Tag Archives: Musik

David Mitchell – Utopia Avenue

Ein altes Bonmot des Musikjournalismus lautet, dass das Schreiben über Musik dem Tanzen von Architektur ähnele. Auch in David Mitchells Roman Utopia Avenue greift der britische Schriftsteller diese Sentenz auf und zeigt zugleich, dass diese grundfalsch ist. Denn Mitchell macht in seinem Roman Musik erlesbar. So liefert er in seinem jüngsten Roman die mitreißende Biografie einer fiktiven britischen Band, erweckt die 60er Jahre eindrucksvoll wieder zum Leben und schreibt nebenbei gleich noch am eigenen literarischen Kosmos weiter.


Fiktive Biografien erfreuen sich unter britischen Schriftstellern großer Beliebtheit. William Boyd etwas erfand mit Nat Tate einen fiktiven Künstler, dessen Leben er in einer Biografie präsentierte und gleich hinterher mithilfe von Größen wie David Bowie oder Gore Vidal die passende Party zu Ehren seines fiktiven Protagonisten gab, auf der viele der Anwesenden schworen, Nat Tate selber zu kennen.

Auch David Mitchell bewährt sich nun in diesem Genre, obgleich er keine Täuschungsmanöver wie sein Kollege William Boyd durchführt. Aber mit seiner Biografie einer fiktiven Band schafft er es ungemein plastisch, vom Rock ’n Roll der 60er Jahre zu erzählen und eine Band zu kreieren, deren Existenz man durchaus Glauben schenken könnte.

Die Karriere von Utopia Avenue

David Mitchell - Utopia Avenue (Cover)

Aus Sicht der vier Bandmitglieder erzählt er von der Entstehung der unvergleichlichen Band Utopia Avenue, die sich durch das Zutun des Musikmanagers Levon Frankland in London gründet. Er bringt den in Geldnöten schwebenden Bassisten Dean Holloway, den Schlagzeuger Griff Griffin, die Folksängerin Elf Holloway und den ebenso eigenwilligen wie außergewöhnlichen Gitarristen Jasper de Zoet zusammen.

Den Bandfindungsprozess, das Ringen um künstlerische Identität und den steinigen Weg zum Erfolg schildert Mitchell ausgiebig und wechselt dabei auch immer wieder zwischen den Perspektiven der einzelnen Bandmitgliedern. Intensiv beschwört sein Roman die Atmosphäre des Swinging London in den 60er Jahren herauf. Die Welt der verrauchten Kneipen und Musikstudios in Soho ist diejenige, in der sich der Roman in der ersten Hälfte bewegt, ehe sich die Welt mit weiteren Platten und Touren für die Künstler*innen über den Atlantik hinweg weitet.

Eintauchen in die Musikwelt der 60er Jahre

Utopia Avenue begutachtet die Kennzeichen einer vergangenen Musikwelt lange vor Streamingdiensten und Handymitschnitten von Konzerten. Die harte Arbeit, die es bedeutet, eine Band zu sein und neidvoll auf erfolgreiche andere britische Gruppen wie die Beatles oder die Rolling Stones zu blicken, das vermittelt Mitchell eindrücklich. Das mangelnde Verständnis im heimischen Umfeld, die Skepsis gegenüber diesen langhaarigen Musikern, die Kunst des Songwriting, Korruption im Musikbusiness und halbseidene Manager – all das greift sein Roman auf.

Zwischen Orten der Musikgeschichte wie dem Chelsea Hotel und dem Troubadour in Los Angeles und Cameos von Stars wie Frank Zappa bis hin zu David Bowie lässt einen der Roman tief in die Musikgeschichte eintauchen. Mitchell kreiert mit seiner fiktiven Bandbiografie einen in höchstem Maße unterhaltsamen Roman, der darüber hinaus noch ein wichtiger Baustein im Gesamtwerk von David Mitchell ist.

Verbindungen zu anderen Werken David Mitchells

Denn natürlich lässt sich Utopia Avenue völlig unabhängig von anderen Werken David Mitchells lesen. Noch mehr Spaß macht die Lektüre allerdings, wenn man schon in den Genuss früherer Werke von David Mitchell kam. Allen voran Der Wolkenatlas und Die tausend Herbste des Jacob de Zoet sind als Titel zu nennen, auf die der jüngste Roman des Briten vielfach rekurriert.

