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Ein Schrumpfkopf erzählt

Jan Koneffke – Die Tantsa-Memoiren

Als Gregor Tstantsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Schrumpfkopf verwandelt.

So verballhornt könnte man eine Pointe des an Pointen nicht armen Romans von Jan Koneffke zusammenfassen. Denn im neuesten Roman des 1960 geborenen Autors und Übersetzers begegnen wir einem mehr als außergewöhnlichen Erzähler. Es handelt sich um einen sprechenden Schrumpfkopf, auch genannt Tsantsa, der uns hier seine Tsantsa-Memoiren präsentiert.

Dabei erfährt der sprechende Schrumpfkopf im venezuelanischen Cumaná um 1780 seine Erweckung durch einen sprechenden Ara. Dieser ist neben einem Affen und einem Jaguar eines der Haustiere, die sich Don Francisco in seinem herrschaftlichen Haus hält. Jener Don Francisco stammt eigentlich aus Spanien, ist nun in Venezuela allerdings im Dienst der spanischen Krone abgeordnet. In seinem Dienstzimmer baumelt auch der Schrumpfkopf, der sich untätig im Wind wiegt, ehe der Ara in sein Leben tritt. Dessen Spracharabesken stimulieren die kognitiven Fähigkeiten des Schrumpfkopfs. Und damit nicht genug. Neben der Gabe des Verstandes erwacht auch die Fähigkeit zum Sprechen des Tantsa – was dann postwendend gleich einmal für den Tod Don Franciscos sorgt.

In der Folge beginnt eine wahre Odysee, die uns der sprechende Schrumpfkopf weitestgehend chronologisch erzählt. Eine Odyssee, die bis ins Augsburg dieser Tage führt.

Von Südamerika bis nach Augsburg

Der Schrumpfkopf gelangt von Südamerika nach Europa, verlebt einige Zeit in Rom, gelangt nach Bamberg, Norddeutschland, reist im Gepäck von Scharlatanen, Bahningenieuren und erlebt Hinrichtungen, Kriege und den technischen Fortschritt. Ebenso wechselvoll wie seine Provenienz ist auch die seiner Besitzer*innen und deren Absichten mit dem Tsantsa. Mal wird er im Dienste der Wissenschaft gemartert, mal in London im Zuge der Weltausstellung im Crystal Palace als Kuriosum gezeigt. Immer wieder erlebt der Schrumpfkopf neue Abenteuer und erfährt so verschiedene Jahrhunderte aus einer ganz eigenen Perspektive.

Jan Koneffke - Die Tsantsa-Memoiren (Cover)

Koneffke lässt seinen Tansta dabei ein antiquiertes Deutsch sprechen, der Schrumpfkopf selbst gibt Auskunft, dass er ein um 1820 gebräuchliches Idiom gebraucht. Sprachlich werden uns so sehr elaboriert die Abenteuer geschildert, die in ihrer thematischen und zeitlichen Fülle ein höchst abwechslungsreiches Leseerlebnis ergeben.

Ein abwechslungsreiches Leseerlebnis, in das sich leider mit zunehmender Zeit tatsächlich dann aber auch einige kleine Längen einschleifen. Koneffke weicht dann allerdings auf einen Trick aus, indem er mithilfe der Psychoanalyse den Schrumpfkopf seine eigene Geschichte und Herkunft ergründen lässt. Diese liegt zu Beginn des Buchs nämlich noch im Dunkeln.

Erst allmählich lichtet sich das Dunkel um das Vorleben des Schrumpfkopfs, ehe er dann dieser Tage in Augsburg seinen Moment der Rückführung erlebt.

Zwar hätten ein paar Straffungen im Text speziell ab der Hälfte des 560 Seiten starken Romans gutgetan. Durch seine Fabulierfreude und den Erfindungsreichtum gleicht Koneffke dieses Manko in meinen Augen aber aus. Und mit der Erfindung seines besonderen Erzählers ist dem Autor ein wirklicher Coup gelungen. So viel Fabulierfreude liest man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten.

