Tag Archives: Nature Writing

Robert Moor – Wo wir gehen

Unser Weg durch die Welt

Die kürzeste Verbindung zweier Punkte, sie ist eine Strecke. Diese Definition kenne ich noch aus aus der Schule, und auch Robert Moor zitiert diese Definition in seinem Buch. Strecken oder Wege, sie spielen in Wo wir gehen eine entscheidende Rolle. Darin erzählt er von Wegen, die wir alle beschreiten, egal ob Mensch oder Tier. Seien es Wanderwege, Viehpfade, Wildwechsel oder Straßen – fast immer bewegen wir uns auf Pfaden, die schon jemand vor uns gegangen ist. Egal ob in der Natur, in der Stadt oder im Geist. Wege finden sich überall. Mal sind es Pfade zur Weisheit, mal stellen wir im Geist Verbindungen her, mal sind es Wunschlinien, die unbewusst in Parks oder Gärten entstehen.

Robert Moor erforscht in seinem Debüt die Vielfalt von Wegen und ihre Bedeutung. Als leidenschaftlicher Wanderer bezwang er einst den Appalachian Trail und reiste rund um die Welt, um auf Wegen zu wandeln und ihre Geschichte zu ergründen.

Von fossilen, tierischen und menschlichen Wegen

Sein Buch unterteilt er dabei in sechs Abschnitte. So erzählt er zunächst von Fossilienspuren, den ältesten Zeugnissen von Wegen. Danach widmet er sich den Insekten und erzählt, wie beispielsweise Ameisen immer effizientere Wege erschaffen. Nach den Insekten geht er dann zu den Wildtieren über. Er erzählt von Wildwechseln, seinen Jagderfahrungen und vom Hüten von Schafen. Danach folgt der anthropologische Teil des Buchs. Moor erzählt vom Wandern auf dem Appalachian Trail, seinen Begegnungen und den Ursprüngen dieser Pfade, die auf die indigene Bevölkerung Amerikas zurückgehen. Die Cherokees und ihre Orientierung im Gelände sind hierbei genauso Thema wie die Entstehung der ersten Reservate und Naturschutzparks.

Robert Moor - Wo wir gehen (Cover)

Robert Moor endet dann in der Gegenwart, indem er vom Appalchian Trail berichtet, den er einst erwanderte. Dieser Trail zählt mit über 1900 Kilometern zu den längsten Fernwanderwegen der Welt. Er erzählt von seinen Erfahrungen, dem Reiz dieses Wegs und den Versuchen, den Weg nach Kanada auf Inseln oder auch in Marokko fortzuführen. So entsteht ein Kaleidoskop verschiedener Wege, ihrer Entstehung und ihrer Zwecke. Moor gelingt ein Buch, das eine Mischung aus Erfahrungsbericht eines Wanderes, historische und naturwissenschaftliche Forschung und philosophische Überlegungen darstellt. So entsteht ein Sachbuch mit hohem Nature Writing-Anteil.

Der Ton ist klar, von gelegentlichen thematischen Abschweifungen abgesehen gelingt ihm eine vielschichte Darstellung von Wegen und ihrer Bedeutung. Wo wir gehen lädt ein, den Untergrund, über den wir wandeln, genauer in den Blick zu nehmen. Denn egal ob Oregon Trail, Wunschlinie in der Stadtplanung oder fossile Spuren in Neufundland – Wege haben immer eine Geschichte zu erzählen. Robert Moors Buch sensibilisiert dafür.

Ins Deutsche übertragen wurde das Buch, das auch zum New York Times Bestseller avancierte, von Frank Sievers. Erschienen ist es im Insel-Verlag.


  • Robert Moor – Wo wir gehen
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers
  • ISBN 978-3-458-17874-3 (Insel)
  • 413 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ein Jahr im Cockshutt Wood

John Lewis-Stempel – Im Wald

Nature Writing liegt nach wie vor im Trend. Neben seinem britischen Landsmann Robert MacFarlane zählt auch der Brite John Lewis-Stempel zu den bekanntesten Vertretern des Genres. Nachdem er sich mit Themen wie dem Dasein als jagender Selbstversorger (Mein Jahr als Jäger und Sammler) und einer Wiese (Ein Stück Land) beschäftigt hat, verschlägt es ihn nun in den Wald. Genauer gesagt in den Cockshutt Wood, den er gepachtet hat.

