Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Ein Mann kehrt aus dem Krieg zurück nach Wien – und sucht nach seinem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Ehe. Die Kaiserstadt von Paul Zifferer ist eine echte Wiederentdeckung und auch genau 100 Jahre nach Erscheinen noch höchst lesenswert.


Seine Heimatstadt Wien erkennt Toni Muhr kaum, als er am 30. November 1916 den Fuß auf heimischen Boden setzt.

Toni Muhr erinnerte sich später nicht mehr, wie er vom Westbahnhof auf den Neuen Markt geraten war. Er fühlte Müdigkeit und Schwere in allen Gliedern und hatte nur den einen Wunsch, so schnell als möglich nach Hause zu gelangen.

Paul Zifferer, Die Kaiserstadt, S. 7

Denn statt dem wohlgeordneten Leben auf den Plätzen und Gassen der Hauptstadt des Kaiserreichs herrscht in der ganzen Stadt Gedränge und eine Stimmung zwischen Euphorie und Trauer. Denn zeitgleich mit der Ankunft Toni Muhrs in der Stadt wird der greise Kaiser Franz Joseph I. zu Grabe getragen.

Nach einer 68 Jahre währenden Regentschaft ist der Habsburgische Kaiser verstorben und mit ihm kurz darauf auch die Monarchie in Österreich. Doch davon ist an jenem 30. November noch nichts zu merken. Vielmehr will jeder noch einmal einen Blick auf den Toten erhaschen – und auch Toni Muhr sieht den Leichenzug passieren, ehe Franz Joseph I. dann in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche zur letzten Ruhe gebettet wird.

Rückkehr nach Hause

Aufgehalten vom Leichenzug drängt es den jungen Mann allerdings vielmehr nach Hause, das er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Denn er geriet als abgeordneter Soldat im Ersten Weltkrieg in serbische Kriegsgefangenschaft, während der für die österreichisch-ungarischen Truppen kämpfte.

Paul Zifferer - Die Kaiserstadt (Cover)

Traumatisiert von den Erlebnissen, von Hunger und Entbehrung kehrt er nun heim und freut sich auf sein Zuhause in der Stallburggasse. Dort findet er in seiner Atelierwohnung aber schon wieder Ungewohntes vor. Denn statt seiner Gattin Lauretta, der er aus dem Felde noch Briefe schrieb, ist nur das Hausmädchen Poldi anwesend. Seine Gattin ist unterwegs – und wird ihm später ganz unbeschwert und scheinbar unbeeindruckt unter die Augen treten.

Während seiner Abwesenheit hat sie, die einer Familie mit guten Verbindungen entstammt, weiter auf dem gesellschaftlichen Parkett der Haupstadt verkehrt und lässt sich auch durch die Rückkehr ihres Gatten nur wenig aus dem Konzept bringen.

Toni Muhr fühlt sich eher wie ein Gast im eigenen Haus – und wird durch ein weiteres Vorkommnis zudem noch mehr aus der Bahn geworfen. Denn seine Forschungen zur Anwendung für Tierkohle, an der er vor dem Ausbruch des Krieges im Privaten forschte und seinen Vorgesetzten zum Patent vorschlug, sind aus seiner Studierstube verschwunden. Kurze Zeit darauf später erfährt er, dass diese Forschungen inzwischen zu einem Kriegspatent durch seinen Arbeitgeber, die Chemiefabrik der Brüder Katlein, eingereicht und zur Marktreife gebracht wurden.

Kohlhaas in Austria

In Toni Muhr erwacht der Geist der Rebellion und er beschließt auch mithilfe seines Schwagers Rudi Saluzzo, sich zu wehren. In der Folge wird er zu einer Art österreichischem Kohlhaas, der für die Anerkennung und Auszahlung seiner Forschungsarbeit eintritt und später sogar einen Prozess gegen die Chemiefabrikanten Katleins anstrengt.

Doch dabei rennt Toni Muhr immer wieder gegen unsichtbare Schranken und wittert eine Verschwörung. Hat ihn seine Gattin Lauretta hinter seinem Rücken betrogen und gemeinsame Sache mit den Katleins gemacht? Haben diese in der Stadt überall an entscheidenden Stellen Kontakte, mit der sie den Kampf Muhr um Wiederherstellung seines Rufs und seiner Ehre hintertreiben? Mithilfe von Rudi Saluzzo und der gewieften Fürstin Lubecka, zu der er auch in Liebe entflammt, versucht er auf verschiedenen Wegen, Gerechtigkeit zu erlangen und die Katleins zu einer Anerkennung seiner Leistung zu zwingen.

Paul Zifferer schildert in Die Kaiserstadt ein Wien im Umbruch. Der alte Kaiser ist tot und damit auch die Gewissheit einer ruhigen Regentschaft, in der alle Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft wussten. Die Reste dieses Standesbewusstseins lassen sich im Roman des österreichischen Journalisten und Übersetzers genauso besichtigen wie die neue Welt, die durch die normative Kraft des Kriegs geschaffen wurde. Kriegswirtschaft, sozialer Abstieg und neue Netzwerke im Bürgertum beschreibt Die Kaiserstadt genauso, wie es auch das alte, königlich und kaiserliche Wien vermisst.