„Elf! Elf! ELF! Elf! Elf! ELF!“ Die Frau führte den Mund an Elfs Ohr. „Ich bin Luisa Rey vom Spyglass Magazine, aber das ist eine andere Geschichte – viel Glück und das Atmen nicht vergessen.“

Elf atmet. „Okay.“

David Mitchell – Utopia Avenue, S. 472#

Nicht nur Größen der Musikgeschichte bestreiten in Utopia Avenue Gastauftritt – auch einige Figuren aus David Mitchells anderen Werken haben hier ihre Auftritte und leben somit über frühere Bücher hinaus. Luisa Rey, die in der zitierten Szene Elf Mut zuspricht, kennt man schon aus Der Wolkenatlas, wo sie die zentrale Figur einer der sechs im Buch miteinander verknüpften Geschichten war. Dieses Prinzip spinnt Mitchell weiter, allen voran, wenn sich die Handlung aus dem historisch-fantastischen Roman Die tausend Herbste des Jacob de Zoet in diesem Buch weiterspinnt.

Denn die Vergangenheit, sie ist natürlich nie vergangen. Und wenn es im Wolkenatlas heißt, dass wir mit anderen in der Vergangenheit und der Gegenwart verbunden sind, dann gilt das natürlich nicht nur für den bekanntesten Roman von Mitchell, sondern auch für sein Gesamtwerk und damit auch für Utopia Avenue. Im Falle von Jasper ist es die Vergangenheit seiner Vorfahren in Japan zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die sich mit ihm verbindet und diesen Roman ganz Mitchell-typisch auch ein Stück ins Fantastische gleiten lässt.

Fazit

So zupft Utopia Avenue Handlungsbögen aus anderen Werken mal etwas direkter, mal in kaschierter Form an und fügt das Buch neben seiner solitären Lesebarkeit auch in das übrige vielgestaltige Werk David Mitchells ein, ohne dass die Lesbarkeit des Buchs in irgendeiner Form darunter leiden würde.

Utopia Avenue ist eine höchst unterhaltsame Zeitkapsel, die die 60er Jahre in Soho und an anderen zentralen Stellen der Musikkultur dicht erlebbar aufschließt und die von Mitchells Stammübersetzer Volker Oldenburg wieder einmal fabelhaft ins Deutsche übertragen wurde. Auch ohne Kenntnis anderer Werke David Mitchells ist das ein großer Lesespaß, der sich durch die Kenntnisse anderer Werke aber noch einmal verstärkt und auch das Bedürfnis weckt, (wieder) tiefer in seinen Erzählkosmos einzutauchen.

Und nicht zuletzt beweist er, dass es eben doch geht, über Musik zu schreiben und sie alleine mit Worten fast hörbar zu machen.


  • David Mitchell – Utopia Avenue
  • Aus dem Englischen von Volker Oldenburg
  • ISBN 978-3-498-00227-5 (Rowohlt)
  • 752 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Eckhart Nickel – Punk

Vom WG-Casting zur Punkband zum großen Auftritt in nur einem Tag. Eckhart Nickel entwirft in seinem neuen Roman Punk eine wilde Fantasie um zwei Bohemiens und Karen, die auf der Suche nach einem WG-Zimmer in ein wildes Abenteuer rund um Musik, das Verschwinden derselben und ein weißes Kaninchen stolpert. Klingt wirr? Ist es auch.


100.000 Euronen als Gewinn eines Musikwettbewerbs. Das ist die verheißungsvolle Aussicht, mit der die Zwillingsbrüder Ezra und Lambert Karen überraschen, obwohl diese eigentlich schon überwältigt ist von dem, was ihr schon kurz nach dem Betreten der Wohnung der beiden jungen Männer widerfährt. Eigentlich wollte sie sich nur für ein WG-Zimmer bewerben und findet sich dadurch in einem Abenteuer um die Schaffung einer Punkband wieder, und das obwohl in der Welt des Romans eigentlich Musik und Lärm verschwunden sind. PUNK ist ein Erzählwerk, das in Sachen Absurdität und Kunstemphase zum bemerkenswertesten gehört, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in diesem Herbst bislang hervorgebracht hat.

Schon der Anblick der an der Garderobe aufgehängten Jacken signalisiert Karen, das hier etwas ganz Besonderes auf sie wartet, als sie zu Beginn des Romans die Wohnung von Lambert und Ezra betritt. Denn im Muster der aufgehängten Textilien erkennt sie die Melodie des Beatles-Klassikers Strawberry Fields, was sich Auftakt dieser wilden Geschichte entpuppt, die sich, nachdem sich Nickels Vorgängerroman Spitzweg mit der Welt der Malerei befasste, nun mit dem weiten Feld von Musik und Film beschäftigt. Nickel-typisch arbeitet er mit seinen literarischen Gestaltungsmitteln hart an der Grenze zur Synästhesie und flicht jede Menge zitierte Musik in seinen Erzählkosmos ein, obwohl diese eigentlich nicht mehr existiert.