Dieser in der Nähe von Shropshire und der englisch-walisischen Grenze gelegene Wald hat es John Lewis-Stemple angetan. Im Gegensatz zu moderner Forstwirtschaft geht er als Waldpächter noch nach alter Väter Sitte vor. Er lässt wilde Tiere in seinem Wald herumstreifen, hütet darin etwa Schafe, Schweine und Kühe, und setzt Bäume auf den Stock, das heißt, er sägt Bäume über dem Boden ab, sodass diese neu austreiben können.

John Lewis-Stempel - Im Wald (Cover)

Uns Leser lässt er an diesem Leben teilhaben, indem er genau ein Jahr in seinem Wald beschreibt, beginnend im Dezember über den Frühling und Sommer hin wieder bis in den Herbst. Das Werden und Vergehen im Wald und die ewigen Kreisläufe werden so offenbar.

Nun können solche Bücher mitunter schnell langweilig werden. 12 Kapitel, Bäume die wachsen, Vögel die brüten und dann in den Süden ziehen, Herbst und dann schon wieder Winter. So etwas könnte durchaus passieren – aber nicht wenn der Autor John Lewis-Stempel heißt. Denn er vermag es, uns die Faszination des Waldes und dessen Erhabenheit auf großartige Art und Weise näher zu bringen.

Lektionen im Wald

Auch wenn das Buch vorhersehbar chronologisch erzählt ist – sein Inhalt ist es mitnichten. Denn Lewis-Stempel lässt es nicht mit einer puren Erklärung der Kreisläufe in Flora und Fauna bewenden. Vielmehr ist sein Buch eine Wunderkammer, die verschiedene Gattungen und Disziplinen vereint. Immer wieder flicht der Brite Gedichte über den Wald ein, etwa von Robert Frost, Alfred Lord Tennyson oder Rudyard Kipling (die teilweise von der tollen Übersetzerin Sofia Blind selbst ins Deutsche übertragen wurden). Auch gibt es inmitten der Naturbeschreibungen immer wieder Rezepte zu entdecken, so etwa eine Zubereitungsempfehlung für Kastaniensuppe oder Hühnerbrühe mit Judasohren nach thailändischer Art.

Und auch seine Schilderungen des Lebens im Wald sind unglaublich bildreich und sprachmächtig. So vergleicht er Pilze schon einmal mit Sciene-Fiction-Städten oder schildert den Tanz des Hermelins wie etwa das Auftreten der Schlange Ska im Dschungelbuch. Dadurch erzielt er eine Bildlichkeit, die viele andere Beschreibungen des Waldlebens nicht besitzen.

Er vermag es, die Kulturgeschichte seiner im Cockshutt Wald heimischen Bäume zu erzählen (nicht von ungefähr nennt er auch Wilde Wälder von Roger Deakin in den bibliographischen Angaben). Von den Netzwerken der Bäume oder von den Leben seiner Waldbewohner handeln seine Schilderungen, die ein Gefühl für Natur vermitteln.

Ein Naturschriftsteller mit Humor

Zudem ist John Lewis-Stempel auch ausnehmend witzig.

Als Gott die plumpe Waldschnepfe erschuf, muss Er in der gleichen schrulligen Stimmung gewesen sein wie beim Zusammenschustern des Schnabeltiers. Obwohl sie nur so groß ist wie eine menschliche Hand, ragt aus dem Gesicht der Waldschnepfe ein Stilett.

Lewis-Stempel, John: Im Wald, S. 22

Oder auch solche kleinen Fundstellen wie etwa diese hier:

8. Juni: […] Auf dem Reitweg einen Igel getroffen: an den Hut getippt, Hallo gesagt.

John Lewis-Stempel ist ein Naturschriftsteller im besten Sinne: Umfassend gebildet, mit Auge für skurrile Details, voller Humor und sich selbst nicht übermäßig wichtig nehmend. Und auch wenn er einen etwas geringschätzenden Ton gegenüber seinen eigenen Prosa anschlägt:

Um fünf Uhr morgens mache ich einen Rundgang durch den Wald, dann steige ich mit Freda in den Saab, um an die Somme zu fahren, wo wir um fünf Uhr abends ankommen. Ich arbeite an einem Buch über den Ersten Weltkrieg und muss obskure Eigenschaften der Landschaft überprüfen. Zurzeit empfiehlt man Landwirten, ihre Produktpalette zu erweitern. Mein Nebenprodukt sind Bücher.

