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Maria Leitner – Hotel Amerika

Ihr Roman Hotel Amerika zählte zu einem der ersten Werke, das die Nationalsozialisten 1933 im Zuge ihrer Bücherverbrennung in die Flammen warfen. In einer Neuausgabe lässt sich nun der einst verfemte Roman Maria Leitners aus dem Jahr 1930 wiederentdecken und zeigt eine scharfsichtige Autorin, die vom Klassenkampf in einem megalomanischen Luxushotel im New York der Roaring Twenties erzählt.


Das Hotel steht jetzt vor ihnen wie eine riesenhafte, ungeheuere, hellerleuchtete Schachtel, in die unzählige Menschen, unzählige Schicksale gepfercht sind, Menschen aus allen Klassen und aus allen Teilen der Welt, Reiche und Arme, Glückliche und Elende. Hier ist alles angehäuft, Hölle und Himmel, Trauer und Glück, Krankheit und Übermut.

Maria Leitner – Hotel Amerika, S. 218

Das Hotel als Schmelztiegel der Klassen, Schicksale und Hoffnungen, Maria Leitner erzählt in ihrem 1930 erschienenen Debütroman davon, indem sie verschiedene Figuren als erzählerische Ankerpunkte in ihre Geschichte setzt. Sie alle eint, dass ihr Romanpersonal tatsächlich fast durch die Bank weg eben das ist: Personal. Ihre Figuren sind Menschen, die man in den Zimmern des luxuriösen Hotels allerhöchstens antrifft, wenn sie dieses putzen. Menschen, die hinter den Kulissen für den reibungslosen Ablauf des Betriebs im Hotel Amerika schuften müssen.

Menschen im Hotel, die arbeiten

Da ist die irische Waschfrau Shirley, die zusammen mit ihrer Mutter Celestina unter elenden Bedingungen im Hotelkomplex haust und selbst nur die löchrigsten abgelegten Textilien erhält, die aus dem Bestand des Hotels ausgesondert wurden. Das schwedische Zimmermädchen Ingrid, das unter den strengen Augen der Etagendame putzt und feudelt und Badewannen scheuert. Da ist der deutsche Küchenjunge Fritz, der überwältigt die gigantische Küchenmaschinerie im Bauch des Hotels kennenlernt. Schwarze Spüler*innen, hocheffiziente Arbeitsteilung, Schränke für das stets wohltemperierte Geschirr und inmitten des Ganzen der stellvertretende Küchenchef, der per Rohrpostanlage und Rundumblick die Maschinerie antreibt.

Maria Leitner - Hotel Amerika (Cover)

Pagen, Aufzugführer, Nachtwächter, Kellner, sie alle stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der sich damit grundlegend von anderen Romanen aus dieser Zeit wie etwa Menschen im Hotel von Vicki Baum oder Joseph Roths Leben im Hotel unterscheidet, was angesichts des Lebens und der Beschäftigung von Maria Leitners nicht verwundert, wie es Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Hotel Amerika herausarbeitet.

Denn Maria Leitner war eine unermüdlich reisende Beobachterin und Journalistin, die sich aus einer dezidiert linken Perspektive heraus für den Klassenkampf interessierte. Durch ihre Brüder erlebte sie den Versuch einer sozialistischen Räterepublik in Ungarn hautnah mit, ehe sie nach der blutigen Niederschlagung dieser Republik nach nur vier Monaten aus Ungarn fliehen musste.

Das engagierte Leben einer weitgereisten Journalistin

Als Tochter jüdischer Eltern im heutigen Kroatien in Varaždin geboren, berichtete Leitner als Korrespondentin für eine ungarische Zeitung als Stockholm. Für den KPD-Politiker und Verleger Willi Münzenberg schrieb sie, im Auftrag des Ullstein-Verlages reiste sie jahrelang durch die USA.

