scherzereien und Holzhammer-Gags vieler Kolleg*innen ausnimmt.

Wallace ist ein Buch, das genau zur rechten Zeit erscheint. Schließlich feiern wir 2019 auch 250 Jahre Alexander von Humboldt, der auf Wallace und Darwin einen großen Einfluss ausübte, und dessen Schilderungen auch etwas auf den Roman abgefärbt haben. Ein toller Türöffner in die unendliche Welt der Naturwissenschaft, dem ich von Herzen viele Leser*innen wünsche!

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Jürgen Goldstein – Die Entdeckung der Natur

Etappen einer Erfahrungsgeschichte

Die Reihe Naturkunden zählt in Hinsicht Form und Funktion zum Schönsten, was man momentan auf dem deutschen Buchmarkt so findet. Als Herausgeberin und zugleich Gestalterin ist Judith Schalansky für die Reihe verantwortlich. Den Inhalt liefern verschiedene namhafte Autoren wie etwa Eva Meijer, Robert MacFarlane oder Jean-Henri Fabre. Die Themen dieser bei Matthes & Seitz verlegten Reihe sind so vielfältig wie die Natur selbst, die in diesen Büchern abgebildet wird. Egal ob Nashörner, Symbiosen, Algen oder verlorene Wörter aus dem Bereich Flora und Fauna – zu fast allen Themen der zoologischen und botanischen Welten gibt es hier erkenntnisreiche Bücher.

Wie man diesen einleitenden Worten vielleicht entnommen hat: auch ich bin ein großer Freund dieser außergewöhnlichen Reihe. Daher habe ich mich ad fontes aufgemacht und mich einem der ersten Bände dieser Reihe gewidmet. Genauer gesagt ist es der Band 3 der Naturkunden, der hier im Mittelpunkt stehen soll. Es handelt sich um das Werk Die Entdeckung der Natur – Etappen einer Erfahrungsgeschichte von Jürgen Goldstein. Goldstein lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau und begegnete mir zum ersten Mal vor zwei Jahren. Damals stand sein Buch Blau – Eine Erfahrungsgeschichte auf der Nominierungsliste für den Bayerischen Buchpreis. Zwar bekam das Buch damals nicht den Preis verliehen – persönlich hätte ich ihm den Preis allerdings zugesprochen.

Das damalige Leseerlebnis weckte in mir den Wunsch nach mehr Literatur von Goldstein, da er sich in seinem Werk als kenntnisreicher, fein beobachtender und auch literarisch sehr versierter Autor zeigte, der in seinem Buch einen vielgestaltigen Zugang zu seinem Thema schuf. Auch in die Entdeckung der Natur gelingt ihm das einmal mehr.

Der Mensch macht sich die Natur untertan

Die Grundidee hinter seinem Buch ist die Frage, wie der Mensch die Natur im Laufe der Jahrhunderte erfahren hat. Wie hat sich die Wahrnehmung geändert – und welche Faktoren haben das beeinflusst? Goldstein geht dieser Frage nach, indem er ausgehend vom 14. Jahrhundert mit der Besteigung des Mont Ventoux durch den Dichter Petrarca den Bogen bis in die Neuzeit schlägt, hin zu Personen wie Reinhold Messner und Chris McCandless.

Diesen Bogen schafft er, indem er sich 17 Episoden aus der Geschichte herausgreift, an denen sich beispielhaft ein wandelnder Blick auf die Natur ablesen lässt. Er nimmt berühmte und weniger berühmte Menschen in den Blick, die besondere Naturerfahrungen erlebten, und die diese dann in Berichten festhielten, darunter etwa Georg Forster oder Peter Handke. Goldstein gelingt in seinen Episoden eine stimmige Mischung aus Nacherzählung und Originalberichten, die uns als Leser die damaligen Erfahrungen und Erlebnisse nacherleben lässt.