WEISSER LÄRM und ein weißes Kaninchen

Die Umgebung, in der PUNK spielt, muss man sich erst einmal in Ansätzen erschließen, so unvermutet wird man von Nickel in diese Geschichte geworfen. Denn in einer nicht näher benannten Zukunft kam es einige Jahre zuvor zum Auftreten des sogenannten WEISSEN LÄRMs, der sich wie akustischer Schnee über die Welt gelegt hat. Warum genau und wie das vonstattenging, es bleibt im Roman so blass wie die Akustik, die fortan die Welt prägt. Ein Ministerium für Unterhaltung sorgt seit diesem Ereignis für die Einhaltung der Stille. Musik, Klänge und Töne sind verpönt.

Eckhart Nickel - PUNK (Cover)

Gegen dieses Diktat der Stille lehnen sich die Zwillingsbrüder Lambert und Ezra auf, die Karen im Zuge ihres WG-Castings kennenlernt. Denn kaum sind die ersten Sätze bezüglich des WG-Zimmers gewechselt, schon klingelt es an der Tür und das Ordnungsamt steht in der Wohnung. Karen wird von den Brüdern kurzerhand in einem schalldichten Raum versteckt, der sich als gut gedämmtes Musikstudio entpuppt. Anwesend im Raum ist auch Pierre-August, ein schneeweißes Kaninchen, das besonders Aaron Coplands Musikstück Appalachian Spring schätzt.

Nach dem Abzug der Ordnungshüter machen sich die Brüder mit Karen und Pierre-August im Schallstudio bekannt, um sie dann in ihr eigentliches Vorhaben einzuweihen. Denn Lambert und Ezra wollen kurzerhand eine Punkband gründen – und Karen soll ihre Sängerin werden. Auf einem Festival haben sie Kenntnis von einem Bewerb erlangt, der im Ministerium für Unterhaltung stattfinden soll und bei dem sie am nächsten Tag antreten möchten.

Wirr und sprunghaft

Klingt diese grobe Nachzeichnung der narrativen Linien bis hierhin unglaublich wirr und durcheinander? Sie ist es, ebenso wie die Handlung dieses Romans. Denn Eckhart Nickels Buch entpuppt sich bei der Lektüre als noch deutlich wirrer als diese kurze Zusammenfassung der grundlegenden Handlungsbausteine. Eine konsistente und plausible Nacherzählung des Geschehens in diesem Roman ist kaum möglich. Denn Nickels Text zitiert nicht nur Lewis Carroll und das weiße Kaninchen, dieser Roman liest sich selbst wie ein wilder Trip in ein Wunderland, allein das Nickels Alice auf den Namen Karen hört.

Irgendwo zwischen einer akustischen Variante von Ray Bradburys Fahrenheit 451 und einem spontanen Punkgig rangiert PUNK. Man wird in die Welt der Bohemien-Brüder geschleudert, die auf Pol Roger-Champagner und Graved-Lachs mit Honig-Senf-Tunke schwören und deren Dialoge an Künstlichkeit kaum zu überbieten sind:

Ezra deutete auf die Porzellanschale: „Karen, ungelogen, wenn mir nicht schon dieses als schnöder deutscher Meerrettich getarntes, schon wieder diese Camouflage, also jenes heimtückische Wasabi-Derivat hier, die Tränen in die Augen getrieben hätte, dann würde ich jetzt vor Glück weinen. Was für grandiose Ideen du hast!“

Eckhart Nickel – PUNK, S. 125

Auf der nächsten Seite bekennt sein Bruder, dass er „wahnsinnigen Durst auf einen Schluck perlenden Lebenssaft“ hätte. Es sind Dialoge fernab jeglicher Lebensrealität und Plausibilität, die sich aber in das künstliche Gepräge des ganzen Romans gut einpassen.

Musik-, Film-, Mode- und Selbstreferenzen

Eckhart Nickel spielt mit Selbstreferenzialität, etwa wenn die Grundstruktur der beiden jungen Männer und Karen dazwischen die erzählerische Grundkonstruktion des Vorgängerromans aufgreift, in dem sich Kirsten, die Freundin Karens, in einer ähnlichen Lage wiederfand, womit Nickel den Anschluss an seinen einst für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman herstellt.

Zum Vor-Vorgänger Hysteria gibt es ebenfalls Links, etwa durch die Klavierlehrerin Karens, die ihre Schüler mit Erik Satie quält und auf den höchst künstlerischen Namen Mme. Framboisée hört. Mit ebenjenen Himbeeren begann die Geschichte von Nickels Debütroman, die in eine Welt voller Künstlichkeit entführte, wie sie Eckart Nickel auch hier wieder, nun in Form einer Dystopie, entwirft.

