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Sarah Gilmartin – Service

Ein Restaurant der Spitzenklasse, eine Servicekraft, ein Küchenchef, seine Frau – und dann steht da mitten im Raum der schwerwiegende Vorwurf einer Vergewaltigung. Was das mit den Beteiligten macht und wie sie auf das (möglicherweise) Geschehene blicken, das erkundet die irische Schriftstellerin Sarah Gilmartin in ihrem Roman Service.


Vor wenigen Wochen sorgte einmal mehr eine ein juristischer Lehrfilm aus der Feder Ferdinand von Schirachs für Aufsehen. Während er in Terror die Zuschauer selbst zu einer Jury in einem Gerichtsverfahren werden ließ, so wendete er sich im Fernsehfilm Er sagt, sie sagt dem Sujet einer mutmaßlichen Vergewaltigung zu, bei der Aussage gegen Aussage der Beteiligten steht.

Es ist kein ganz neues Konzept, die Schwierigkeit einer Wahrheitsfindung nach solchen Anschuldigung, der prozessualen Dynamiken und den widersprüchlichen Aussagen herauszuarbeiten. Was beispielsweise der Prozess um den Wettermoderator Jörg Kachelmann unter großem Interesse der Öffentlichkeit und sensationsheischender Boulevardmedien-Begleitung in realiter zeigt, auch in der Literatur wird es immer verhandelt.

So schilderte die Autorin Bettina Wilpert in Nichts, was uns passiert schon fast lehrbuchhaft die Aufarbeitung einer potentiellen Vergewaltigung, die sich in einer Sommernacht in Leipzig ereignet haben könnte. Sie nutzte dazu ebenso wie Schirach zwei Perspektiven, um die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Perspektiven nebeneinander zu stellen um so auch auf das Interessanteste zu blicken: das Dazwischen, in dem die Wahrheit liegen könnte.

Der Service, die Ehefrau, der Spitzenkoch

Auch Sarah Gilmartin bedient sich für ihren Roman Service dieser Erzählweise, indem sie mehrere Perspektiven nebeneinanderstellt, die auf das blicken, was sich im legendären Dubliner Restaurant, das hier nur T geheißen wird, abgespielt haben könnte.

Dafür kommen zu Wort: Hannah, die als Servicekraft eines der Gesichter des nahe des Unterhauses des irischen Parlaments gelegenen Edelrestaurants war. Daniel Oswald Costello, der als Küchenchef hinter den Kulissen für außergewöhnliche kulinarische Genüsse sorgte und mit seinen Kochkünsten den Ruhm des Restaurants mehrte. Julie, seine Ehefrau, die zusammen mit Daniel und den beiden Kindern in einem noblen Anwesen wohnt und schon seit langer Zeit mit Daniel verheiratet ist.

Sarah Gilmartin - Service (Cover)

Sie sind die drei zentralen Figuren in diesem Roman, die aus ihren Augen auf das Geschehen blicken, das sich hinter den Türen des T ereignet haben könnte und das aufgrund der Prominenz Daniels für viel Aufmerksamkeit und Paparazzi vor der Haustür der Costellos sorgt. Denn Daniel steht vor Gericht, weil ihm durch eine ehemalige Mitarbeiterin eine Vergewaltigung vorgeworfen wird.

Einstweilen ruht das Geschäft im T und die Figuren beginnen sich zu erinnern. Julie daran, wie das mit der Beziehung zu Daniel anfing, für den Frauen entweder Süße oder Schlampen sind und der mit seinem Charme und seiner Präsenz Menschen im Handumdrehen für sich einnehmen kann. Hannah daran, wie es zuging im Restaurant, wie man die herausfordernden Schichten zwischen ordinärem Küchenpersonal auf der einen und den anstrengenden Kunden auf der anderen Seite der Küchentür überstand. Und Daniel, wie es ist, vor Gericht zu stehen, zusammen mit seiner Anwältin eine Verteidigungsstrategie zu entwerfen und von alten Bekannten nicht mehr gegrüßt zu werden.