Stets vom großen Interesse für die Arbeiterfrage geleitet lernte sie New York ebenso wie Haiti, Aruba oder das Leben im Mittleren Westen kennen. Mit ihren investigativen Sozialreportage wurde sie zu einer Vorreiterin dieser Disziplin, reiste gar inkognito fünfmal nach Hitlerdeutschland, um direkt vor Ort von den Veränderungen unter den neuen Machthabern zu berichten.

Es war ein wirkliches spektakuläres Leben, das Maria Leitner lebte und das mit nur 50 Jahren sein Ende fand, als Maria Leitner auf ihrer Flucht nach Marseille trotz der Bemühungen ihres Bekannten Theodore Dreisers und Varian Frys vom ERC keine Ausreisegenehmigung erhielt. Völlig verausgabt, mittellos und verzweifelt starb die weitgereiste Journalistin und Autorin den Hungertod.

Katharina Prager kommt in ihrem umfangreichen und kenntnisreichen Nachworts in Bezug auf das Leben und das Schreiben Maria Leitners zu folgendem Schluss:

Zwischen Ullstein und Münzenberg, zwischen Neuer Sachlichkeit und proletarischer Linkskultur, zwischen Arbeiterbewegung und Feminismus überschritt Maria Leitner durchgehen institutionelle, literarische und politische Grenzen und fand dabei ganz neue Perspektiven.

Katharina Prager in ihrem Nachwort zu Maria Leitner – Hotel Amerika, S. 246

Der Klassenkampf wird geprobt

Hotel Amerika zeigt die linken Lebensthemen Maria Leitners ganz deutlich. Neben der Fokussierung auf das Proletariat in Form des in unwürdigen Zuständen hausende Hotelpersonal ist auch das Wagnis eines Arbeitskampfs eines der zentralen Themen in ihrem Roman.

Abseits einer etwas umständlich erzählten Erpressungsgeschichte einer reichen Erbin, deren bevorstehende Hochzeit den erzählerischen Rahmen des Romans bildet, sind es vor allem die Schilderungen der krassen Ausbeutung der Arbeiterschicht, der die Lektüre von Hotel Amerika so eindrücklich machen (und die die Antipathie der Nationalsozialisten gegen Leitners dezidiert linkes Erzählen anschaulich belegt).

Denn während die Hotelgäste in Luxus schwelgen, das Personal nach Lust und Laune malträtieren und den Takt der Arbeit vorgeben, hausen die Arbeitenden in engen Verschlägen und müssen zeitlich eng getaktet ihr Essen einnehmen, gegen das sogar Gefängniskantinen in Sachen Qualität und Ambiente beneidenswert erscheinen. Die Ausbeutung von Persons of Color, Frauen und den anderen Bediensteten ist das Fundament, auf dem dieses Hotel gegründet ist. Bis es den Arbeiter*innen reicht und sie mit ihrem Arbeitskampf die etablierte Ordnung und den Ablauf des Tages fast ins Wanken bringen, folgt man diesen Erkundungen des Hotelbetriebs von unten doch sehr gerne.

Fazit

Mit Hotel Amerika bringt der Reclam-Verlag ein erzählerisch interessantes Buch einer ebenso interessanten Autorin wieder zurück auf den deutschen Buchmarkt. Wie Maria Leitner von der Ausbeutung des einfachen Hotelpersonals berichtet und den Arbeitskampf im Luxushotel proben lässt, das ist eindrücklich gelungen. Gerade in Verbindung mit dem informativen Nachwort Katharina Pragers ist diesem Buch zu wünschen, dass es mitsamt seiner einst verfemten Autorin wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt!


  • Katharina Prager – Hotel Amerika
  • Mit einem Nachwort von Katharina Prager
  • ISBN 978-3-15-011476-6 (Reclam)
  • 255 Seiten. Preis: 25,00 €
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Vom Werden und Vergehen

Zeit für einen echten Klassiker in der Buch-Haltung: Giuseppe Tomasi di Lampedusas Der Leopard, in einer Neuübersetzung von Burkhart Kroeber. Ein Meilenstein der italienischen Literatur und auch über 50 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch mehr als lesenswert.