Leider verliert der Roman mich schnell als Leser, da der Roman in seiner zwischen opaker WEISSER LÄRM-Welt und überspannter Künstlichkeit und Hektik der Brüder in ihrer Wohnung, zwischen Champagner, weißem Hasen und Punkmusik-Produktion und GROSSGESCHRIEBENER BEGRIFFE zu keinem tragfähigen Erzählton findet.

Zitatkanonanden

Für meinen Geschmack leider deutlich zu wirr an der Grenze zur Unverständlichkeit zitiert sich dieser Roman zwischen Nickels eigenem Werk, Mode, Filmen und allen voran der Musik zu Tode. Mit seitenweisen popkulturellen Überlegungen etwa zu David Lynchs Twinpeaks und Songzitaten und Musiktiteln von The Smiths bis hin zu Franz Ferdinand oder Vampire Weekend (deren Sänger Ezra König wiederum auf Ezra als Erzählfigur rekurrieren könnte, und so weiter, und so fort) überlädt Nickel diesen Roman und vergisst über seinen Zitatkanonaden seine eigentliche Geschichte.

Natürlich könnte man einwenden, dass Punk genauso sein müsse. Mal bei anderen Künstler*innen klauend, dann rumpelig, dann mit wieder laut und überfordernd – und am Ende auch rätselhaft. Persönlich erscheinen mir die erzählerischen Mittel Eckart Nickels allerdings für die Welt der bildenden Kunst im Gebiet der Malerei mitsamt seinem Spitzweg deutlich überzeugender als der Einsatz, den er hier für sein Schreiben finden. PUNKt.


  • Eckhart Nickel – PUNK
  • ISBN 978-3-492-07282-3 (Piper)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Mathias Enard – Kompass

Vom Weben von Brücken zwischen dem Orient und dem Okzident. Davon handelt Mathias Enards wissensatter (und manchmal schon fast wissensübersättigter) Roman Kompass, für den der französische Schriftsteller 2015 den Prix Goncourt zugesprochen bekam und der von Wien bis nach Palmyra führt.


Kompass ist einer jener Romane, bei denen sich die gesamte Handlung über lediglich einen Tag erstreckt – oder im Falle von Enards Buch eine einzige Nacht. Die durchwacht der von Krankheit und Gedanken gepeinigte Erzähler Franz Ritter in seiner Wiener Wohnung. Wach hält ihn nicht nur seiner Körper – sondern vor allem Erlebtes und Geschichten, die ihm permanent durch den Kopf geistern und an denen er uns teilhaben lässt. So ensteht eine Gedanken- und Erinnerungswelt irgendwo zwischen Fiebertraum, Opiumrausch und Scheherazade.

Es sind vor allem zwei Themen, die Ritters schlaflose Nacht begleiten und bestimmen: zuvorderst ist es sein Lebensthema des Orientalismus, dem er als Musikwissenschaftler seine akadamische Karriere gewidmet hat. Von Jules Massenet über Félicien David zu Mozarts Alla Turca wandern seine Gedanken und stellen Verbindungen zwischen den Werken und Einflüssen her, wie es die Komponisten selbst mit der Klangwelt des Orients und des Okzidents taten.

Doch nicht nur in dieser Hinsicht versucht sich Ritter am Brückenschlag zwischen den beiden Welten. Auch sein Leben und sein Begehren der Orientalistin Sarah sorgt für eine Synthese des Ostens und des Westens. Denn immer wieder kreuzte er den Lebensweg der Forscherin, begab sich einst mit ihr in die Wüste und nach Palmyra – begegnete ihr aber auch in seiner österreichischen Heimat, wo beide etwa an einem Symposium in der Steiermark teilnahmen. Dort, in der Wohnstatt des berühmten Orientalisten Hammer-Purgstall, trafen die beiden Forschenden mit ihren Lebensthemen der Orientalistik und der Musik einmal mehr aufeinander – und verstärkten so die zwischenmenschliche Verbindung und Verflechtung ihrer Leben.

Brückenschlag zwischen Orient und Okzident

Überhaupt, das Thema der Verbindung, des Gemeinsamen, des Gespiegelten, des Brückenschlags zwischen (scheinbar) verschiedenen Polen, das kennzeichnet Kompass zuvorderst. Nicht umsonst eröffnet dieser sprachmächtige, von Holger Fock und Sabine Müller ins Deutsche übertragene Roman mit dem Bild einer Spiegelung, der sich Franz Ritter nächtens in der Fensterscheibe seiner Wohnung gegenübersieht.