Drei Blicke auf das Geschehene

Aus diesen drei Strängen montiert Sarah Gilmartin eine spannende Erzählung, die durch ihre erzählerischen Gegenschüsse, das Miteinander aus Gegenwart und Rückblenden auf die atemlose Atmosphäre des Restaurantbetriebs überzeugt. Nicht ganz so ambivalent schwebend wie die zitierten Erzählungen liegt bei Sarah Gilmartin der erzählerische Fokus weniger auf der Frage, was wirklich passiert ist, sondern konzentriert sich eher auf die Dynamiken und Prozessen, die nach den Anschuldigungen einsetzen und auf die die Beteiligten ganz unterschiedlich reagieren.

Wie sich Daniel als Opfer von Neidern und „aufmerksamkeitsgeilen“ Me-Too-Hysterikerinnen sieht, wie Julie trotz der Kenntnis des Charakters ihres Mannes weiterhin das Familienleben aufrecht erhält und wie Hannah mit den eigenen Erinnerungen und dem Erlebten hadert, das verbindet sich in Service zu einer mitreißenden Lektüre, die durch die multiperspektivische Erzählweise noch einmal gewinnt und die Schwierigkeiten einer Anklage nach einem sexuellen Übergriff eindrücklich vor Augen führt.

Dass der im Roman geschilderte Prozess so in der Realität kaum möglich wäre, da die Hürden (nicht nur) in Irland nach solchen Anschuldigungen noch einmal höher sind, peinliche Befragungen, Verzögerungen in der Bearbeitung und andere Widerstände inklusive, all das lässt schlucken, ist Sarah Gilmartins Buch doch schon so harter Tobak. Der Umstand, dass es das System Menschen nach einem Übergriff gegenwärtig noch einmal schwerer macht, ist wirklich schwer zu fassen und braucht eben solche Bücher wie das von Sarah Martin, die unterhaltsam und nicht platt moralisierend vor Augen führen, was sich ändern muss.

Fazit

Service ist ein überzeugend geschilderter Roman, der durchdacht montiert aus drei Blickwinkeln auf das Tun und Treiben hinter den Kulissen eines Spitzenrestaurants blickt. Sarah Gilmartin gelingt ein eindrücklicher Roman, der von den erniedrigenden Prozeduren in einem Prozess nach dem Vorwurf einer Vergewaltigung erzählt, wie er auch die Verteidigung und die Angehörigen in einem solchen Prozess klug in den Blick nimmt. Ebenso unterhaltsam wie aufrüttelnd!


  • Sarah Gilmartin – Service
  • Aus dem irischen Englische von Anna-Christin Kramer
  • ISBN 978-3-0369-5018-1 (Kein & Aber)
  • 320 Seiten. 24,00 €
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Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Ein Mann kehrt aus dem Krieg zurück nach Wien – und sucht nach seinem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Ehe. Die Kaiserstadt von Paul Zifferer ist eine echte Wiederentdeckung und auch genau 100 Jahre nach Erscheinen noch höchst lesenswert.


Seine Heimatstadt Wien erkennt Toni Muhr kaum, als er am 30. November 1916 den Fuß auf heimischen Boden setzt.

Toni Muhr erinnerte sich später nicht mehr, wie er vom Westbahnhof auf den Neuen Markt geraten war. Er fühlte Müdigkeit und Schwere in allen Gliedern und hatte nur den einen Wunsch, so schnell als möglich nach Hause zu gelangen.

Paul Zifferer, Die Kaiserstadt, S. 7

Denn statt dem wohlgeordneten Leben auf den Plätzen und Gassen der Hauptstadt des Kaiserreichs herrscht in der ganzen Stadt Gedränge und eine Stimmung zwischen Euphorie und Trauer. Denn zeitgleich mit der Ankunft Toni Muhrs in der Stadt wird der greise Kaiser Franz Joseph I. zu Grabe getragen.

Nach einer 68 Jahre währenden Regentschaft ist der Habsburgische Kaiser verstorben und mit ihm kurz darauf auch die Monarchie in Österreich. Doch davon ist an jenem 30. November noch nichts zu merken. Vielmehr will jeder noch einmal einen Blick auf den Toten erhaschen – und auch Toni Muhr sieht den Leichenzug passieren, ehe Franz Joseph I. dann in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche zur letzten Ruhe gebettet wird.