Wir schreiben das Jahr 1860. In Italien regiert König Vittorio Emmanuele II.. In ganz Italien? Nein, die Macht des Königs bröckelt zusehends, denn die Truppen Garibaldis blasen zum Kampf auf die Monarchie. Die von Garibaldi angezettelten Unabhängigkeitskriege haben die Einheit Italiens zum Ziel. Denn noch ist Italien in einzelne Provinzen aufgesplittert. Im Norden bekommt man wenig vom Süden mit – und umgekehrt. Neapel und Sizilien sind eine eigenständige Provinz, die von Fürsten als Abgesandte des Königs verwaltet werden. So auch die Insel Salina, die dem König untersteht und die von Don Fabrizio Corbera, dem Prinz von Salina, verwaltet wird.

Don Fabrizio Corbera, der Leopard

Dieser lebt in mit seiner Familie in einem verwinkelten Palast auf der Insel. Seine Frau, seine drei Töchter, der verhätschelte Neffe Tancredi – alle haben Platz in dem hochherrschaftlichen Anwesen. Neben dem Hauptsitz der Familie gibt es auch noch ein weiteres Sommerdomizil im ländlichen Donnafuggata. Und überall prangt der Leopard als Insigne des Herrschers von Salina.

Doch ebenso wie die königliche Herrschaft über den Stiefelabsatz Italiens bröckelt, so schwindet auch die Kraft und die Macht des Leoparden. Garibaldis Truppen landen in Sizilien an und beginnen ihre Eroberungsfeldzüge, die später unter dem Begriff Risorgimento zusammengefasst werden sollten. Das Land ist im Umbruch, die alte Ständeordnung verliert zusehends an Bedeutung. Der Leopard kann sich damit nicht wirklich anfreunden. Er gibt lieber Bälle, geht auf die Jagd, besucht Laufhäuser in Palermo und pflegt den Lebensstil seiner Ahnen.

Ganz anders da sein Neffe Tancredi. Er sympathisiert mit den Truppen Garibaldis und wird Kämpfer in ihren Reihen. Auch sucht er das Glück in der Liaison mit der Tochter des Bürgermeisters von Donnafugata. Don Fabrizio sieht hier die neue Zeit heraufdämmern, in der wendige Menschen wie sein geliebter Neffe ihren Platz finden. Doch die Zeit des Leoparden, sie geht zuende, woran wir als Leser teilhaben.

Giuseppe Tomasi di Lampedusas Buch ist ein Werk, das vom Werden und Vergehen kündet. Meisterhaft fängt er die alte, zerbröckelnde Welt der Monarchie ein. Symbolhaft der Palast des Leoparden, der langsam so zerfällt, wie es die royale italienische Welt auch tut. In der Gestalt des Tancredi stellt er zugleich einen wendigen und anpassungsfähigen Mann dem Leoparden gegenüber, der sich die Zukunft untertan macht.

Aus dieser Dichotomie zieht der Roman einen großen Reiz. Aber nicht nur in dieser Gegenüberstellung ist Der Leopard sehr präzise. Auch in der Darstellung der höfischen Welt, den Ritualen und des Alltags im Hause Salina ist Di Lampedusa ausnehmend detailfreudig. Förmlich meint man selbst mit dem Leopard durch Palermo und die Berghänge Siziliens zu streifen. Der auktoriale Erzähler führt kundig durch die Handlung und auch einige Vorgriffe in der Zeit (Sergej Eisenstein, Flugzeuge, etc.) hat di Lampedusa eingearbeitet.