Mathias Enard - Kompass (Cover)

Immer wieder spürt Ritter in seinen nächtlichen Kontemplationen dem Komplementären nach, wandern seine Gedanken aus der Wohnung hinaus auf die gegenüberliegende Seite der Welt. Die Beschäftigung mit dem eigenen Werdegang, seiner Bildung und Studienzeit, die Begegnung mit besonderen Individuen, im Laufe der Zeit – und immer wieder zu Sarah. Das ist die Welt, die Enards Kompass zeigt und beschreibt.

Ein Kompass wäre manchmal auch für den Roman selbst allerdings eine gute Idee. Denn der Roman leidet bei aller Statik von Ritters Situation und der permanente Durchmessung von Vergangenheit, Erinnertem und Erlebtem unter einer Fülle an Kultur und Wissen, die nicht nur bildungsgesättigt und stupend ist – sondern manchmal schon etwas zu überwältigend.

Denn Mathias Enard ist tatsächlich in der Lage, diese wissenspralle und sprachlich schwindelnd machende Stilistik über 400 enge Seiten beizuhalten und so die Lektüre auch zu einer Herausforderung in Sachen Lesedisziplin und Aufmerksamkeit werden zu lassen.

Eine Fülle an Figuren, historischer Episoden und Wissen

Schnell wechseln sich in diesem wilden Gedankenstrom und Wissenstrudeln die ungemein gebildete Betrachtungen Ritters ab, stellen Verbindungen her und zitieren eine Unmenge vom Orient faszinierter westlicher Figuren, von Begründer der arischen Rassenlehre und einst im Iran tätigen Graf Gobineau über die Schweizer Schritstellerin Annemarie Schwarzenbach bis hin zu Marga d’Andurain, der „Königin von Palmyra“.

Zur Lektüre von Kompass empfiehlt sich ein Notizblock oder besser noch ein geöffnetes Browserfenster, um die Hintergründe der angerissenen Schicksale oder Werke etwas ausführlicher zu recherchieren. So faszinieren unter anderem etwa die auch von Steffen Kopetzky erzählte Geschichte des Plans eines deutschen Dschihad, das Wirken von Robert Musils Bruder Alois Musil als zeitweiliger Gegenspieler von T. E. Lawrence, die Geschichte der „Halbmondlager“ bis hin zum unglaublichen Fall von Draculas Urahnen in der Steiermark, die Mathias Enard in diesem barocken Wissensstrudel nur streift, die wiederum aber selbst wieder ganz eigene Welten eröffnen.

Auch weitet die Lektüre von Enards Buch den eigenen musikalischen Horizont immens und schließt auch hier neue Klangwelten auf, wenn man sich denn auf die teilweise doch recht apokryphen Komponisten und ihre Werke einlässt, etwa in Form der heute so gut wie vergessenen sinfonische Dichtung Le desert von Félicien David, in der er eine Symbiose der Klangwelten des Orients und des Okzidents versuchte. Kompass ist voller solcher Entdeckungen, wenn man sich von Mathias Enard dazu verführen lässt.

Fazit

Man sollte sich Zeit und Geduld nehmen, um den ganzen Bildungsfäden zu folgen, die Mathias Enard in dieses dichte Bildungsgewebe namens Kompass webt. Vergangenheit und Gegenwart, Orient und Okzident, Begehren und Unerreichtes, Poesie, Reportagen, Bilder, Nachtgedanken und Erinnerungen verbinden sich hier zu einer herausfordernden, manchmal überwältigenden, manchmal anstrengenden, aber immer lohnenswerten Lektüre, für die der hochgebildete Franzose nicht umsonst 2015 den Prix Goncourt errang.


  • Mathias Enard – Kompass
  • Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
  • ISBN 978-3-446-25315-5 (Hanser Berlin)
  • 432 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage

Romane, die vom Überleben in der Natur erzählen, liegen im Trend. Das zeigen viele der Neuerscheinungen in letzter Zeit. Da wäre etwa Gabriel Tallents Mein Ein und Alles, in dem der Autor von einem Mädchen und dessen Vater erzählt, der sich als Prepper auf das Überleben in der Natur vorbereitet und sein Kind als Waffe erzieht und prägt. Diesem mit zu viel literarischen Geschmacksverstärkern, krasser Explizität und Fehltönen aufgeladenen Roman folgten eine ganze Riege an thematisch ählich gelagerten Romanen.

Mick Kitson tat dies mit Sal, und machte seinen Job deutlich besser. Auch C. H. Beck brachte eine Überlebensgeschichte in der Wildnis auf den Markt. Diese lieferte Rye Curtis mit dem Titel Cloris und erzählte von der gleichnamigen Seniorin, die sich nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der Bitterroot Mountains durchschlägt. Während eine alkoholkranke Rangerin die Seniorin sucht, kämpft sich diese mithilfe eines mysteriösen Helfers durch die unwirtliche Natur.

