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Lyrik-Corner: Caspar David Friedrich, Gedichte von Frauen & Romantik

Machen wir uns nichts vor. Selbst wenn mit Louise Glück mal wieder eine Lyrikerin den Literatur-Nobelpreis gewonnen hat: das Geschäft mit der Lyrik ist schwyrik. Gedichte und Poesie haben es auf dem Buchmarkt nicht leicht, in Büchereien und Buchhandlungen fristen Gedichte oftmals ein Schattendasein, wenn sie überhaupt angeboten werden. Allerdings brauche ich nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Auch in der Buch-Haltung ist Lyrik so gut wie gar nicht präsent. Deshalb feiert hier der Lyrik-Corner Premiere. Ein loses Format, in dem aktuelle Erscheinungen aus dem Bereich Lyrik besprochen werden sollen. Den Auftakt macht ein Doppel aus dem Reclam-Verlag.

Frauen | Lyrik

Ein Buch mit stolzem Umfang ist der Band Frauen | Lyrik. Dieser wurde im Auftrag der Wüstenrot-Stiftung von Anna Bers herausgegeben. In diesem Buch lassen sich über 500 Gedichte von Frauen und/oder über Frauen entdecken. Gedichte, deren Zeitraum von den Merseburger Zaubersprüchen über die lateinische Lyrik Hildegard von Bingens bis in unsere Tage reicht. Dichterinnen wie Safiye Can, Sabine Scho oder Ursula Krechel finden sich mit Werken aus unserer Epoche im Buch.

Man kann dieses Mammutwerk natürlich als Kompendium über mehrer Jahrhundert weiblicher Lyrik rezipieren. Frauen | Lyrik kann man ebenso als notwendiges Korrektiv zum männlich geprägten Kanon lesen. Man kann aber, eingeladen durch die vierteilige Gliederung des Buchs, die weibliche Lyrikgeschichte in all ihren Facetten entdecken. Denn das Buch vereint archetypische weibliche Dichtung, kanonisierte Gedichte, besonders emanzipatorische Werke, aber auch Gedichte von Männern, die sich in ihrer Lyrik die Perspektive von Frauen zueigen gemacht haben.

So entsteht in der Gesamtheit in vielfältiges, widersprüchliches und hochinteressantes Bild. Gedichte, die eine zeittypische Verehrung Adolf Hitlers im Dritten Reich zeigen. Poeme, die vom Kampf gegen tradierte Rollenbilder erzählen. Aber auch Gedichte, die zunächst wenig zugänglich und reichlich kryptisch erscheinen. Hierfür sei besonders das Nachwort des Buchs empfohlen, das solche Gedichte einordnet und kurze Biographien der Autor*innen gibt.

Wäre ich Deutschlehrer, dieses Gedichtesammlung wäre zumindest in Teilen ein Muss in meinem Unterricht. Hier lassen sich Autor*innen entdecken, von denen man bislang selten gehört hat. Formenreiche und archetypische Gedichte, die zeigen, dass sich weibliches Schreiben und Dichten nie hinter dem der Männer verstecken musste. Oder kurzum: ein spannender Streifzug durch die weibliche Lyrik – und ein wohltuendes Gegengewicht zu den herkömmlichen Lyrik-Kanons.

Caspar David Friedrich trifft Dichter der Romantik

Gibt es einen deutscheren Maler als Caspar David Friedrich? Mit seinen Bilder von Wäldern, Wanderern und Naturszenen hat er die Seele der Deutschen maßgeblich geprägt. Einzelne Bilder des 1774 in Greifswald geborenen Künstler haben einen geradezu ikonographischen Wert, beispielsweise sein Wanderer über dem Nebelmeer oder seine Ansichten der Kreidefelsen von Rügen. Auch meine Deutschlehrerin nutzte zur Einführung in die Epoche der Romantik ein Gemälde Caspar David Friedrichs, nämlich das Werk Frau am Fenster. Sinnig lassen sich über dieses Gemälde die zentralen Signa jener Epoche deutscher Dichtung herleiten. Die Sehnsucht nach der Ferne, die Hinwendung zur Natur. Das Wandern, die Suche nach dem Locus amoenus. Posthorn, Kutschfahrt und Entgrenzung. Das alles steckt nicht nur in den poetischen Werken jener Zeit, sondern eben auch in den Werken des Greifswalder Malers.