Rückkehr nach Hause

Aufgehalten vom Leichenzug drängt es den jungen Mann allerdings vielmehr nach Hause, das er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Denn er geriet als abgeordneter Soldat im Ersten Weltkrieg in serbische Kriegsgefangenschaft, während der für die österreichisch-ungarischen Truppen kämpfte.

Paul Zifferer - Die Kaiserstadt (Cover)

Traumatisiert von den Erlebnissen, von Hunger und Entbehrung kehrt er nun heim und freut sich auf sein Zuhause in der Stallburggasse. Dort findet er in seiner Atelierwohnung aber schon wieder Ungewohntes vor. Denn statt seiner Gattin Lauretta, der er aus dem Felde noch Briefe schrieb, ist nur das Hausmädchen Poldi anwesend. Seine Gattin ist unterwegs – und wird ihm später ganz unbeschwert und scheinbar unbeeindruckt unter die Augen treten.

Während seiner Abwesenheit hat sie, die einer Familie mit guten Verbindungen entstammt, weiter auf dem gesellschaftlichen Parkett der Haupstadt verkehrt und lässt sich auch durch die Rückkehr ihres Gatten nur wenig aus dem Konzept bringen.

Toni Muhr fühlt sich eher wie ein Gast im eigenen Haus – und wird durch ein weiteres Vorkommnis zudem noch mehr aus der Bahn geworfen. Denn seine Forschungen zur Anwendung für Tierkohle, an der er vor dem Ausbruch des Krieges im Privaten forschte und seinen Vorgesetzten zum Patent vorschlug, sind aus seiner Studierstube verschwunden. Kurze Zeit darauf später erfährt er, dass diese Forschungen inzwischen zu einem Kriegspatent durch seinen Arbeitgeber, die Chemiefabrik der Brüder Katlein, eingereicht und zur Marktreife gebracht wurden.

Kohlhaas in Austria

In Toni Muhr erwacht der Geist der Rebellion und er beschließt auch mithilfe seines Schwagers Rudi Saluzzo, sich zu wehren. In der Folge wird er zu einer Art österreichischem Kohlhaas, der für die Anerkennung und Auszahlung seiner Forschungsarbeit eintritt und später sogar einen Prozess gegen die Chemiefabrikanten Katleins anstrengt.

Doch dabei rennt Toni Muhr immer wieder gegen unsichtbare Schranken und wittert eine Verschwörung. Hat ihn seine Gattin Lauretta hinter seinem Rücken betrogen und gemeinsame Sache mit den Katleins gemacht? Haben diese in der Stadt überall an entscheidenden Stellen Kontakte, mit der sie den Kampf Muhr um Wiederherstellung seines Rufs und seiner Ehre hintertreiben? Mithilfe von Rudi Saluzzo und der gewieften Fürstin Lubecka, zu der er auch in Liebe entflammt, versucht er auf verschiedenen Wegen, Gerechtigkeit zu erlangen und die Katleins zu einer Anerkennung seiner Leistung zu zwingen.

Paul Zifferer schildert in Die Kaiserstadt ein Wien im Umbruch. Der alte Kaiser ist tot und damit auch die Gewissheit einer ruhigen Regentschaft, in der alle Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft wussten. Die Reste dieses Standesbewusstseins lassen sich im Roman des österreichischen Journalisten und Übersetzers genauso besichtigen wie die neue Welt, die durch die normative Kraft des Kriegs geschaffen wurde. Kriegswirtschaft, sozialer Abstieg und neue Netzwerke im Bürgertum beschreibt Die Kaiserstadt genauso, wie es auch das alte, königlich und kaiserliche Wien vermisst.

Denn bei seinem Kampf um Gerechtigkeit begibt sich Toni Muhr in die Hände der gewieften Gräfin, von deren Palais aus er auf eine nicht immer wirklich vorhersehbare Tour für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschickt wird. So besucht er Minister während Debatten im Paralament, wird dem Erzherzog bei einem Hauskonzert vorgestellt, wird in Redaktionsstuben vorstellig und begibt sich sogar bis ins Heurigen-Viertel nach Grinzing, wo er die Buschenschänke seines Vaters, eines Weinbauern zu Heurigen- und Wienerliedern besucht.