Auch könnte man Michael Crummeys Schilderung des Überlebenskampfes eines Geschwisterpaars vor der rauen Kulisse Neufundlands um 1800 in diese Reihe stellen. Oder in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt wäre Edan Lepuckis California zu nennen. Viele Bücher also, zu denen sich nun auch noch Claire Fullers Roman Unsere unendlichen Tage gesellt. Ein Roman, der viele Themen und Motive der eingangs erwähnten Bücher in sich vereint.

Trotzdem sollte man dieses Buchs nicht der billigen Kopie oder einer lieblosen Amalgamierung von bereits Bestehendem bezichtigen. Denn dieser Roman ist das Debüt Claire Fullers, der eigentlich schon 2015 erschien, nun aber erstmals auf Deutsch vorliegt. Ein Buch, das viele der späteren Themen der Autorin vorwegnimmt und das vom Überleben in der Bergwelt Bayerns erzählt.


Liest man Unsere unendlichen Tage, so ist man erstaunt, wie viele Motive und Themen sich hier finden, die später in den Romanen der Britin wichtig werden sollten.

Sie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Peggy, die in den 70ern als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter aufwächst. Ihre Mutter Ute ist eine gefeierte Konzertpianistin, die sogar den renommierten Chopin-Wettbewerb gewonnen hat. Ihr Vater ist das, was wir heute als Prepper bezeichnen. Ein Apokalyptiker, der sich mittels hauseigenem Atombunker, Listen und Vorräten auf das Überleben nach einem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereitet. Als ihre Mutter zu einer längeren Konzertreise aufbricht, beginnt Peggys Vater zusammen mit ihr eine Reise.

Eine Reise, die sie über den Ärmelkanal führen wird, quer durch verschiedene Länder, ehe die beiden einer Bergregion ankommen, in der die Bewohner Bajuwarisch sprechen, wie ihr Vater es Peggy erklärt. Er ist von der Idee einer hutta besessen, die sich dort irgendwo in den Bergen befinden soll. Nach einiger Suche stoßen die beiden tatsächlich auf die Überreste einer Hütte, die zum Unterschlupf der beiden für die nächsten acht Jahre werden soll. Die Menschheit, so erklärt es Peggy ihr Vater, ist vernichtet worden, hinter den Gipfeln und einem reißenden Fluss befindet sich das Nichts. Nur sie beiden hätten überlebt, so geht die Geschichte ihres Vaters, die Peggy zunächst nicht hinterfragt.

Vom Überleben in der Natur

Claire Fuller - Unsere unendlichen Tage (Cover)

Immer wieder springt Claire Fuller in ihrem Roman zwischen den Ereignissen in jenen acht Jahren und der Gegenwart des Jahres 1985 hin- und her. Peggy ist in der erzählten Gegenwart zurück im Elternhaus – inzwischen hat sie sogar einen Bruder bekommen. Doch der ganze Umfang der damaligen Ereignisse und die Hintergründe liegen noch im Nebel. Erst allmählich dröselt sie ihre Geschichte auf, verbindet Erkenntnisse aus der Gegenwart mit Zurückliegendem.

Unsere unendlichen Tage ist eine Geschichte, die vom Überleben erzählt und die die Natur mitsamt all ihrer Reize und Gefahren ausleuchtet. Stark, wie Claire Fuller die archaische Bergwelt inszeniert. Der reißende Fluss, die reichhaltige Flora und Fauna, aber auch die tödlichen Gefahren durch lange Winter und Waldbrände. Fuller zeichnet das Überleben in der Natur in sämtlichen Schattierungen.

Dass die Plausibilität des Debüts manchmal etwas auf der Strecke bleibt, möchte ich hier nicht verschweigen. Dass Peggy und ihr Vater unbemerkt in dieser Hütte acht Jahre leben sollten, das scheint mir auch im Bayerischen Wald der 70er Jahre etwas übertrieben, vor allem eingedenk der Tatsache, dass der Bayerische Wald seit dem Jahr 1970 Nationalpark ist. Zwei Menschen in einer Hütte, unbemerkt von Landvermessern, Waldarbeitern oder Jägern, da scheint doch die Realität mit der Fiktion zu kollidieren.

Nicht immer ist dieses Erählen ganz präzise, manchmal bleiben Leerstellen, auch die Auflösung deutet sich schon etwas zu klar an. Die psychologische Ausdeutung des Vaters bleibt durch den kindlichen Blick Peggys über lange Zeit auf der Strecke und wird genauso wie die räumliche Verortung des Schauplatzes erst sehr spät angegangen. Dennoch hat das alles Wucht – für ein Debüt läuft der Erzählmotor erstaunlich rund und kraftvoll.