Fazit

In der Gesamtheit ist Jan Koneffke ein bunter, ja geradezu barocker Bilderbogen mit einem ganz besonderen Erzähler gelungen. Ein sprachlich ansprechender Unterhaltungsroman, der durch seine opulente Fülle an Themen und zeitgeschichtlichen Momente besticht.


  • Jan Koneffke – Die Tsantsa-Memoiren
  • ISBN 978-3-86971-177-5 (Galiani)
  • 560 Seiten. Preis: 24,00 €

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Niklas Natt och Dag – 1793

Stockholm im Jahr 1793: im städtischen See Fatburen schwimmt eine grotesk zugerichtete Leiche. Zusammen mit dem Stadtknecht Jean Michel „Mickel“ Cardell ermittelt der Jurist Cecil Winge. Dabei setzt ihnen die knappe Zeit, die politische Kaste und die eigene Gesundheit mehr als zu. Ein außergewöhnlicher historischer Krimi, bei dem vor allen die Konstruktion überrascht.


Historische Kriminalromane gibt es ja wie Sand am Meer. Die Verschmelzung aus historischen Figuren, Orten und Kriminalplot erfreut sich großer Beliebtheit. Auch Niklas Natt och Dag hat sich dieses Genre ausgesucht und macht gleich im Titel klar, in welches Jahr er die Leser*innen mitnimmt. Das in die Jahreszahlen eingeprägte Stadtbild verrät dann auch, wo die Geschichte spielt, nämlich in Stockholm.

Mit großer Detailfreude schildert der Schwede die damaligen Lebensverhältnisse. Verdorbener Unrat in den Gassen, Säufer und Huren in den Schänken der Stadt, bittere Armut und eine abgehobene aristokratische Elite. Natt och Dag scheut sich nicht, seinen Wohnort mithilfe drastischer Bilder und viel Schmutz zu schildern. Glaubhaft gelingt es ihm, den Geist und Geruch der damaligen Zeit auf das Papier zu bannen (übersetzt von Leena Flegler).

Ein kriminalistisches Duo in Stockholm

In dieser Szenerie lässt er nun ein kriminalistisches Duo ermitteln. Da wäre Mickel Cardell, der im Kampf der schwedischen Krone gegen die Russen seinen linken Arm eingebüßt hat. Er schlägt sich als Stadtknecht und Rausschmeißer einer Schänke durch. Eines Abends wird er zu einer grausamen Entdeckung gerufen. Im Fatburen schwimmt eine Leiche, der sämtliche Extremitäten, sowie Zunge, Augen und Zähne entfernt wurden.

Um wen es sich bei der Leiche handelt und wer diese so zugerichtet hat – das interessiert auch Cecil Winge. Dieser arbeitet für die Polizeikammer im Hause Indebetou. Er leidet an Tuberkulose und befindet sich im Endstadium dieser Krankheit. Und auch sonst hat er nicht mehr viel zu verlieren, weshalb er sich mit großem Eifer in die Ermittlungen stürzt. Die Zeit ist knapp und Winges Vorgesetzter kann seine Ermittlungen nicht mehr lange unterstützen, da auch er kurz vor sein Abberufung steht.

Viel Druck also, den Natt och Dag seinem kriminalistischen Duo zumutet. Diese kämpfen sich unverzagt durch die Gassen, Gast- und Hurenhäuser und versuchen, dem Geheimnis des Toten aus dem Fatburen auf die Spur zu kommen.

Ein Krimi in vier Teilen

Dass dieser historische Kriminalroman über die übliche Mördersuche hinausweist, das verdankt das Buch einer schlauen Idee. Denn Natt och Dag teilt 1793 in vier Teile ein (Frühling, Sommer, Herbst und Winter). Der erste und letzte der vier Teile beschreibt die Ermittlungen von Winge und Cardell in den Gassen Stockholms. Die beiden Binnenstücke brechen aber mit dieser Erzählhaltung.