Das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch

So ist Die Kaiserstadt zugleich genau angelegtes Porträt der alten Wiener Gesellschaft, genauso wie über dem ganzen Text schon die Ahnung einer neuen Welten- und Gesellschaftsordnung liegt. Paul Zifferer erweist sich als genauer Chronist dieses Wiens, das er stimmungsvoll und durchaus auch komisch einzufangen weiß. Sein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kämpfe seiner Heldinnen und die Anpassungen an die Zeit und Umstände jener Zeit des Ersten Weltkriegs haben nichts von ihrer Schärfe und Prägnanz verloren, auch wenn diese durch die gehobene und manchmal schon etwas antiquierte Sprache das auf den ersten Blick verstellen mag.

Aber auch wenn hier noch Münder zum Kusse gereicht werden und das Haar falb schimmert, so ist Die Kaiserstadt doch ein großartiger Lesegenuss, der als echte Wiederentdeckung gefeiert werden muss und die uns einen genauen Blick auf die österreichische beziehungsweise wienerische Gesellschaft vor hundert Jahren erlaubt (die dabei aber auch – ganz Chronist- alle zeittypischen Zwischentöne enthält, so auch Antisemitismus, der sich im Hass Toni Muhrs auf die jüdischen Fabrikanten Katlein äußert. Auch das sollte an dieser Stelle Erwähnung finden).

Und gleich erklärte er: „Ein Erfolg wie der Ihre, ist für uns alle wichtig. Sie sind nämlich“ – der Abgeordnete lächelte – „Etwas ganz Rares hierzulande… so eine Art wienerischer Kohlhaas.“

Toni Muhr wehrte ab: „Man hat mir das schon einmal gesagt“, entgegnete er, „aber ich glaube nicht, dasse s gut ist, als Michael Kohlhaas durch die Welt zu rennen, oder besser, ich glaube es nicht mehr. Und seien wir nur aufrichtig – ein wienerischer Kohlhaas ist ein Ding wider die Natur: Er muss im Jammer enden… Sehen Sie“, schloss Toni Muhr bitter, „der wirkliche Kohlhaas stirbt durch Henkershand, doch seine beiden Rappen, auf die es ihm ankam, an denen seiner Seele Seligkeit hin, werden dickgefüttert. Sein wienerischer Vetter kann sogar Amtmann werden, vorausgesetzt, dass er zum Postmeister taugt, die armen Pferde aber verrecken.“

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt, S. 358

Die Wiederentdeckung eines Vergessenen

Gleich zwei Nachworte sind es, die Die Kaiserstadt flankieren und das Leben von Paul Zifferer einordnen. Während sich Rainer Moritz inhaltlich dem 1923 publizierten Roman nähert, widmet sich Katharina Prager in ihrem Nachwort dem Werk und dem Leben Paul Zifferes.

Sie zeichnet darin das Bild eines Mannes, der sich mit den gehobenen Kreisen Wiens gut zu vernetzen wusste und der sich mit seinem journalistischen und übersetzerischen Wirken, als Diplomat und später auch als Presseattaché zeitlebens für die österreichisch-französische Völkerfreundschaft einsetzte.

Doch auch wenn seine Beschäftigung mit der Literatur Frankreichs sein Schreiben beeinflusst haben mag und die Presse der Alpenrepublik bei Erscheinen Der Kaiserstadt Zifferer als eine Art österreichischen Balzac pries: seine Bekanntschaft mit Hugo von Hoffmannsthal oder Arthur Schnitzler bewahrte ihn jedoch auch nicht vor scharfen Urteilen, das Arthur Schnitzler wie folgt in seinem Tagebuch notierte:

Las Ziffereres Roman „Kaiserstadt“. Wie man, ohne jede wirkliche Begabung, einen durchaus correcten Roman schreiben kann. (Und in wenigen Jahren wird er unlesbar sein.)

Arthur Schnitzlicher in seinem Tagebuch 1923

Ein Urteil, das man dank des editorischen Bemühens des Reclam-Verlags nun aber auch hundert Jahre nach Erscheinen mühelos entkräften kann. Denn dieser Roman ist wirklich mehr als lesbar und vor allem lesenswert. Eine echte Wiederentdeckung, die nichts von ihrer Frische und Präzision verloren hat!