Viele spätere Themen sind schon angelegt

Blickt man nun auf diesen Erstling zurück, ist es auch faszinierend, wie viele Themen aus den folgenden Werken Claire Fullers hier schon angelegt sind.

Da ist zunächst die Kultur als Überlebenstechnik, wie sie später für Ingrid in Eine englische Ehe essenziell wird. Wo Ingrid die Literatur zum Leitstern der eigenen Existenz wird, ist es in Unsere unendlichen Tage die Musik in Form eines selbstgebauten Klaviers, das sich Peggy und ihr Vater ausgedacht haben. Darauf lernt Peggy das Klavierspiel und kehrt immer und immer wieder zu Lizsts La Campanella zurück, das ihr Kraft und Trost spendet.

Doch nicht nur die Kultur ist schon hier als Motiv zu entdecken, auch die Natur spielt immer wieder im Schreiben Claire Fullers eine Rolle, etwa wenn das Herrenhaus in Bittere Orangen langsam von der Natur zurückerobert wird, während die Beziehungen der Protagonist*innen ebenfalls großen Veränderungen unterworfen sind.

Auch die Frage weiblicher Selbstbestimmung ist ein Motiv, das sowohl Unsere unendlichen Tage als auch die späteren Romane der Autorin prägt. Das Erkennen eigener Bedürfnisse, die Ausprägung eines eigenen Charakters gegen männliche Widerstände, das ist etwas, das die Autorin merklich umtreibt.

Schön, wie man diese ganzen Motive und ihre Entwicklung nun dank des abermals von Susanne Höbel ins Deutsche übertragenen Debütromans verfolgen kann. Hier ist eine Autorin zu entdecken, die sich mit jedem Buch neu erfindet, in ihren übergreifenden Motiven aber treu bleibt – und das auf einem erfreulich hohem Niveau.

Fazit

Trotz aller Mängel und kleinen Unwuchten im Erzählen ist Unsere unendlichen Tage ein beeindruckendes und nachhallendes Buch. Für ein Debüt schnurrt der Erzählmotor hier bereits sehr rund. Claire Fuller gelingt ein Buch, das vom Überleben in der Natur und der Rettungskraft der Musik erzählt. Im Konzert der eingangs erwähnten Überlebenstitel kann Fullers Roman absolut bestehen.

Schön, dass dieses nachgereichte Debüt nun endlich auf Deutsch vorliegt. Claire Fuller wäre größerer Ruhm zu gönnen – ihr vielfältiges Schreiben verdient es!


  • Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-492-05828-5 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Paula Irmschler – Superbusen

Es gibt zweifelsohne attraktivere Orte als Chemnitz. Und es gibt auch deutlich attraktivere Vornamen für eine Mittzwanzigerin als Gisela. Aber es hilft ja alles nichts – Gisela ist nun mal in Chemnitz gelandet. Wie es dazu kam, was die junge Frau dort treibt und was es mit dem ominösen Superbusen auf sich hat, davon erzählt Paula Irmschler in ihrem Debüt. Keine große Literatur, aber ein Buch, das Spaß macht und einige Debatten unserer Tage aufgreift.


Thorsten, das hättest du mir so nicht zugetraut
Ich hab‘ die Technik ganz alleine aufgebaut
Natürlich muss da nochmal jemand drüber schauen
Doch ich hab‘ das ganz ordentlich verkabelt für ’ne Frau .

So singt es reichlich selbstironisch die Chemnitzer Band Blond, die aus den beiden Schwestern Nina und Lotta Kummer und Johann Bonitz besteht. Weiter heißt es in ihrem Song Thorsten:

Hör nicht drauf
Wenn ich mich über den Sound beklage
Weil der Sound ist nicht schlecht, hey
Ich hab einfach meine Tage
Aber scheiß drauf, scheiß auf den Ton
Weil das reicht aus, du sagst du regelst das schon
Mach da kein Ding draus, wir sollen jetzt nicht so tun
Am Ende sind wir eh nur hübsche Dekoration

Blond – Thorsten

Zwar ist Giselas Band Superbusen nicht ganz so bekannt wie die Band der Kummer-Schwestern. Die Probleme, die sie in ihrem Text ansprechen, sind aber auch Gisela wohlbekannt. Als Frau in einer Band gilt man automatisch als weniger kompetent. Paternalistische Tontechniker wollen den Frauen erklären, wie der Hase läuft. So viel Mühe in Sachen Sound gibt man sich für weibliche Bands eh nicht. Und so etwas wie Respekt erntet man für seine Musik eh kaum.