Im zweiten Teil sind nur Briefe enthalten, die ein junger Mann an seine Schwester schreibt. Diese Briefe scheinen mit der vorhergehenden Handlung erst einmal gar nicht zusammenzuhängen, bis sich relativ spät die Bezüge ergeben.

So ist das auch im dritten Teil. In diesem atmosphärisch dichtesten und erschütternden Stück des Romans wird die Geschichte der jungen Obstverkäuferin Anna Stina geschildert. Nachdem sie verleugnet wurde, findet sie sich im sogenannten Spinnhaus auf einer Gefängnisinsel wieder. Dort ist sie mit anderen Frauen eingekerkerter und muss jeden Tag ein bestimmtes Pensum an gesponnenem Garn vorweisen. Doch unerschütterlich keimt in ihr der Wunsch nach einem Ausbruch aus dieser sadistischen Welt.

Auch hier bleiben zunächst die Bezüge und Verbindungen zu restlichen Geschichte fraglich, ehe sie dann von Natt och Dag hergestellt werden. Dies liest sich außergewöhnlich und hebt durch diese Plotkonstruktion das Buch aus dem Gros der historischen Kriminalromane heraus. Zudem ist die Wahl Stockholms als Schauplatz gut gewählt, sind es doch überwiegend zeitgenössische Krimis aus der schwedischen Hauptstadt, die man sonst in den Buchregalen findet.

Das Setting wirkt frisch und unverbraucht, zudem kann der Krimiplot überzeugen, da er die ein oder andere überraschende Wendung bereithält. Insofern ein guter historischer Krimi eines Newcomers, für den ich eine Empfehlung aussprechen möchte!

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Gottlieb Mittelberger – Reise in ein neues Leben

Zunächst muss ich mich hier erst einmal in aller Öffentlichkeit leicht revidieren. Vor einigen Wochen schrieb ich eine hymnische Besprechung für Christian Torklers Der Platz an der Sonne. Diese großartige Umkehr der bekannten Flüchtlingsroute von Deutschland nach Afrika inklusive aller Unwägbarkeiten übte eine große Faszination auf mich aus. Diese Idee und das damit verknüpfte Schicksal des Flüchtlings Josua Brenner begeistert mich immer noch uneingeschränkt – allerdings muss ich heute feststellen, dass Torklers Geschichte so neu nicht ist.

Ein Deutscher, der sich entschließt auszuwandern und auf einem anderen Kontinent sein Glück zu suchen. Der seines Lebens in Deutschland überdrüssig ist und in einem anderen Land auf bessere Bedingungen und wirtschaftlichen Erfolg hofft – Wirtschaftsflüchtling möchten da einige brüllen. Der auf Schleußer setzt, um über den Großen Teich überzusetzen. Und der anschließend in der deutschen Ausgewanderergemeinde auf Aufnahme hofft.

Alles andere als neue Themen, wie der Bericht Reise in ein neues Leben von Gottlieb Mittelberger zeigt. Wie alt dieses Thema ist, das illustriert schon die Vorrede zu Mittelbergers Bericht:

Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, HERRN CARL, Herzogen zu Württemberg und Teck, Grafen zu Mömpelgard, Herrn zu Heidenheim und Justingen, etc., Ritter des goldenen Vließes: und des Löbliche Schwäbischen Krieges General-Feldmarschalln, etc. Meinem gnädigsten Fürsten und Herrn, übergibt in tiefster Submission nunmehro in einer verbesserten Gestalt gegenwärtige geringe Schrift, welche Euer Hochfürstliche Durchlaucht noch in Manuskript zum Teil anzuschauen gnädigst gewürdiget haben, und recommendieret sich zu fürwährender höchster Fürstlicher Gnade und Hulden.

Mittelberger, Gottfried: Reise in ein neues Leben, Zuwidmung

Nun, das nenne ich mal ein Vorwort. So etwas würde ich ja gerne heute auch mal in einem Roman lesen, aber wir schweifen ab.