Humboldt und Bonpland am Fuß des Vulkans Chimborazo, Gemälde von Friedrich Weitsch (1810)

Zu den von ihm geschilderten Episoden zählt die Besteigung des Brockens durch den Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1777. Aber auch die Besteigung des Matterhorns durch Edward Whymper, die Reise Maria Sybilla Merians nach Surinam oder die fast geglückte Besteigung des Chimborazo durch Alexander von Humboldt 1802 sind Thema. Generell lässt sich festhalten, dass Goldstein eine maximale Bandbreite an Reise- und Erlebniserfahrungen einfängt. Von Bergbesteigungen bis zu Reisen in exotische Länder wie Amazonien, von Eiswüsten bis hin nach Tahiti. Würden Bücher Bonusmeilen sammeln, der Entdeckung der Natur wäre ein Platz in der Senatourlounge gewiss.

Erkenntnisreiche Episoden mit Kreisschluss

Diese oben schon angesprochene Mischung aus Originalberichten und Nacherzählung ist eine gute Idee, da sie eben ad fontes zu den Eindrücken der Menschen vordringen lässt. So zeigt Goldstein, wie die ersten Wahrnehmungen der großen Entdecker noch stark vorbelastet waren vom eigenen Wissensstand der damaligen Zeit. So konnte Kolumbus seine Entdeckungen rational und sprachlich nur unzureichend verarbeiten – zu verstellt war der eigene Blick. Doch das Sensorium der Menschen wandelte sich im Lauf der Zeit – bis man wieder bei sich selbst ankam.

Eindrucksvoll illustriert Goldstein den Kreis, den die Wahrnehmung der Natur schloss. Galt eins das Streben nach Erfahrung und Eroberung der Natur als verrufen (der Kirchenvater Augustinus drängte darauf, dass die wahren Wunder in uns Menschen lägen), so setzte ab dem 14. Jahrhundert eine gegenläufige Entwicklung ein. Berge wurden bezwungen, Meere überquerte, neue Länder entdeckt. Doch spätestens mit der Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff durch Reinhold Messner waren alle möglichen unerkannten und unmöglichen Entdeckungen hinfällig geworden. Alles ist zur Variation und Wiederholung geraten. Goldstein konstatiert:

Der Kreis schließt sich. Der Mensch ist bei seinem Vordringen in die Natur wieder bei sich selbst angekommen. Hatter er vor der allmählichen Entdeckung und Erschließung der Natur, wie sie mit Petrarca eingesetzt haben mag, zu wenig von ihr gekannt, scheint er nun zu viel von ihr gesehen zu haben. Hatten die ersten Entdecker noch vor lauter Büchern im Kopf kaum etwas anderes aufnehmen können als das, was sie bereits wussten, sind es nun die imaginierten Bilder, die wir von den entlegensten Erdteilen besitzen, die sich vor die Wahrnehmung schieben und die Frische von tatsächlichen Eindrücken verderben. Die Südsee? Zum Klischee verkommen. Die schneebedeckten Berge? Ein Panorama für Skifahrer.

Goldstein, Jürgen: Die Entdeckung der Natur, S. 273

Geschickt montiert, nachgerade brillant

Die Entdeckung der Natur steckt voller Erkenntnis. Welche Gedanken befielen die Entdecker*innen damals? Was ließ sie zweifeln, war zu immer neuen Ufern aufbrechen? Die Episoden sind klug gewählt. Goldstein gelingt es, diese Schlaglichter auch in einen übergreifenden Kontext gut einzubetten. Seine Nacherzählungen sind hochspannend, im Zusammenwirken mit den Originalberichten entwickeln sie oftmals eine hypnotische Wirkung, nachgerade brillant. Besonderes Highlight für mich waren die Schilderungen der Chimborazo-Besteigung durch Alexander von Humboldt und Fridtjof Nansens Arktisexpedition. Meisterhaft, wie Goldstein uns auf die Berge und in die Extremgebiete dieses Planeten mitnimmt.