Wenig Schwung im Leben

Paula Irmschler - Superbusen (Cover)

Doch den hätte Giselas Punkband Superbusen alleine schon für ihren Titel oder Songtitel wie Sterbeschlüpfer oder Thomas Goletz, du hast mein Leben zerstört verdient. Zusammen mit anderen antriebslosen Freund*innen gründet sie ihre Band, die ihrem Leben etwas Schwung verleihen soll. Denn bislang ist von Schwung oder Zielstrebigkeit in Giselas Leben nichts auszumachen.

Sämtliche Semsterverlängerungen und Prüfungsverschiebungen sind ausgereizt. Auf dem Konto herrscht Ebbe. Das WG-Zimmer in Chemnitz kostet zwar kaum etwas – Lebensqualität sieht aber auch anders aus. Zusammen mit anderen linken Kommiliton*innen plant man Aktionen, fährt in andere Städte, demonstriert gegen Rechts, wird von Neonazis gejagt und verprügelt. Man schnorrt sich so durch das Leben. Der richtige Schwung aber, er fehlt.

Ein Lebensgefühl, das auch die bekannteste Chemnitzer Band Kraftklub (die aus der anderen Hälfte des Kummer-Clans besteht) in ihrem Song Karl-Marx-Stadt vertont hat.

Ich steh‘ auf keiner Gästeliste, ich bin nicht mal cool
In einer Stadt, die voll mit Nazis ist, Rentnern und Hools
Ich cruise Banane essend im Trabant um den Karl-Marx-Kopf
Die Straßen menschenleer und das Essen ohne Farbstoff
Diskriminiert, nicht motiviert
Von der Decke tropft das Wasser, nichts funktioniert
Und so wohnen wir in Sachsen auf modernden Matratzen
Immer gut drauf auch ohne Kohle in den Taschen

Kraftklub – Karl-Marx-Stadt

Die Armut, die Motivations- und Antriebslosigkeit, sie kann man auch in Paula Irmschlers Roman wiederfinden. Ihr Chemnitz ist ebenfalls voll von Hooligans und Nazis. Die unfassbaren Ausschreitungen von Chemnitz 2018, die Aufmärsche, die Hetzjagden und die darauffolgende Demonstration unter dem Motto #wirsindmehr spielen in ihrem Buch eine Rolle. Die Zerrissenheit der Stadt, die Dominanz der Rechten, die Schwäche der Linken – sie finden sich in Superbusen wieder und wird von ihr durchaus treffend analysiert.

In Marburg sind alle [Linken] sehr viel progressiver unterwegs und machen Lesekreise und Plena. Wir hatten nie Lesekreise, wir haben nicht mal besonders viel gelesen. Unsere Plena waren einfach Treffen unter Freunden und Bekannten, bei denen etwas schlecht gefunden, etwas dagegen geplant und irgendwann lustige YouTube-Videos angemacht wurden. Wir waren nicht anti-intellektuell, wir hatte nur immer anderes zu tun.

Irmschler, Paula: Superbusen, S. 210

Literarisch betrachtet schwach

Literarisch betrachtet ist Superbusen schwach. Das Buch ist eng dran an Umgangssprache, so etwas wie Eleganz und Rhythmus findet sich in Irmschlers Prosa nicht. Sätze wie die folgende sprechen für sich.

Als ich nach Chemnitz zog, war wie heute Montag. Es war Oktober und hat geregnet wie Sau.

Irmschler, Paula: Superbusen, S. 39

Ebenso antriebslos wie Giselas Leben ist auch das Buch selbst. Ein Handlungsbogen oder so etwas wie eine Beschleunigung hin zu einem bestimmten Ereignis, es fehlt. Die lakonische Handlung tritt auf der Stelle, wenngleich Gisela durch die halbe Republik gondelt, den Kölner Karneval besucht oder Superbusen gründet. Es geht kaum etwas vorwärts. Und trotzdem macht das Buch durch seine schnoddrige Erzählweise, den Humor, die gesellschaftliche Relevanz Spaß.

Auch greift Irmschler Themen wie das Erstarken der Rechten, die Schwäche der Linken, Diskriminierung von (dicken) Frauen im Popgeschäft oder Tabuthemen wie Menstruation auf, die hier angenehm unaufgeregt nebenbei einfließen. Der feministische Einschlag des Buchs ist klar erkennbar – und er tut Superbusen gut.

Wie ist das Buch nun also zu bewerten? Für mich ein typischer Fall von einem Easy Read, wie gemacht für den Sommer. Ein gelungener Blick in ein linkes Milieu, der in der zeitgenössischen Literatur so nicht häufig gewagt wird. Sprachlich eher wenig relevant, gesellschaftlich schon eher. Ein feministischer Pop-Roman mit gutem Soundtrack.

Diesen Beitrag teilen