Tatsächlich gibt der Ton, die beschriebenen Adelstitel und die Grammatik schon Hinweis, wann sich dieses Flüchtlingsschicksal abgespielt hat. Fast vor 300 Jahren nämlich, genauer gesagt im Jahr 1754. Dann machte sich Mittelberger auf, um von Amsterdam aus mit einem Schiff nach Amerika überzusiedeln.

Flucht nach Amerika

Er sollte eine Orgel nach Pennsylvania (oder wie es Mittelberger im damaligen Duktus nennt: Pennsylvanien) überführen – doch er entschloss sich, gleich dort in Amerika zu bleiben. In der von deutschen Auswanderern geprägten Gemeinde wollte sein Glück zu versuchen und einen Neuanfang wagen. In seiner Heimat in Enzweihingen drohte ihm nämlich wegen der Belästigung und Nötigung von Frauen der Prozess. Da bot sich der Neustart in Amerika natürlich an.

Ein Wunsch, der ihn mit vielen anderen Schwaben und Pfälzern verband, die in großen Mengen die im 18. Jahrhundert die Flucht nach Amerika antraten. Insgesamt kamen in diesem Jahrhundert fast 200.000 Deutsche nach Amerika. Die Motive waren vielfältig: politische Verfolgung, Hungersnot oder einfach der Wunsch nach wirtschaftlicher Verbesserung. Motive also, die uns auch heute noch sehr bekannt vorkommen, und die wohl immer die Menschen umtreiben werden. Und die man wohl auch nie in Gänze beseitigen kann.

Generell ist es verblüffend, wie bekannt einem viele Passagen aus diesem Bericht vorkommen. Ertrunkene Menschen während der Schiffsreise? Ablehnung der einheimischen Bevölkerung der Zuwanderer, die sich oftmals abschotten und eigene Sprache und Bräuche pflegen? Alles andere als neu, wie dieser Bericht eindrücklich zeigt.

Auf dem Weg nach Pennsylvanien

Originaltitelblatt von Mittelbergers Bericht

Mittelbergers Bericht gliedert sich in zwei Teile, beide eindringlich auf ihre Art und Weise. Zunächst erzählt Mittelberger von der Reise nach Amerika, die er zusammen mit etwa „400 Seelen, Württemberger, Durlacher, Pfälzer und Schweizer, etc.“ (S. 30) antrat und die ihn von Rotterdam über England nach Philadelphia brachte. Neben dem Preis für eine solche Reise und die Unwägbarkeiten, bis man sich an Bord wiederfand, ist vor allem die Beschreibung der Zustände an Bord erschütternd.

Die Enge an Bord, der ständige Hunger, die Unterversorgung und der stets präsente Tod. Man hätte wirklich nicht tauschen wollen, wenn man liest, was Mittelberger zu berichten weiß. Er erzählt von Müttern, die man wegen Komplikationen bei der Geburt ins Meer wirft. Genauso wie zahlreiche Kinder, die während der Reise umgekommen sind und die man dem Meer übergibt. Skorbut, Krätze, Mundfäule oder Geschwüre – der Transit fordert allen hohe Opfer ab.

Weiter geht es dann an Land. Familien werden auseinandergerissen. wer die Überfahrt nicht komplett entlohnen kann, wird versklavt. Mütter, Väter, Kinder – sie alle werden als Arbeitskräfte gerne gebraucht. Im Hafen herrscht ein wirklicher Menschenbasar, bei dem die Flüchtlinge geradezu verschachtert werden.

In Pennsylvanien

Der zweite Teil des Berichts beschreibt dann die Eigenheiten Pennsylvanias. Mittelberger erzählt von der Flora und Fauna, den Indianerstämmen oder auch den Tieren, die den Staat bevölkern. Er berichtet vom Rechtssystem und juristischen Präzendenzfällen, die ihm zugetragen wurden.