Lewis-Stempel, John: Im Wald, S. 209

Der Terminus Nebenprodukte trifft für seine Bücher keinesfalls zu. Bildstark, mit viel Humor und stupend gebildet vermag er es in seinen Werken, auch Städtern wie mir das Tun und Treiben da draußen in der Natur nahezubringen. Im Wald macht da keine Ausnahme. Eine Perle der Gattung Nature Writing. Schön gestaltet (sogar mit kleinen Vignetten) und ein Sachbuch das Lust macht, mal wieder mit offenen Augen und Ohren durch einen Wald zu streifen.


  • John Lewis Stemple – Im Wald
  • Aus dem Englischen von Sofia Blind
  • 284 Seiten, farbige Abbildungen
  • ISBN 978-3-8321-8124-6 (Dumont-Verlag)
  • Kosten: 22,00 €
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Benjamin Myers – Offene See

Der Regen war noch viele Meilen entfernt, doch hier im Garten war es plötzlich ruhig und auffallend still geworden. Kein Vogelrufe. Kein fernes Hundegebell. Der Muskel in meinem Hals pochte mit einem fast elektrisierenden Pulsschlag. […]

Da draußen ist die offene See“, sagte Dulcie leise.

Ich stieg vom Sessel. Sie deutete die Wildwiese hinunter.

„Dieser ferne Streifen Meer, wo Himmel und Wasser eins werden.“

Myers, Benjamin: Offene See, S. 118 f.

Wenn ein Entwicklungsroman auf Nature Writing trifft, wenn der Rückzug in die Natur mit einer Mannwerdung verschmilzt, dann kommt so etwas wie Benjamin Myers Offene See heraus. Ein Buch, das die unberührte Natur, Bildung und Lyrik feiert.


Die offene See. Sie ist das, was Robert Appleyard antreibt. Die letzten Prüfungen in der Schule sind geschrieben und schon bald dräut die Arbeit unter Tage. Denn wir befinden uns in Großbritannien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kohleflöze werden nach wie vor abgebaut, Generationen von Männer fahren ein, um wie ihre Vorfahren der Erde Kohle abzuringen. Doch das ist nicht das, was Robert vorschwebt.

Der Sechzehnjährige ist in seiner Liebe zur Natur entflammt. Stundenlang durchmisst er Wälder, wandert und hält sich am liebsten unter dem freien Himmel auf. Die freie Zeit vor seinem Arbeitseintritt will der Junge nutzen, um auf Grand Tour zu gehen und das Meer zu sehen. Und so begibt sich Robert auf eine Wanderung, die Myers im Stile eines Joseph von Eichendorffs inszeniert. Sprudelnde Bäche, Frühlingslandschaft, Entgrenzung pur. Würde aus der Ferne ein Posthorn schallen, man könnte glauben, die Epoche der Romantik würde hier immer noch andauern.

Natur, Rückzug und Freundschaft

Doch wie es so mit dem Wandern ist – auch Unerwartetes tut sich manchmal am Wegesrand auf. Im Falle von Roberts Wanderschaft ist das ein versteckt liegendes Cottage, das er in Küstennähe entdeckt.

Der Weg endete neben dem Cottage, hinter dem nur noch ein Dschungel aus Buschwerk wucherte. Vor dem Haus konnte ich einen Garten sehen, der aus einer kleinen Terrasse mit rissigen Pflastersteinen, einem Rasen und einem Gemüsebeet umgeben von Blumenrabatten bestand. Ringsherum war ein schieferweiß gestrichener Holzzaun, dem die Salzluft arg zugesetzt hatte, denn der Lack warf Blasen, bätterte ab und war stellenweise abgeplatzt.

