Tag Archives: Waise

Chris Whitaker – Von Hier bis zum Anfang

Auf knappe 7000 Rezensionen auf einem einschlägigen Shoppingportal bringt es die englische Originalausgabe von Chris Whitakers Roman We begin at the end. Eine stattliche Anzahl von Rezensionen, auch auf die Bestsellerliste der New York Times hat es der britische Autor mit seinem Buch geschafft. Nun erscheint das Buch in der deutschen Übertragung durch die bewährte Übersetzerin Conny Lösch auf Deutsch. Was kann der „must-read crime novel of the year“, wie es vom Cover der Originalausgabe kündet?

Zunächst zwei kurze Feststellungen vorweg: im Vergleich zum englischen Originaltitel ist der deutsche Titel Von hier bis zum Anfang deutlich schwächer, da ungenauer. Und ein Krimi ist das Buch in meinen Augen auch nicht, genauso wenig wie es die Romane von Joel Dicker, Ann Petry oder Delia Owens sind. Warum komme ich zu diesen Urteilen?

Ein vermeintlicher Krimi

Zunächst klingt alles tatsächlich sehr nach einem klassischen Krimi, blict man auf den Klappentext oder die Inhaltszusammenfassung. Vor 30 Jahren soll Vincent King Sissy Radley umgebracht haben. Seine Strafe hat er im Gefängnis verbüßt, wurde wegen eines Mordes im Gefängnis noch länger einbehalten und kehrt nun nach Cape Haven zurück. Dort hat eigentlich niemand auf ihn gewartet, nur sein Freund aus Kindertagen, der lokale Polizeichef Walk hät ihm aus alter Verbundenheit die Treue. Doch die Rückkehr des verurteilten Mörders verursacht viel Aufruhr – und wenig später wird Walk zu einem neuen Tatort gerufen. Das Opfer diesmal: Star Radley, die Schwester von Sissy. Am Tatort greift er den blutverschmierten Vincent King auf, der auch diesen Mord gesteht. Die Spuren sprechen eine eindeutige Sprache und so steht eine Verurteilung von Walks altem Freund unmittelbar bevor. Doch was führte zu der Tat?

Um diese zu verstehen, muss man wirklich am Anfang der Geschichte ansetzen, die vor 30 Jahren begann. Geschickt schafft es Chris Whitaker, nach und nach kleine Puzzlestücke an den Platz zu rücken, während er seine Geschichte vorantreibt. Er schildert die Spurensuche Walks auf eigene Faust, der sich in der Kleinstadt Cape Haven auskennt und der mit seiner lokalen Expertise und Verbundenheit mit den Bewohner*innen viel Vorsprung vor den eigentlichen Ermittlern hat.

Den größten Raum in dieser Erzählung nimmt aber das Schicksal der beiden Kinder der ermordeten Star Radley ein. Da ist die Erstgeborene Dutchess. Ihren Vater kennt sie nicht, dafür spendet ihr der eigene Familienstammbaum Orientierung. In diesem Stammbaum findet sich ein Outlaw, der zum Vorbild für Dutchess wird. Die Qualitäten eines Outlaws braucht sie auch tatsächlich, um ihren kleinen Bruder Robin zu beschützen. Musste Dutchess schon vor dem Mord an ihrer Mutter die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen, steht sie nun nach der Ermordung noch mehr in der Verantwortung. Zusammen mit ihrem Bruder wird sie nach Montana zu ihrem Großvater geschickt. Wirklich zur Ruhe kommen die beiden hier aber auch nicht. Die Macht des Schicksals ist stark und holt die beiden auch dort ein.

Ein potentieller Bestseller mit vielen Qualitäten

Dass dieses Buch zum Bestseller avancierte, überrascht wenig. Denn Whitakers Debüt besitzt ganz unterschiedliche Qualitäten, die das Buch für eine wirklich breite Leserschicht interessant machen. Da ist zunächst die Tatsache, dass das Buch rund ist. Erst am Ende ergeben sich die Zusammenhänge und die Schicksalsfäden werden entwirrt. Insofern ist der Originaltitel, der vom Beginn am Ende spricht, sehr gut passend. Alles fügt sich und ergibt ein sinnreiches Bild.