Eine hervorragende Neuübersetzung

Die Qualität dieses Romans ist völlig offensichtlich- Di Lampedusa zeigt im Kleinen, wie sich die großen Machtverhältnisse ändern und umgekehrt. Besonders erhellend ist neben der fraglosen Klasse des Werks auch die Neuübersetzung und das Nachwort Burkhart Kroebers. In diesem schildert er die Motivation seiner Übersetzung (schließlich liegen schon zwei Übersetzungen durch Charlotte Birnbaum und Giò Waeckerlin Induni vor). Seine Bemühungen, die verschiedenen Sprachebenen und damit die ganze literarische Klasse des Werks zugänglich zu machen, sind absolut gelungen.

Fürderhin wird diese Übersetzung als Referenz gelten, davon bin ich überzeugt. Auch ist der Blick in die Übersetzerwerkstatt wirklich erhellend. Die Probleme bei einem Text, dessen Verfasser schon vor dem Erscheinen seines Werks verstorben ist, macht Kroeber nachvollziehbar deutlich. So schildert er die Schwierigkeiten des richtigen Titels (eigentlich wäre der titelgebende Gattopardo eher ein Pardellkatze oder ein Ozelot, oder wortspielerisch übertragen gar ein Katzopard). Er erzählt von Recherchen über schmerzensreiche und glorreiche Mysterien und dergleichen mehr.

Dieses Nachwort zu lesen ist eine wahre Freude und macht klar, welche Aufgabe die Neuübersetzung eines Klassikers bedeuten kann. Ein literarischer Diamant, der durch die Übersetzung Burkhart Kroebers wieder einen neuen Schliff und damit wirkliche Brillanz erhalten hat.

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Eine Odyssee in Los Angeles 1965

A. G. Lombardo – Graffiti Palast

A. G. Lombardo inszeniert in seinem Debüt eine Neuinterpretation von Homers Odyssee – und das im Los Angeles des Jahres 1965. Sein Homer heißt Americo Monk, ist Semiotiker und möchte eigentlich nur nach Hause zu seiner Geliebten. Doch dann kochen die Rassenunruhen in den Straßen L.A.s hoch. Und plötzlich brennt die ganze Stadt. Bei seinen Irrfahrten begleitet man Monk nach Hause – und lernt eine Stadt im Ausnahmezustand kennen.


Weder schwarz noch weiß, wie er ist, konnte Monk diese vom Kampf gezeichneten Straßen stets passieren. Im richtigen Licht und Brechungswinkel, zur rechten Tageszeit, sieht er aus wie ein Weißer aus, manchmal eher hellbraun oder kupfer. Sein Haar ist schwarz, gelockt aber nicht kraus, fällt gewellt und kringelig: afrikanisch, oder aber, in anderem Licht und für andere Betrachter: zerzaust oder geglättet, wieder andere sehen Mittelmeer, einen Südeuropäer oder Araber – ein wandelnder Rorschachspiegel, in dem der Betrachter mehr von sich als vom Betrachteten erkennt.

Lombardo, A.G.: Graffiti-Palast, S. 29

Dieses wandelnde Chamäleon begreift sich selbst als urbaner Grafologe und Graffiti-Semiotiker. Sein steter Begleiter auf seinen Reisen durch die Stadt ist sein Notizbuch. Darin hält er die verschiedenen Graffiti, Ganz-Symbole, Territorien und noch mehr fest. Das Buch ist sein Passierschein in der Stadt. Die Cops hätten es gerne als Schlüssel für die Gangtätigkeiten in der Millionenmetropole, die Gangs als Schlüssel für ihre Revierkämpfe. Doch Monk balanciert auf dem schmalen Grat zwischen organisierter Kriminalität und Kriminalern und erkundet Straßenzüge und Straßengemälde.