Der Garten war eine halb kolonisierte Ecke in einer wilden, abfallenden Wiese, die den Blick zum gut eine Meile entfernten Meer lenkte. Die Hecken und Bäume zu beiden Seiten umrahmten die Aussicht wie der Motivsucher eines romantischen Malers.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 34

Immerhin weiß Benjamin Myers selbst recht gut, in welcher Tradition seine Prosa steht. Durch und durch romantisch fängt er die Landschaft ein und inszeniert seine Szenerie im Stile eines Landschaftsmalers á la John Constable. Man könnte dem Autor natürlich Eskapismus, Süßlichkeit oder Kitsch vorwerfen. Aber er belässt es nicht alleine im Feiern der Schönheit unzerstörter Natur und Romantik. Denn durch die Bewohnerin jenes oben beschriebenen Cottages findet nun eine weitere Ebene ins Buch hinein.

In Dulcie jubilo

Die Cottage-Bewohnerin trägt den Namen Dulcie und übt schon ab der erstern Begegnung eine große Faszination auf Robert aus. Zusammen mit ihrem Schäferhund Butters lebt die ältere Dame nahezu autark in ihrem Cottage, umgeben von anderswo rationierten Köstlichkeiten und Büchern.

Die Begegnung mit ihr erweist sich als Glücksfall für Robert. Denn was als zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich im Lauf des Buchs zu einer bereichernden Freundschaft. Dulcie ist weltgewandt, hat einen eigenen Kopf und weckt in Robert die Liebe zur Literatur. Die alte Dame entpuppt sich als humanistische Aufklärerin im besten Sinne, die Robert zu eigenständigem Denken herausfordert. So findet der Junge auch zu seiner Liebe für Lyrik. Eine Liebe, die sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen soll.

Offene See ist ein Buch, das die Natur und die Lyrik auf sehr direkte Art und Weise feiert. Das sollte beim Blick auf die Vita Benjamin Myers auch nicht überraschen. Denn Myers schreibt nicht nur Lyrik, sondern auch Sachbüchern, in denen er sich mit Themen rund um die Natur und Landschaften beschäftigt. Mit dem Vorgängertitel errang Myers auch den Roger-Deakin-Award, der sich zeitlebens ja ebenfalls dem Nature Writing widmete.

Sprachliche Mängel

Für mich bleibt nur die Frage bestehen, warum sich ein Lyriker und gefeierter Schriftststeller dann trotz aller unbestrittenen Qualität solche Ausrutscher erlaubt, wie sie immer wieder im Buch zu beobachten sind.

Wenn die Müdigkeit mich überkam, verbrachte ich die Nacht in Scheunen und Schuppen und längst verlassenen Wohnwagen, und mehrmals schlief ich den Schlaf des Gerechten eingezwängt zwischen dichten Heckenwänden aus Brombeersträuchern und Stechpalmen, die vielleicht schon seit dem Mittelalter hier wuchsen, drei Meter hoch und so undurchdringlich wie die Stacheldrahtrollen in Bergen-Belsen.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 22

Warum es hier einen KZ-Vergleich braucht, um eine Hecke zu beschreiben, will mir nicht in den Kopf (natürlich spielt das Buch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dennoch ist so ein Vergleich für mich reichlich unmotiviert und deplatziert).

Oder eine andere Stelle, an werden ich Ich-Erzähler „die Augen wieder schwer“ (S. 98). Schwere Augenlider kenne ich, schwere Augen hingegen nicht – oder vielleicht ist das der Claus-Kleber-Effekt, den Myers hier beschreibt?

Aber Spaß beiseite, solche sprachlichen Schludereien finde ich etwas irritierend, wenn weiter hinten im Buch dann sprachlich so viel sensiblere Lyrik präsentiert wird, die großes Sprachvermögen zeigt. Für die Übersetzung zeichnen sich Ulrike Wasel und Klaus Timmermann verantwortlich, die in meinen (nicht schweren) Augen ihre Sache eigentlich sehr gut machen.

Fazit

In Offene See inszeniert Benjamin Myers die Natur schwelgerisch, manchmal ganz knapp am Kitsch vorbei, manchmal auch leicht darüber. Mit seinem ungewöhnlichen Duo Robert und Dulcie stellt er dem romantischen Natur-Überschwang auch Elemente des klassischen Bildungsroman entgegen und kontrastiert sein Buch so auf reizvolle Art und Weise.