Vier Jahre verbringt er insgesamt in Pennsylvanien, ehe ihm auch dort aufgrund von Vergehen der Prozess droht. Oder wie es der Pfarrer der Gemeinde beschreibt, in der Mittelberger als Organist angestellt war:

[Er benahm sich] gegen eine ledige Frauenperson so … sündlich und höchst ärgerlich … dass Er künftig hin unwürdig ist, die Orgel in der Kirche zu berühren und die Jugend in der Schule zu unterrichten.

Mittelberger, Gottlieb: Reise in ein neues Leben, Vorwort

So tritt er wieder die Flucht nach Hause an, wo Frau und Kinder auf ihn warten. Er verfasst diesen Reisebericht für den Herzog von Württemberg, wovon auch das Vorwort zeugt. Schließlich hatte dieser auch ein Interesse daran, seine Untertanen von der gefahrvollen Reise und den Lebensumständen in Amerika zu warnen. Wollte er doch seine Mitmenschen von der Emigration abhalten.

Auch heute noch aktuell

Auch wenn sich manche Beschreibungen Pennsylvanias heute kurios ausnehmen: Besonders der Teil der Seeüberfahrt berührt und zeigt, wie Menschen schon immer Gefahren auf sich genommen haben, um ein besseres Leben zu suchen. Mag es nun das Jahr 1753 sein, oder das Jahr 2018. Die Gier nach Glück ist allen Menschen zueigen, das zeigt auch Mittelbergers Bericht einmal mehr sehr eindrücklich.

Dieses Streben einzuhegen und in Bahnen zu lenken. Fluchtursachen zu bekämpfen, gleiche Lebensumstände herzustellen. Dazu hätte man nun wirklich schon Jahrhunderte Zeit gehabt. Aber die Gefälle wird es immer geben – und Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, diese Gefälle irgendwie zu bezwingen. Das lehrt uns Reise in ein neues Leben.

Muss ich noch dazu erwähnen, dass das Buch wirklich herausragend gestaltet ist (farbiger Buchschnitt, eingeprägtes Verlagsemblem, toller Satz, Vorsatzpapier, ergänzendes Vorwort, Literaturapparat)? Wohl kaum. Denn wer den Verlag Das kulturelle Gedächtnis kennt, der weiß, dass sie und ihn hier ganz hohe Buchkunst erwartet.

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Stefan Thome – Gott der Barbaren

Zurück auf Null. Mit seinem aktuellen Roman Gott der Barbaren betritt Stefan Thome neues Gelände – sowohl formal als auch inhaltlich. Denn sein Buch ist eine Abkehr von den in der Gegenwart angesiedelten Charakterauslotungen Gegenspiel oder Grenzgang. Stattdessen widmet  sich der gebürtige Hesse nun dem historischen Roman, Marke Monumentalepos.

Unbekanntes China

Er betritt hierfür ein (zumindest in der deutschen Literatur) fast vollständiges Terra incognita – nämlich China zur Zeit um 1860. Um dieses Land und seine Menschen herum baut er seinen Roman, der den ganz großen Bogen aufspannt. Er erzählt von deutschen Missionaren, englischen Kriegsherren, chinesischen Rebellen und zeigt ein zerrissenes Land, dem Wunden beigebracht wurden, an denen China noch heute laboriert.

Stellenweise erinnert das an den Reisebericht von Victor Segalen, der Anfang des 19. Jahrhunderts ebenfalls China mit europäischem Blick bereiste und seine Eindrücke unter dem Titel Ziegel &Schindeln publizierte. Dann ist man wieder in einer mit viel Pathos und Pulverdampf inszenierten Schlacht um Nanking dabei, an der auch ein Ridley Scott seine Freude hätten.

Mangelnde Abwechslung kann man Thome wirklich nicht vorwerfen. Seine Ambitionen sind wirklich enorm – nur überspannte er für meinen Geschmack seinen Bogen das ein oder andere Mal deutlich.

Dies beginnt damit, dass er eine fast unübersichtliche Zahl an Akteuren auffährt. Er entscheidet sich für keine Seite, sondern ist permanent in allen Lagern mit dabei, seien es die feindlichen chinesischen Seiten oder auch die englischen Invasoren.