Auf dem Weg nach Hause

Eigentlich befindet er sich gerade auf dem Weg heim in den Süden Los Angeles. Dort lebt er mit seiner schwangeren Geliebten Karmann Ghia, die auf die Heimkehr von Monk wartet. 20 Meilen liegen noch vor ihm, bis er wieder bei seiner Geliebten ist. Doch dann explodiert die Gewalt in den Straßen. Die Wut der schwarzen Bevölkerung bricht sich Bahn und entlädt sich in massiven Aufständen.

Die Stadt versinkt im Chaos, und mittendrin Americo Monk, der eigentlich nur nach Hause möchte. Doch seine Irrfahrten werden ihn mit sämtlichen Milieus der Millionenstadt in Kontakt bringen. Polizei, Gangs, religiöse Eiferer, sogar einem Monster begegnet Monk auf seiner Odyssee. Denn auch Godzilla ist aus den Hügeln Hollywoods hernieder gekommen, um in den Straßen der Stadt Chaos zu stiften. Dabei ist die Nähe zu Homers Texten stets greifbar. So muss Monk in die Unterwelt hinabsteigen, seine Geliebte muss sich daheim anderer Menschen erwehren und ein Blinder namens Tyrone greift immer wieder mit Weisagungen ins Geschehen ein (Teiresias, ick hör dir trappsen).

Lombardos Buch ist wirklich abgedreht. Der reale, neuntätige Aufstand in den Gettos von Los Angeles ist die Folie, auf der sich dutzende wahrscheinliche und unwahrscheinliche Begegnungen ergeben. Mal begegnet er einer ominösen mexikanischen Sprayerlegende, mal verschwimmen im Chinatown-Viertel die Grenzen zwischen Jenseits und Diesseits. Das Chamäleon Monk begegnet den verschiedenen Ethnien die Schmelztiegels LA und erfährt am eigenen Leib die Disruptionslinien der Gesellschaft.

Burn, baby, burn.

Dazwischen schneidet Lombardo den Soundtrack des Jahres 1965, der die Aufstände begleitet. Ein schwarzer DJ liefert mit den Stones, den Supremes oder Roy Orbison die musikalische Kulisse für den Kampf um LA. Burn, baby, burn.

A. G. Lombardo (Copyright: Jack Hummel)

Über 300 Seiten kämpft sich Monk nach Hause, wird in seinen Bemühungen immer wieder zurückgeworfen wie ein Schwimmer in einer starken Brandung. Der Begriff rauschhaft-jazzig, den der Kunstmann-Verlag auf den Klappentext des Buchs drucken ließ, trifft dabei zu 102 Prozent zu. Wie in einem verrückten Free-Jazz-Rhapsodie montiert Lombardo Parts aneinander. Und wenn man meint, nun sei alles im Chaos verloren gegangen, dann werfe man man einfach einen Blick in die 20 ersten Gesänge der Homer’schen Odyssee um zu merken: hinter all dem steckt ein wohldurchdachter Plan. Wie dem Semiotiker Monk machte es auch mir einen großen Spaß, die Anspielungen und Zeichen, die Lombardo in seinem Text versteckt hat, immer wieder zu dechriffrieren. Aber auch ohne die Entschlüsselung der dahinterliegenden Ebenen macht Graffiti Palast großen Spaß. Das Buch ist ein außergewöhnlicher LA-Roman und einer der besten Flaneur-Romane, die ich in letzter Zeit lesen durfte.

Dass dieses Buch auch im Deutschen so gut funktioniert, das hat einen Grund. Und dieser Grund heißt Jan Schönherr. Seine Übertragung dieses hoch anspruchsvollen Textgebirges in die deutsche Sprache verdient großes Lob. Dialekte, Graffiti-Jargon, verschiedene Soziolekte – vor Schönherrs Übersetzung muss man wirklich den Hut ziehen. Ein solch komplizierter Text mit solcher Struktur und solchen sprachlichen Eigenwilligkeiten muss man erst einmal so übersetzen können. Eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung wäre hier nicht vermessen gewesen.