Wenn man bereit ist, einige sprachliche Schludereien oder Ausrutscher in Kauf zu nehmen, bekommt man hier ein berührendes Buch zu lesen, das den Hohegesang auf Kultur und Bildung anstimmt und das ein England heraufbeschwört, das dem heutigen Brexit-Land so fern erscheint wie Dulcies Cottage der Zivilisation. Zudem ausnehmend schön gestaltet!

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Patrik Svensson – Das Evangelium der Aale

„Mein Leben fühlt sich an wie gejagte Wale // wie ein Pferdeschädel voller zuckender Aale.“ Diese Songzeile aus Thees Uhlmanns erster Single „Zum Laichen und sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf“ ist es, die mir immer als erstes in den Sinn kommt, wenn es um Aale geht. Tatsächlich ist der Aal bei mir vor allem mit jener im Song paraphrasierten Szene aus Günter GrassDie Blechtrommel konnotiert. Die glitschigen Aale, die einen Pferdeschädel kahlfressen. Sich windende, glitschige Fische, die stark an Schlangen erinnern.

Auch der Schwede Patrik Svensson weiß um diese Bezüge und macht sich in seinem Sachbuch Das Evangelium der Aale dran, die Geheimnisse dieses unterschätzten Wassertiers zu ergründen. Ein Buch, das zugleich als Sachbuch und Memoir funktioniert.


Nature Writing liegt im Trend. Längst sind es nicht mehr nur Indie-Verlage wie Matthes&Seitz, die dieses Feld besetzen. Auch Großverlage haben längst erkannt, dass die literarische Beschäftigung mit der Natur gut angenommen wird und damit Umsatz zu machen ist. So hat die Verlagsgruppe Random House Matthes&Seitz deren Autor Robert MacFarlane abgeluchst. Dessen Buch Unterland über Tunnel, Höhlen und das Leben unter der Erde avancierte zum Bestseller. Die Auszeichnung mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis folgte.

Auch der Hanser Verlag aus München hat die Zeichen der Zeit erkannt. So hat man dort Patrik Svenssons Buch gleich zum Spitzentitel des Sachbuchprogramms in diesem Frühjahr gemacht. Eine Entscheidung, die ich nachvollziehbar und superb finde. Denn Das Evangelium der Aale ist gut gemachte Naturkunde, sinnig komponiert und auch auf dem Feld des Memoirs überzeugend.

Der geheimnisvolle Aal

Dies kann der Aal uns sagen, meinte Tom Crick. Er sagt uns etwas über die Neugier des Menschen, über unser ewiges Bedürfnis, die Wahrheit zu suchen und zu verstehen, woher alles kommt und was es bedeutet. Aber auch über unser Bedürfnis nach dem Geheimnisvollen. „Der Aal kann uns vieles über die Neugier sagen – wsesentlich mehr, als unsere Neugier über den Aal weiß“.

Svensson, Patrik: Das Evangelium der Aale, S. 124

Wo kommt er her, der Aal? Was macht ihn so besonders? Warum konnte man bis heute die genaue Fortpflanzungsmethodik des Aals nicht verifizieren? Und was hat Sigmund Freunds Psychoanalyse mit dem Aal zu tun? Wer Patrik Svenssons Buch liest, weiß mehr. Der Schwede teilt sein Buch dabei in zwei Teile, die er alternierend erzählt. So besteht der eine Teil aus Erinnerungen an Svenssons Vater, mit dem er zum Aalfischen zu gehen pflegte. Seine Kindheit, die soziale Herkunft des Vaters und ihre Bindung, all das beleuchtet Svenssons eindrücklich.

Die zweite Komponente ist die Geschichte des Aals. Von dessen Fortpflanzung bis hin zur aktuellen Gefährdung der Fischart reicht der Bogen, den Svensson spannt. Auch die Geschichte der Erforschung des Aals spielt im Buch eine Rolle. So erzählt er vom dänischen Forscher Johannes Schmidt, von Sigmund Freud oder Aristoteles, die sich alle auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Aal beschäftigten.