Eine Fülle an Figuren

So ist eine seiner Hauptfiguren ein deutscher Missionar namens Philipp Johann Neumann, von den Chinesen auch Fei Lipu getauft. Enttäuscht vom Verlauf der Revolution 1848 sucht er sein Glück in China. Dort soll er den Chinesen im Rahmen des Basler Mission den christlichen Glauben näherbringen, um die Seelen der Barbaren durch Bekehrung zu retten. Ihn lässt Thome in der Ich-Perspektive von seinen Erfahrungen berichten und macht ihn so zunächst zum Orientierungspunkt in seiner Geschichte. Neumann macht die Bekanntschaft von Hong Jin, der dann mit anderen Chinesen eine wichtige Rolle in der sogenannten Taiping-Revolution einnehmen wird (die nebenbei bemerkt mit 20 bis 30 Millionen Opfer zum größten Bürgerkrieg der Geschichte zählt).

Der Rebellenführer Hong Xiuquan (Quelle: Wikipedia)

Jene Revolution bedroht die Stabilität des chinesischen Kaiserreichs, da sie eine Form des christlichen Glaubens etablieren und den Kaiser stürzen will. Schon bald verlor ich in den chinesischen und europäischen Strategien und Kämpfen den Überblick. Da gibt es den Himmlischen Kaiser, die Hunan-Armee, den Ostkönig oder den Schildkönig auf Seiten der Aufständigen. Ständig wechselt Thome die Seiten, zeigt die Kämpfe um Einfluss und die Herrschaft im Reich.

Wenn das alles gut inszeniert wäre, dann wäre das kein Problem. Allerdings sehe ich bei Gott der Barbaren deutliche Inszenierungsschwächen bzw. eine mangelnde Regie in seinem Werk. Oftmals hätte ich mir eine Hand gewünscht, die mich gekonnt durch das Geschehen leitet. Diese fehlt dem Buch aber größtenteils (bestes Symbol hierfür: Philipp Johann Neumann dem passenderweise eine Pratze abgängig ist). Diesen Eindruck vom Fehlen einer ordnenden Hand hatte ich an vielen Stellen im Werk, das durch die Fülle von Personen und Schauplätzen an Übersichtlichkeit einbüßt.

Das angehängte Personenregister hilft nur bedingt, da Thome seine Figuren nicht kontinuierlich begleitet, sondern immer mal wieder im Geschehen zurücklässt. So kann es sein, dass man über hunderte Seiten nichts von den Figuren hört, ehe diese dann plötzlich wieder auftauchen. Auch ändert Thome von Zeit zu Zeit die Erzählperspektive seiner Figuren; so wechselt er von der Ich-Erzählinstanz zur 3. Person und umgekehrt. Dies sorgte bei mir für zeitweilige Konsternierung. Bei den vielen Schlachten und strategischen Gesprächen fühlte ich mich überfordert, da nicht immer ersichtlich wurde, wer nun gegen wen aus welchen Motiven kämpft.

Zudem schneidet er zwischen seine Kapitel immer wieder fiktive Tagebucheinträge, Briefe oder Berichte, die die Handlung immer noch aus anderen Blickwinkeln beleuchten. Nachdem dieses aber auch nur spärlich erscheinen, braucht man hier wirklich ein gutes Gedächtnis, um diese auch noch in die Handlung integriert zu bekommen.

Chinesische Dörfer

Da wird es dann schon schwierig, auch da die Handlungsorte munter wechseln, von Peking nach England, von Hongkong bis nach Tibet. Auch bin ich einfach nicht firm, was chinesische Handlungsorte angeht. Ganzhou, Hangzhou, Hankou, Suzhou oder Fuzhou – das sind für mich alles chinesische Döfer. Es klingt alles gleich und bekommt für mein Empfinden nicht genug Kontur, um eine klare Unterscheidung hinsichtlich der vielen Schauplätze beim Lesen zu erzielen.