Fazit

Ein großes Ereignis, das ist dieser Roman. Eine Hommage an die Graffitikunst, eine präzises Panorama der Watts-Aufstände, ein LA-Porträt der Stadt und seiner Bewohner – ein anspruchsvoller und kluger Flaneurroman mit einer übersetzerischen Meisterleistung. Eines meiner persönlichen Highlights des Jahres!

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Stefan Thome – Gott der Barbaren

Zurück auf Null. Mit seinem aktuellen Roman Gott der Barbaren betritt Stefan Thome neues Gelände – sowohl formal als auch inhaltlich. Denn sein Buch ist eine Abkehr von den in der Gegenwart angesiedelten Charakterauslotungen Gegenspiel oder Grenzgang. Stattdessen widmet  sich der gebürtige Hesse nun dem historischen Roman, Marke Monumentalepos.

Unbekanntes China

Er betritt hierfür ein (zumindest in der deutschen Literatur) fast vollständiges Terra incognita – nämlich China zur Zeit um 1860. Um dieses Land und seine Menschen herum baut er seinen Roman, der den ganz großen Bogen aufspannt. Er erzählt von deutschen Missionaren, englischen Kriegsherren, chinesischen Rebellen und zeigt ein zerrissenes Land, dem Wunden beigebracht wurden, an denen China noch heute laboriert.

Stellenweise erinnert das an den Reisebericht von Victor Segalen, der Anfang des 19. Jahrhunderts ebenfalls China mit europäischem Blick bereiste und seine Eindrücke unter dem Titel Ziegel &Schindeln publizierte. Dann ist man wieder in einer mit viel Pathos und Pulverdampf inszenierten Schlacht um Nanking dabei, an der auch ein Ridley Scott seine Freude hätten.

Mangelnde Abwechslung kann man Thome wirklich nicht vorwerfen. Seine Ambitionen sind wirklich enorm – nur überspannte er für meinen Geschmack seinen Bogen das ein oder andere Mal deutlich.

Dies beginnt damit, dass er eine fast unübersichtliche Zahl an Akteuren auffährt. Er entscheidet sich für keine Seite, sondern ist permanent in allen Lagern mit dabei, seien es die feindlichen chinesischen Seiten oder auch die englischen Invasoren.

Eine Fülle an Figuren

So ist eine seiner Hauptfiguren ein deutscher Missionar namens Philipp Johann Neumann, von den Chinesen auch Fei Lipu getauft. Enttäuscht vom Verlauf der Revolution 1848 sucht er sein Glück in China. Dort soll er den Chinesen im Rahmen des Basler Mission den christlichen Glauben näherbringen, um die Seelen der Barbaren durch Bekehrung zu retten. Ihn lässt Thome in der Ich-Perspektive von seinen Erfahrungen berichten und macht ihn so zunächst zum Orientierungspunkt in seiner Geschichte. Neumann macht die Bekanntschaft von Hong Jin, der dann mit anderen Chinesen eine wichtige Rolle in der sogenannten Taiping-Revolution einnehmen wird (die nebenbei bemerkt mit 20 bis 30 Millionen Opfer zum größten Bürgerkrieg der Geschichte zählt).

Der Rebellenführer Hong Xiuquan (Quelle: Wikipedia)

Jene Revolution bedroht die Stabilität des chinesischen Kaiserreichs, da sie eine Form des christlichen Glaubens etablieren und den Kaiser stürzen will. Schon bald verlor ich in den chinesischen und europäischen Strategien und Kämpfen den Überblick. Da gibt es den Himmlischen Kaiser, die Hunan-Armee, den Ostkönig oder den Schildkönig auf Seiten der Aufständigen. Ständig wechselt Thome die Seiten, zeigt die Kämpfe um Einfluss und die Herrschaft im Reich.