Wie stark die gegenseitige Beeinflussung von Malerei und Text tatsächlich ist, das zeigt der von Michael Grus herausgegeben Band Caspar David Friedrich trifft Dichter der Romantik. In ihm werden die Werke Caspar David Friedrichs Gedichte von Joseph von Eichendorff, Bettina von Arnim, Novalis oder Karoline von Günderrode gegenübergestellt. Faszinierend die Wechselwirkung zwischen Bildern und Texte, die geradezu gegenseitig in Dialog zu treten scheinen. Geordnet nach Themenkreisen wie Meer, Gebirge, Fremde oder Wandel der Zeit ergibt sich hier eine Werkschau der Kunst Friedrichs und ein repräsentativer Querschnitt der Poesie der Romantik.

Auch ein hinführendes Vorwort, dass das Leben Caspar David Friedrichs zeigt und einordnet, bereichert die Monographie. Ein Band zum Blättern und Staunen, der Kunst und Poesie auf das vortrefflichste vereint. Ein kenntnisreiches Vorwort und ein Verzeichnis der Werke rundet diesen Buch ab. So ist Lyrik alles andere als schwyrik.


  • Frauen | Lyrik
  • Herausgegeben von Anna Bers
  • ISBN: 978-3-15-011305-9 (Reclam)
  • 879 Seiten. Preis: 28,00 €
  • Caspar David Friedrich trifft Dichter der Romantik
  • Herausgegeben von Michael Grus
  • ISBN: 978-3-15-011310-3 (Reclam)
  • 144 Seiten. Preis: 20,00 €

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Benjamin Myers – Offene See

Der Regen war noch viele Meilen entfernt, doch hier im Garten war es plötzlich ruhig und auffallend still geworden. Kein Vogelrufe. Kein fernes Hundegebell. Der Muskel in meinem Hals pochte mit einem fast elektrisierenden Pulsschlag. […]

Da draußen ist die offene See“, sagte Dulcie leise.

Ich stieg vom Sessel. Sie deutete die Wildwiese hinunter.

„Dieser ferne Streifen Meer, wo Himmel und Wasser eins werden.“

Myers, Benjamin: Offene See, S. 118 f.

Wenn ein Entwicklungsroman auf Nature Writing trifft, wenn der Rückzug in die Natur mit einer Mannwerdung verschmilzt, dann kommt so etwas wie Benjamin Myers Offene See heraus. Ein Buch, das die unberührte Natur, Bildung und Lyrik feiert.


Die offene See. Sie ist das, was Robert Appleyard antreibt. Die letzten Prüfungen in der Schule sind geschrieben und schon bald dräut die Arbeit unter Tage. Denn wir befinden uns in Großbritannien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kohleflöze werden nach wie vor abgebaut, Generationen von Männer fahren ein, um wie ihre Vorfahren der Erde Kohle abzuringen. Doch das ist nicht das, was Robert vorschwebt.

Der Sechzehnjährige ist in seiner Liebe zur Natur entflammt. Stundenlang durchmisst er Wälder, wandert und hält sich am liebsten unter dem freien Himmel auf. Die freie Zeit vor seinem Arbeitseintritt will der Junge nutzen, um auf Grand Tour zu gehen und das Meer zu sehen. Und so begibt sich Robert auf eine Wanderung, die Myers im Stile eines Joseph von Eichendorffs inszeniert. Sprudelnde Bäche, Frühlingslandschaft, Entgrenzung pur. Würde aus der Ferne ein Posthorn schallen, man könnte glauben, die Epoche der Romantik würde hier immer noch andauern.

Natur, Rückzug und Freundschaft

Doch wie es so mit dem Wandern ist – auch Unerwartetes tut sich manchmal am Wegesrand auf. Im Falle von Roberts Wanderschaft ist das ein versteckt liegendes Cottage, das er in Küstennähe entdeckt.

Der Weg endete neben dem Cottage, hinter dem nur noch ein Dschungel aus Buschwerk wucherte. Vor dem Haus konnte ich einen Garten sehen, der aus einer kleinen Terrasse mit rissigen Pflastersteinen, einem Rasen und einem Gemüsebeet umgeben von Blumenrabatten bestand. Ringsherum war ein schieferweiß gestrichener Holzzaun, dem die Salzluft arg zugesetzt hatte, denn der Lack warf Blasen, bätterte ab und war stellenweise abgeplatzt.