Denn bei seinem Kampf um Gerechtigkeit begibt sich Toni Muhr in die Hände der gewieften Gräfin, von deren Palais aus er auf eine nicht immer wirklich vorhersehbare Tour für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschickt wird. So besucht er Minister während Debatten im Paralament, wird dem Erzherzog bei einem Hauskonzert vorgestellt, wird in Redaktionsstuben vorstellig und begibt sich sogar bis ins Heurigen-Viertel nach Grinzing, wo er die Buschenschänke seines Vaters, eines Weinbauern zu Heurigen- und Wienerliedern besucht.

Das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch

So ist Die Kaiserstadt zugleich genau angelegtes Porträt der alten Wiener Gesellschaft, genauso wie über dem ganzen Text schon die Ahnung einer neuen Welten- und Gesellschaftsordnung liegt. Paul Zifferer erweist sich als genauer Chronist dieses Wiens, das er stimmungsvoll und durchaus auch komisch einzufangen weiß. Sein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kämpfe seiner Heldinnen und die Anpassungen an die Zeit und Umstände jener Zeit des Ersten Weltkriegs haben nichts von ihrer Schärfe und Prägnanz verloren, auch wenn diese durch die gehobene und manchmal schon etwas antiquierte Sprache das auf den ersten Blick verstellen mag.

Aber auch wenn hier noch Münder zum Kusse gereicht werden und das Haar falb schimmert, so ist Die Kaiserstadt doch ein großartiger Lesegenuss, der als echte Wiederentdeckung gefeiert werden muss und die uns einen genauen Blick auf die österreichische beziehungsweise wienerische Gesellschaft vor hundert Jahren erlaubt (die dabei aber auch – ganz Chronist- alle zeittypischen Zwischentöne enthält, so auch Antisemitismus, der sich im Hass Toni Muhrs auf die jüdischen Fabrikanten Katlein äußert. Auch das sollte an dieser Stelle Erwähnung finden).

Und gleich erklärte er: „Ein Erfolg wie der Ihre, ist für uns alle wichtig. Sie sind nämlich“ – der Abgeordnete lächelte – „Etwas ganz Rares hierzulande… so eine Art wienerischer Kohlhaas.“

Toni Muhr wehrte ab: „Man hat mir das schon einmal gesagt“, entgegnete er, „aber ich glaube nicht, dasse s gut ist, als Michael Kohlhaas durch die Welt zu rennen, oder besser, ich glaube es nicht mehr. Und seien wir nur aufrichtig – ein wienerischer Kohlhaas ist ein Ding wider die Natur: Er muss im Jammer enden… Sehen Sie“, schloss Toni Muhr bitter, „der wirkliche Kohlhaas stirbt durch Henkershand, doch seine beiden Rappen, auf die es ihm ankam, an denen seiner Seele Seligkeit hin, werden dickgefüttert. Sein wienerischer Vetter kann sogar Amtmann werden, vorausgesetzt, dass er zum Postmeister taugt, die armen Pferde aber verrecken.“

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt, S. 358

Die Wiederentdeckung eines Vergessenen

Gleich zwei Nachworte sind es, die Die Kaiserstadt flankieren und das Leben von Paul Zifferer einordnen. Während sich Rainer Moritz inhaltlich dem 1923 publizierten Roman nähert, widmet sich Katharina Prager in ihrem Nachwort dem Werk und dem Leben Paul Zifferes.

Sie zeichnet darin das Bild eines Mannes, der sich mit den gehobenen Kreisen Wiens gut zu vernetzen wusste und der sich mit seinem journalistischen und übersetzerischen Wirken, als Diplomat und später auch als Presseattaché zeitlebens für die österreichisch-französische Völkerfreundschaft einsetzte.

Doch auch wenn seine Beschäftigung mit der Literatur Frankreichs sein Schreiben beeinflusst haben mag und die Presse der Alpenrepublik bei Erscheinen Der Kaiserstadt Zifferer als eine Art österreichischen Balzac pries: seine Bekanntschaft mit Hugo von Hoffmannsthal oder Arthur Schnitzler bewahrte ihn jedoch auch nicht vor scharfen Urteilen, das Arthur Schnitzler wie folgt in seinem Tagebuch notierte:

Las Ziffereres Roman „Kaiserstadt“. Wie man, ohne jede wirkliche Begabung, einen durchaus correcten Roman schreiben kann. (Und in wenigen Jahren wird er unlesbar sein.)

Arthur Schnitzlicher in seinem Tagebuch 1923

Ein Urteil, das man dank des editorischen Bemühens des Reclam-Verlags nun aber auch hundert Jahre nach Erscheinen mühelos entkräften kann. Denn dieser Roman ist wirklich mehr als lesbar und vor allem lesenswert. Eine echte Wiederentdeckung, die nichts von ihrer Frische und Präzision verloren hat!


  • Paul Zifferer – Die Kaiserstadt
  • Mit Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz
  • ISBN 978-3-15-011443-8 (Reclam)
  • 396 Seiten. Preis: 28,00 €
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[…] was angesichts des Lebens und der Beschäftigung von Maria Leitners nicht verwundert, wie es Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Hotel Amerika […]

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[…] von filigranen Spielereien und Versuchen beschäftigt, fasziniert ihn auch das Leben in der Kaiserstadt, das so viel schneller, lauter und bunter ist als jenes in der Provinz, der er entstammt. Nicht nur […]