Dankenswerterweise sind die Vorsatzpapiere des Buchs einmal mit einer Karte vom Handlungsort Peking und zum anderen mit einer Karte des damaligen Chinas versehen, um hier wenigstens die Chance einer groben Einordnung des Geschehens zu ermöglichen.

Fazit

Ohne intellektuelle Wachheit und Wendigkeit wird man diesem Buch nur unzureichend beikommen. Diese Erkenntnis steht für mich am Ende dieses monumentalen Buchs. Sein Anspruch und der ambitionierte Plot lassen das Buch zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 stehen. Zur Entspannung allerdings empfiehlt sich Gott der Barbaren keineswegs.

Ich persönlich bin mehrmals mit dem Buch gescheitert, da es mich einfach mit seiner überbordenden Struktur und seinen verwirrenden Handlungsfäden in die Irre führte. Es sind für mein Empfinden zu viele Charaktere, Themen und Stile und Schlachten, die der gebürtige Hesse aufs Tapet bringt.

Aber man muss Stefan Thome auch Respekt zollen für seinen Willen und die Akribie, ein solches Opus Magnum zu verfassen. In Zeiten von unterambitionierten Plots und der Beschreibung von Milieus, die man selber teilweise besser kennt als die Autoren höchstselbst, ist Gott der Barbaren eine rühmliche Ausnahme, die die Leser fordert.

Das findet im Großen und Ganzen auch Stefan vom Blog Poesierausch, der sich ebenfalls des Titels angenommen hat.

[Stefan Thome: Gott der Barbaren, erschienen im Suhrkamp Verlag. ISBN 978-3-518-42825-2 . 719 Seiten, 25,00 €]

 

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Jean-Francois Parot – Commissaire Le Floch und das Geheimnis der Weißmäntel

Siebzehn Jahre hat es gedauert, bis die in Frankreich erfolgreiche Reihe um den Commissaire Nicolas Le Floch nun auch bei uns erschien. In der Übersetzung von Michael von Killisch-Horn liegt der Auftakt für die mehrbändige historischen Krimirreihe um den französischen Kommissar im Blessing-Verlag nun vor. Hat sich das Warten gelohnt?

In meinen Augen ja, denn Jean-Francois Parot gelingt es, die Leser zugleich in ein längst vergangenes Paris zu versetzen und zugleich einen vertrackten Mordfall zu präsentieren. Lösen darf jenen Fall der junge Nicolas Le Floch, der zu Beginn des Buchs aus seiner Heimat in der Bretagne auf Empfehlung seines Ziehvaters nach Paris geschickt wird. Dort untersteht er direkt dem obersten Polizeichef, der ihn mit einer heiklen Mission betraut. Der König wird von einem Minister mit vertraulichen Schreiben erpresst. Ein Commissaire, der den Fall lösen sollte, ist verschwunden und nun liegt es an Nicolas Le Floch, den Verbleib des Commissaires und den der Schreiben zu ermitteln.

Ein Fall, der höchstes Fingerspitzengefühl fordert und der zur echten Belastungsprobe für den jungen Le Floch wird. Man sieht die Stadt durch dessen Augen, folgt ihm in die finsteren Gassen und durchmisst auch die ganze Pariser Stadtgesellschaft, vom König bis hin zum Lumpenproletariat.

Jean-Francois Parot zeichnet ein ungeschöntes Bild von der französischen Hauptstadt um das Jahr 1760 fernab von dem Bild, das heute unser Denken dominiert. Von Haussmann-Boulevards, Eiffelturm und Hygiene keine Spur, dafür dominieren Dreck, leichte Mädchen und gedungene Mörder die Straßen. Als studierter Historiker mit Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert kennt sich Parot hier zweifelsohne gut aus. Schön auch, dass er trotz seiner akademischen Bildung nie zu viel Theorie oder Faktenlastigkeit in seine Erzählung einstreut.

Abgerundet wird dieser verheißungsvolle Auftakt der Reihe durch ein Personenregister, ein Glossar und angehängte Kurzbiographien der historisch verbürgten Personen, die den Roman bevölkern.

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