Der Aal in aalen Ausprägungen

Ebenso beleuchtet er den Aal in der Kunst. So gelingt es Svensson, über die von ihm besprochenen Werke auch Lust auf deren Konsum zu machen. Der eingangs zitierte Günter Grass und seine Blechtrommel haben im Evangelium der Aale genauso ihren Auftritt wie der Brite Graham Swift. Dieser setzt im oben zitierten Roman Wasserland dem Aal und der Flusslandschaft der ostenglischen Fens ein Denkmal. Und Svensson bindet diese Bezüge klug in sein Buch mit ein.

Auf den letzten Seiten seines Sachbuchs gelingt es ihm dann schließlich, die beiden Hauptteile, aus denen sich das Buch zusammensetzt, auf wundervolle Art und Weise zu verzahnen. Insgesamt hat man das Gefühl, ein rundes Buch zu lesen, dass den Aal erschöpfend behandelt, ohne je erschöpfend auf die Leser*innen zu wirken. Auch die Übersetzung von Hanna Granz aus dem Schwedischen tut ihr Übriges dazu. Ein würdiger Vertreter der Gattung Nature Writing und schönes Memoir obendrein!

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Sy Montgomery – Rendezvous mit einem Oktopus

I’d like to be under the sea
In an octopus‘ garden in the shade
He’d let us in, knows where we’ve been
In his octopus‘ garden in the shade

The Beatles – Octopus’s Garden

Und schon ist er da – der Oktopus in der Popkultur. Egal ob im Song der Beatles oder als Schurke in den Fluch der Karibik-Filmen. Oktopusse üben auf uns einen ganz besonderen Reiz aus. Doch warum ist das so? Sy Montgomery geht in ihrem Buch Rendezvous mit einem Oktopus (übersetzt von Heide Sommer) den Geheimnissen des Meeresbewohners auf den Grund.


Ihr Buch ist voller überraschender Details über diese Meeresbewohner. So vermittelt sie im Lauf der 383 Seiten viele Informationen, die zu keinem Zeitpunkt überladen wirken. Sy Montgomery erzählt dabei unter anderem von der ungeheueren Kraft der Tiere. Selbst gerade einmal 70 Zentimer große Tiere können mit der immensen Kraft ihrer Saugnäpfe zur tödlichen Gefahr werden. Die Tiere sind in der Lage, ihre Körper durch nur wenige Zentimeter breite Spalten und Risse zu zwängen. Sie besitzen ein ungeheures Geschick, was das Öffnen von Behältnissen und mechanischen Vorrichtungen angeht. So berichtet Sy Montgomery, dass es schon Oktopoden gab, die wahre Meister im Ausbrechen aus den speziell für sie konstruierten Wassertanks waren. Und nicht zuletzt sei an dieser Stelle an den Kraken Paul erinnert, der im Jahr 2010 alle WM-Ergebnisse korrekt voraussagte und damit landesweite Berühmtheit erlangte.

Die Geheimnisse des Oktopus

Immer tiefer zieht die amerikanische Autorin die Leser*innen in die Welt der Oktopusse hinein. Im Lauf des Buchs avanciert Sy Montgomery zur wahren Oktopus-Kennerin. Sie wird im Aquarium von Boston namens Giant Ocean Tank, kurz GOT, zur Beraterin und darf ihr Wissen weitergeben. Man ist Zeuge, wie sie das Tauchen erlernt, um einmal die Oktopoden in ihrer natürlichen Umgebung kennenzulernen. Man trauert mit ihr, wenn wieder einmal einer der Oktopusse stirbt (mit drei bis vier Jahren Lebenserwartung der Tiere passiert das im Buch einige Male). Und sogar bei einem Oktopus-Blind-Date in Seattle ist Sy Montgomery mit dabei, als es zur Paarung zweier Tintenfische kommt.

Ihr Buch ist sehr lebendig geschrieben und zeigt, wie Nature Writing im besten Sinne funktioniert. Ein fundiertes, erzählendes Sachbuch, das Sympathie für die Oktopusse weckt, und das zeigt, welch faszinierende Tiere diese Meeresbewohner eigentlich sind. Nur Kalamari, die wird man danach nicht so schnell wieder verzehren mögen!

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