Wenn das alles gut inszeniert wäre, dann wäre das kein Problem. Allerdings sehe ich bei Gott der Barbaren deutliche Inszenierungsschwächen bzw. eine mangelnde Regie in seinem Werk. Oftmals hätte ich mir eine Hand gewünscht, die mich gekonnt durch das Geschehen leitet. Diese fehlt dem Buch aber größtenteils (bestes Symbol hierfür: Philipp Johann Neumann dem passenderweise eine Pratze abgängig ist). Diesen Eindruck vom Fehlen einer ordnenden Hand hatte ich an vielen Stellen im Werk, das durch die Fülle von Personen und Schauplätzen an Übersichtlichkeit einbüßt.

Das angehängte Personenregister hilft nur bedingt, da Thome seine Figuren nicht kontinuierlich begleitet, sondern immer mal wieder im Geschehen zurücklässt. So kann es sein, dass man über hunderte Seiten nichts von den Figuren hört, ehe diese dann plötzlich wieder auftauchen. Auch ändert Thome von Zeit zu Zeit die Erzählperspektive seiner Figuren; so wechselt er von der Ich-Erzählinstanz zur 3. Person und umgekehrt. Dies sorgte bei mir für zeitweilige Konsternierung. Bei den vielen Schlachten und strategischen Gesprächen fühlte ich mich überfordert, da nicht immer ersichtlich wurde, wer nun gegen wen aus welchen Motiven kämpft.

Zudem schneidet er zwischen seine Kapitel immer wieder fiktive Tagebucheinträge, Briefe oder Berichte, die die Handlung immer noch aus anderen Blickwinkeln beleuchten. Nachdem dieses aber auch nur spärlich erscheinen, braucht man hier wirklich ein gutes Gedächtnis, um diese auch noch in die Handlung integriert zu bekommen.

Chinesische Dörfer

Da wird es dann schon schwierig, auch da die Handlungsorte munter wechseln, von Peking nach England, von Hongkong bis nach Tibet. Auch bin ich einfach nicht firm, was chinesische Handlungsorte angeht. Ganzhou, Hangzhou, Hankou, Suzhou oder Fuzhou – das sind für mich alles chinesische Döfer. Es klingt alles gleich und bekommt für mein Empfinden nicht genug Kontur, um eine klare Unterscheidung hinsichtlich der vielen Schauplätze beim Lesen zu erzielen.

Dankenswerterweise sind die Vorsatzpapiere des Buchs einmal mit einer Karte vom Handlungsort Peking und zum anderen mit einer Karte des damaligen Chinas versehen, um hier wenigstens die Chance einer groben Einordnung des Geschehens zu ermöglichen.

Fazit

Ohne intellektuelle Wachheit und Wendigkeit wird man diesem Buch nur unzureichend beikommen. Diese Erkenntnis steht für mich am Ende dieses monumentalen Buchs. Sein Anspruch und der ambitionierte Plot lassen das Buch zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 stehen. Zur Entspannung allerdings empfiehlt sich Gott der Barbaren keineswegs.

Ich persönlich bin mehrmals mit dem Buch gescheitert, da es mich einfach mit seiner überbordenden Struktur und seinen verwirrenden Handlungsfäden in die Irre führte. Es sind für mein Empfinden zu viele Charaktere, Themen und Stile und Schlachten, die der gebürtige Hesse aufs Tapet bringt.

Aber man muss Stefan Thome auch Respekt zollen für seinen Willen und die Akribie, ein solches Opus Magnum zu verfassen. In Zeiten von unterambitionierten Plots und der Beschreibung von Milieus, die man selber teilweise besser kennt als die Autoren höchstselbst, ist Gott der Barbaren eine rühmliche Ausnahme, die die Leser fordert.

Das findet im Großen und Ganzen auch Stefan vom Blog Poesierausch, der sich ebenfalls des Titels angenommen hat.

[Stefan Thome: Gott der Barbaren, erschienen im Suhrkamp Verlag. ISBN 978-3-518-42825-2 . 719 Seiten, 25,00 €]

 

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