Die Entdeckung der Natur ist daneben auch ein Buch, das meinen eigenen ästhetischen Horizont wirklich geweitet hat. Das Buch weckte neue Lust auf die Reiseberichte der behandelten EntdeckerInnen, auf ihre Schriften und ausführlichere Biographien. Vor allem Alexander von Humboldts Schriften werden vielleicht auch auf diesem Blog noch ein Thema sein, nicht zuletzt, da dieser große Entdecker in diesem Jahr seinen 250. Geburtstag feiern würde. Goldsteins Buch bietet hierfür eine wunderbare Einführung. Dass es ebenso toll gestaltet ist, muss bei dieser Reihe nicht eigens erwähnt werden.

Oder um es kurz zu machen: auch dieses Buch selbst ist eine Entdeckung!

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Claire-Louise Bennett – Teich

Es gibt Bücher, die nimmt man in die Hand, gerät von der ersten Seite an in einen Lesesog und wird erst ganz am Ende des Buches wieder ausgespuckt. Und dann gibt es Bücher wie Teich von Claire-Louise Bennett. Man kommt nicht in den Fluss, es ruckelt, es zieht sich, es will sich kein Rhythmus einstellen. Der Motor des Textes stottert und qualmt – und dabei wollte ich dieses Buch wirklich mögen. Wirklich!

Teich von Claire-Louise Bennett

Es klingt auch alles gar nicht schlecht – eine Frau, die in einem einsamen Cottage an der Westküste Irlands lebt, Rückzug vom stressigen Leben, Entschleunigungsliteratur deluxe. Das darf es ja gerne auch einmal sein, noch dazu war das Buch verlockend dünn, gerade einmal 224 Seiten stark ist das Buch (Übersetzung von Eva Bonné). Ich ging mit der Erwartung einer Art weiblichen Robert Seethalers in diese Lektüre, vielleicht auch ein bisschen Zero-Waste-Literatur: nachhaltig, ökologisch, gut abbaubar. Welche Wegscheiden im Leben haben die Erzählerin zu ihrem Leben in dem Cottage geführt? Wie nimmt sie ihre (Um)Welt wahr? Was bedeutet diese Art von Leben?

Alles Fragen, die mich im Vorfeld von Teich interessiert hätten. Eine zufriedenstellende Beantwortung dieser Fragen blieb mir Claire-Louise Bennett schuldig. In mal ultrakurzen Kapiteln, dann wieder längeren Passagen, lässt sie ihre Erzählerin räsonieren. Mal reflektiert sie die Lektüre von Marlen Haushofers „Die Wand“, mal überlegt sie, welche Vorbereitungen sie für eine eventuelle Party treffen muss. Diese sprunghaften Assoziationsketten und wild mäandernden Gedankenströme brachten mich immer wieder aus dem Tritt. Überspitzt gesagt: mich interessiert weniger, ob die Erzählerin ihren Petersilienstrauch am Hauseinang selbst in einen Kübel getopft hat – doch das ist es, was für mich bei diesem Buch mehr hängen bleibt, als alle introspektivischen Versuche. Auch nach über 100 Seiten stellte sich für mich kein erkennbarerer roter Faden heraus. Die stilistischen Wechsel in der Erzählstruktur überzeugten mich nicht, für mein Empfinden fehlt es hier an Klarheit beziehungsweise einem durchgehenden Konzept.

So gerät dieses Buch aus dem Takt und konnte mich nicht überzeugen. Vielleicht lag es natürlich auch an mir – zu wenig aufnahmebereit? Zu überlesen? Zu unaufmerksam? Vielleicht ist die Schuld aber auch wirklich beim Buch zu suchen, denn bei dessen Leser. Meine These: am Ende ist Teich überhypt und überschätzt.

Im Konzert der naturgesättigten Gegenwartsromane (Emily Fridlunds Eine Geschichte der Wölfe oder Emily Ruskovichs Idaho)  ist dies leider eine schwache Stimme, die für ihren nächsten Einsatz noch kräftig an Volumen und Klarheit gewinnen muss.

 

 

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