  • Paul Zifferer – Die Kaiserstadt
  • Mit Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz
  • ISBN 978-3-15-011443-8 (Reclam)
  • 396 Seiten. Preis: 28,00 €
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Karine Tuil – Diese eine Entscheidung

Zwischen Wissen und Gewissen, Vernunft und Impuls pendelt in Karine Tuils neuem Roman die Antiterror-Staatsanwältin Alma Revel. Sie muss Diese eine Entscheidung treffen, die unmittelbare Konsequenzen für sie und ihr Umfeld haben wird. Darf man einen potentiellen Attentäter in vorbeugende Haft nehmen, auch wenn eigentlich alle Zeichen für eine De-Radikalisierung sprechen? Welchen Preis sind wir bereit, für unsere Freiheit zu zahlen?


Mit diesen Fragen bekommt es Alma Revel ganz unmittelbar zu tun. Denn im Namen des Staates soll sie im Fall von Abdeljalil Kacem entscheiden, der zusammen mit seiner Frau Sonja Dos Santos aus Syrien nach Frankreich heimgekehrt ist. Die Frage, vor der die Antiterror-Staatsanwältin nun steht, ist eine, die man auch aus der Serie Homeland kennt. Geht von dem Kacem und seiner Frau eine unmittelbare Gefahr aus – oder ist die Beteuerung des Heimkehrers glaubwürdig, dass ihm die Zeit dort im IS-Herrschaftsgebiet die Augen geöffnet hat? Hat er wirklich dem Fanatismus abgeschworen – oder sind das nur vordergründige Lippenbekenntnisse? Keine leichte Entscheidung, die Alma treffen muss, vor allem da sie auch privaterweise gerade gefordert ist.

Ich heiße Alma Revel. Ich bin am 7. Februar 1967 in Paris zur Welt gekommen.

Ich bin neunundvierzig Jahre alt.

Ich bin die einzige Tochter von Robert Revel und Marianne Darrois.

Ich bin französische Staatsangehörige.

Getrennt lebend, Mutter von drei Kindern.

Ich bin Ermittlungsrichterin in der Abteilung Terrorismusbekämpfung.

Karine Tuil – Diese eine Entscheidung, S. 15

Alma vermengt auf ungute Weise Privates und Dienstliches. Denn getrennt von ihrem Mann lebend stürzt sie sich in eine Affäre ausgerechnet mit dem Mann, der Abdeljalil Kacem vor Gericht verteidigt. Bald schon verschwimmen die Grenzen. Das Private beeinflusst die Anwältin, deren professionelles Urteilsvermögen schon bald empfindlich getrübt wird – mit katastrophalen Folgen, wie sich zeigen wird.

Probleme mit dem gewählten Erzählansatz

Karine Tuil - Diese eine Entscheidung (Cover)

Dabei erweist sich in Diese eine Entscheidung die von Karine Tuil gewählte Erzählkonstruktion leider als deutlicher Schwachpunkt. Denn der eigentlichen Handlung vorangestellt ist ein Prolog, in dem Alma die auf einem Bildschirm die Auswirkungen eines brutalen Attentats zu sehen bekommt. Die Frage, die im folgenden Text und den dazwischengeschalteten Verhörprotokollen über zwei Drittel des Buchs erörtert wird, ist damit eigentlich schon hinfällig. Inwieweit ist die Wandlung des IS-Sympathisanten Kacem glaubhaft? Diese Frage, auf der der Spannungsbogen beruht, sie ist schon vorab gelöst und verpufft damit recht wirkungslos. Zu keinem Zeitpunkt gibt es in den ersten Dritteln damit wirkliche Spannung oder Neugier.

Stattdessen läuft das Buch auf einen klaren Punkt hinaus, der schon initial bekannt ist, wenngleich Karine Tuil die Gewissensabwägungen und Entscheidungen im Prozess glaubhaft darstellt und gerade Alma Revel in ihrem undankbaren Job, als Mutter und Geliebte durchaus facettiert darstellt. Aber überraschend ist an der ganzen Erzählung nicht. Bis im letzten Drittel die Konsequenzen von Almas Entscheidung Thema sind.

Späte Wucht

Plötzlich hat Diese eine Entscheidung jene Wucht, die dem Buch in den beiden vorherigen Dritteln fehlte. Ohne zu viel verraten zu wollen, sind die Auswirkungen von Almas Entscheidung fatal und beeinflussen durch ihre professionelle Entscheidung einmal mehr ihr privates Leben. Die Ereignisse in Paris, die im November 2015 die Welt erschütterten, sie werden dann noch einmal ganz unmittelbar und präsent.