Der Garten war eine halb kolonisierte Ecke in einer wilden, abfallenden Wiese, die den Blick zum gut eine Meile entfernten Meer lenkte. Die Hecken und Bäume zu beiden Seiten umrahmten die Aussicht wie der Motivsucher eines romantischen Malers.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 34

Immerhin weiß Benjamin Myers selbst recht gut, in welcher Tradition seine Prosa steht. Durch und durch romantisch fängt er die Landschaft ein und inszeniert seine Szenerie im Stile eines Landschaftsmalers á la John Constable. Man könnte dem Autor natürlich Eskapismus, Süßlichkeit oder Kitsch vorwerfen. Aber er belässt es nicht alleine im Feiern der Schönheit unzerstörter Natur und Romantik. Denn durch die Bewohnerin jenes oben beschriebenen Cottages findet nun eine weitere Ebene ins Buch hinein.

In Dulcie jubilo

Die Cottage-Bewohnerin trägt den Namen Dulcie und übt schon ab der erstern Begegnung eine große Faszination auf Robert aus. Zusammen mit ihrem Schäferhund Butters lebt die ältere Dame nahezu autark in ihrem Cottage, umgeben von anderswo rationierten Köstlichkeiten und Büchern.

Die Begegnung mit ihr erweist sich als Glücksfall für Robert. Denn was als zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich im Lauf des Buchs zu einer bereichernden Freundschaft. Dulcie ist weltgewandt, hat einen eigenen Kopf und weckt in Robert die Liebe zur Literatur. Die alte Dame entpuppt sich als humanistische Aufklärerin im besten Sinne, die Robert zu eigenständigem Denken herausfordert. So findet der Junge auch zu seiner Liebe für Lyrik. Eine Liebe, die sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen soll.

Offene See ist ein Buch, das die Natur und die Lyrik auf sehr direkte Art und Weise feiert. Das sollte beim Blick auf die Vita Benjamin Myers auch nicht überraschen. Denn Myers schreibt nicht nur Lyrik, sondern auch Sachbüchern, in denen er sich mit Themen rund um die Natur und Landschaften beschäftigt. Mit dem Vorgängertitel errang Myers auch den Roger-Deakin-Award, der sich zeitlebens ja ebenfalls dem Nature Writing widmete.

Sprachliche Mängel

Für mich bleibt nur die Frage bestehen, warum sich ein Lyriker und gefeierter Schriftststeller dann trotz aller unbestrittenen Qualität solche Ausrutscher erlaubt, wie sie immer wieder im Buch zu beobachten sind.

Wenn die Müdigkeit mich überkam, verbrachte ich die Nacht in Scheunen und Schuppen und längst verlassenen Wohnwagen, und mehrmals schlief ich den Schlaf des Gerechten eingezwängt zwischen dichten Heckenwänden aus Brombeersträuchern und Stechpalmen, die vielleicht schon seit dem Mittelalter hier wuchsen, drei Meter hoch und so undurchdringlich wie die Stacheldrahtrollen in Bergen-Belsen.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 22

Warum es hier einen KZ-Vergleich braucht, um eine Hecke zu beschreiben, will mir nicht in den Kopf (natürlich spielt das Buch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dennoch ist so ein Vergleich für mich reichlich unmotiviert und deplatziert).

Oder eine andere Stelle, an werden ich Ich-Erzähler „die Augen wieder schwer“ (S. 98). Schwere Augenlider kenne ich, schwere Augen hingegen nicht – oder vielleicht ist das der Claus-Kleber-Effekt, den Myers hier beschreibt?

Aber Spaß beiseite, solche sprachlichen Schludereien finde ich etwas irritierend, wenn weiter hinten im Buch dann sprachlich so viel sensiblere Lyrik präsentiert wird, die großes Sprachvermögen zeigt. Für die Übersetzung zeichnen sich Ulrike Wasel und Klaus Timmermann verantwortlich, die in meinen (nicht schweren) Augen ihre Sache eigentlich sehr gut machen.

Fazit

In Offene See inszeniert Benjamin Myers die Natur schwelgerisch, manchmal ganz knapp am Kitsch vorbei, manchmal auch leicht darüber. Mit seinem ungewöhnlichen Duo Robert und Dulcie stellt er dem romantischen Natur-Überschwang auch Elemente des klassischen Bildungsroman entgegen und kontrastiert sein Buch so auf reizvolle Art und Weise.

Wenn man bereit ist, einige sprachliche Schludereien oder Ausrutscher in Kauf zu nehmen, bekommt man hier ein berührendes Buch zu lesen, das den Hohegesang auf Kultur und Bildung anstimmt und das ein England heraufbeschwört, das dem heutigen Brexit-Land so fern erscheint wie Dulcies Cottage der Zivilisation. Zudem ausnehmend schön gestaltet!

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