Hier zeigt sich Karine Tuil dann die Qualitäten, die ich an ihr als Autorin so schätze. Politik, Gesellschaftskritik an unseren blinden Flecken, Betrachtung unserer Lebensweise aus verschiedenen Blickwinkeln und eine schonungslose Analyse bestehender Zustände und der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit.

All das bietet sie in Diese eine Entscheidung auf – und doch hätte das Buch diese Wirkung in ganz anderer Weise entfaltet, hätte sie sich für eine andere Erzählweise entschieden und den verräterischen Prolog einfach weggelassen.

Fazit

Diese eine Entscheidung ist das Porträt eines eigentlich sehr professionellen Staatsanwältin, die durch ihr Privatleben in ihren Entscheidungen beeinflusst wird – mit katastrophalen Folgen. Karine Tuil gelingt ein nuanciertes Bild einer Frau zwischen Rationalität und Gefühlen, deren Dilemmata sich eindrucksvoll vermitteln. Hätte Tuil dafür allerdings eine bessere Erzählstrategie ohne die allzu verräterische Exposition gewählt, das Buch hätte deutlich gewonnen, davon bin ich überzeugt.


  • Karine Tuil – Diese eine Entscheidung
  • Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
  • ISBN 978-3-423-29036-4 (dtv)
  • 352 Seiten. Preis: 23,00 €
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Casey Cep – Grimme Stunden

Sechs Morde, ein Prediger und Harper Lees letzter Roman

Zeit Verbrechen, Stern Crime, zahlreiche Dokumentationen echter Verbrechen in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: das Genre des True Crime boomt. Die Nacherzählungen und Aufbereitungen von Morden und anderen Gräueltaten erfreuen sich größter Beliebtheit. Die Medien haben diesen Trend schon lang erkannt und bedienen die Nachfrage fleißig. Man irrt jedoch, reduziert man die Faszination am Genre True Crime auf ein Merkmal unserer Zeit.

Denn schon vor Jahrzehnten gab es diese sensationslüsterne Betrachtung solcher Verbrechen. Man denke etwa nur an Truman Capotes Roman Kaltblütig aus dem Jahr 1965, der den Mehrfachmord an einer Farmerfamilie in Kansas beschreibt. Eine enge Freundin Truman Capotes, die ebenfalls nach einem literarischen Ausdruck für die Darstellung eines Verbrechens suchte, war Harper Lee. Die Journalistin Casey Cep schildert in ihrem erzählenden Sachbuch Grimme Stunden den Versuch Harper Lees, einen Tatsachenroman über einen todbringenden Reverend im Alabama der 70er Jahre zu schreiben. Gewissermaßen der Fall eines True Crime-Buchs im True Crime-Buch.


Für ihre Erzählung wählt Casey Cep eine Dreigliederung. Im ersten Teil erzählt sie die Geschichte des Reverend William Maxwells. Dieser wirbt in Alabama für seinen Glauben, ist selbst aber alles andere als fromm. Immer wieder kommt es zu mysteriösen Morden im Umfeld des Predigers. Man findet mehrmals Partnerinnen oder Verwandte von Maxwell ermordet in Autos, die am Rande von Straßen achtlos abgestellt wurden. Ein Nachweis der Tötung durch den Prediger fällt allerdings schwer. Eine Mordanklage muss niedergeschlagen werden.

Auffallend aber: immer wenn ein Verwandter oder Partner stirbt, profitiert William Maxwell von zahlreichen zuvor abgeschlossenen Lebensversicherungen. Nicht nur bei den Versicherern lässt die Totenquote im Umfeld des Predigers die Alarmglocken schrillen.

Nach insgesamt sechs Morden in seinem Umfeld, steht William Maxwell dann wieder vor Gericht, wo er während des Prozesses erschossen wird. Damit endet der erste Part von Grimme Stunden.

Ein mörderischer Prediger, ein Verteidiger, Harper Lee

Casey Cep - Grimme Stunden (Cover)

Der zweite Teil behandelt dann die Geschichte von Tom Radney, der als Anwalt für den Mörder William Maxwells vertritt. Sie erzählt von seiner Prozessführung, der Gewinnung von Geschworenen, den taktischen Manövern vor Gericht. Ebenso erzählt Cep auch von Radneys Geschichte, die bestürzend aktuell wirkt. Als demokratischer Bewerber wollte er sich für einen Sitz im Senat bewerben und eine Stimme für die benachteiligte schwarze Bevölkerung im Süden sein. Aufgrund einer Kampagne sah er sich allerdings von Verleumdung und Bedrohung ausgesetzt, sodass er sich letztendlich von seinen politischen Ambitionen verabschiedete. Stattdessen erfand er sich gut vernetzter Strippenzieher und Ansprechpartner für sämtliche Belange neu. Und so ist er es, der den Todesschützen verteidigt.

Eine genaue Beobachterin des Prozesses ist Harper Lee, deren Geschichte den letzten und größten Teil des Sachbuchs einnimmt. Sie war nach dem Welterfolg ihres Romans Wer die Nachtigall stört auf der Suche nach neuem Material. Ihr enger Freund Truman Capote hatte eine neue Möglichkeit aufgezeigt, um Realität in Literatur zu verwandeln. Und auch wenn sie mit Capotes Umsetzung haderte, so war das Genre des True Crime doch eine reizvolle Möglichkeit für Harper Lee, um neuen literarischen Grund zu betreten.

Von ihrer Karriere, ihrer Freundschaft mit Capote, ihrem Versuch den Stoff in den Roman „The Reverend“ umzuwandeln (der schlussendlich nie erschien und verloren ist), davon erzählt sie in diesem letzten Teil.

Ein erzählendes Sachbuch mit leichten Mängeln

Und bei aller Begeisterung für das mitreißende Material: als erzählendes Sachbuch und True-Crime-Schilderung in der Schilderung konnte mich Grimme Stunden doch nicht rechtlos überzeugen.

Das beginnt bei der Übersetzung (Claudia Wenner), in der so einiges ruckelt und knirscht (was soll eine „Akkuratheit“ sein, ist es nicht viel mehr Akuratesse? Hätte man den „Saupfad“ nicht viel besser mit dem geläufigeren „Viehwechsel“ übersetzt?). Und auch im Erzählen von Casey Cep entdeckte ich ein paar Punkte, die mich störten.

So besitzt Grimme Stunden immer wieder Passagen, die ausufern und zahlreiche Hintergrundinfos liefern, die in ihrer Fülle und Genauigkeit nicht wirklich zum Vorankommen der Handlung beitragen. Die Flutungen und der Dammbau in Alabama werden zur Einleitung über mehrere Seiten hinweg geschildert. Die Entstehung und Auswüchse von Lebensversicherungen werden lang und breit erörtert. Die Lebensgeschichte von Tom Radney wird ausführlich geschildert (und ist in ihren Parallelen zur heutigen Zeit durchaus frappierend) – zum Ablauf des Prozesses trägt sie allerdings nicht sonderlich viel bei. Und auch in Sachen Harper Lee startet Casey Cep bei Adam und Eva. Ein wenig mehr Fokussierung und erzählerische Stringenz hätte dem Buch gut getan. Denn mit über 400 Seiten plus einem fünfzig Seiten langen Anmerkungsapparat fordert Grimme Stunden viel Aufmerksamkeit und Disziplin vom Leser ein. Ein paar Straffungen und ein konzentrierter Fokus hätten zumindest mir die Lektüre erleichtert

Fazit

Der Kern, der in Grimme Stunden steckt, ist wirklich spannend. Auch bietet das Buch immer wieder Anknüpfungspunkte in unsere Gegenwart hinein. Als Schilderung eines True Crime-Verbrechens und als Biographie überzeugt Casey Ceps Debüt leider nicht vollumfänglich. Für das nächste Buch wäre eine klarer erzählerische Ausrichtung und eine bessere Übersetzung wünschenswert.

Eine weitere Meinung zu Casey Ceps Buch gibt es von Sonja Hartl auf Dlf Kultur.


  • Casey Cep – Grimme Stunden
  • Aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner
  • ISBN 978-3-550-08162-0 (Ullstein)
  • 480 Seiten. Preis: 24,00 €
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