Dieses Bild, das sich dann zeigt, zielt deutlich aufs Herz und besitzt eine starke emotionale Kraft. Das Waisenschicksal von Dutchess und ihrem Bruder Robin rührt an, auch wenn Chris Whitaker hier so manches Mal etwas zu stark auf die Tränendrüse drückt. Aber wie er von Einsamkeit und dem viel zu frühen Erwachsenwerden von Dutchess erzählt, das ist wirklich stark gemacht (und erinnert an Delia Owens Bestseller).

Neben der emotionalen Güte ist es auch die Qualität eines Justiz- und Spannungsromans, die dem Buch innewohnt. Es gibt Tote, Vermisste, einen Prozess mit Geschworenen, der die Suche nach der Wahrheit beschleunigt und immer drängender werden lässt. Dabei übertreibt es Whitaker auch nicht mit der Gewalt, alles geschieht in allgemein verträglicher Intensität, sodass auch zarter besaitete Leser*innen durchaus gut unterhalten werden. Ist Vincent King schuldig? Wer hätte weiteres Interesse an den Morden und wo sind die Motive zu suchen? All diese Fragen ziehen sich durch das Buch.

Neben all der Schwere gibt es aber auch immer wieder komische Momente, etwa wenn Walks Nachbar alleine als Bürgerwehr fungiert und dabei höchst sachverständig erscheinen will, ein Wahrheit aber ständig die Polizeicodes durcheinanderbringt. Aber auch die anderen Figuren sind zumeist glaubwürdig gezeichnet und haben alle ihre zwei Gesichter.

In Von hier bis zum Anfang stellt Chris Whitaker auch unter Beweis, dass es nicht viele Figuren braucht, um eine große Geschichte zu erzählen. Er konzentriert sich auf ein sehr überschaubares Figurenensemble. Genauso klein wie die Figuren ist auch der Schauplatz Cape Haven. Dem Engländer Whitaker gelingt es ähnlich wie dem Schweizer Joel Dicker, das Leben in der amerikanischen Kleinstadt ungemein plastisch zu schildern. Man vermeint, selbst durch die Straßenzüge Cape Havens zu bummeln, die Läden und Häuser vor sich zu sehen oder in der Weite Montanas zu stehen.

Fazit

Die Atmosphäre in diesem Buch ist stark. Die Naturbeschreibungen überzeugen genauso wie das soziale Gefüge in Whitakers Kleinstadt, das Buch hat eine untergründige Spannung und große emotionale Wucht. Viele Punkte also, die das Buch maximal anschlussfähig an verschiedene Leseinteressen machen. Ein breiter Erfolg beim lesenden Publikum sollte diesem Buch gewiss sein, davon bin ich überzeugt. Ein potentieller Bestseller, den ich mir auch bei der Wahl zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels im Herbst gut vorstellen könnte.


  • Chris Whitaker – Von Hier bis zum Anfang
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-492-07129-1 (Piper)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Christopher Kloeble – Das Museum der Welt

Bartholomäus: Apostel, Märtyrer, Verkünder der Frohen Botschaft und von Jesus Christus als „Mann ohne Falschheit“ bezeichnet. Vor allem in Indien und Mesopotamien soll er gewirkt haben, was ihn zum perfekten Namenspatron des Helden in Christoph Kloebles neuem Roman Das Museum der Welt macht.

Denn sein Ich-Erzähler Bartholomäus wächst um 1850 als Waisenjunge in Bombay auf. Von seinem Ziehvater „Vater Fuchs“, einem bayerischen Missionar, wird er im Glauben unterwiesen. Aber auch die Naturwissenschaften verehrt jener Vater Fuchs und tritt für die Autonomie Indiens ein. Als Waisenkind unter der Fittiche der bayerischen Missionare lernt Bartholomäus schon früh, wie es ist, ausgegrenzt zu werden. Von seinen Mitbewohnern im Waisenhaus wird er permanent schikaniert und auch von Vater Fuchs Mitbruder züchtigt den circa 12 Jahre alten Jungen, wo es nur geht. Doch Bartholomäus ist ebenso unbeirrbar in seinem Glauben an Vater Fuchs, wie es sein Namenspatron einst war. Als Junge ohne Falschheit erlebt er die Welt, trägt sein Herz auf der Zunge und eckt damit das ein um das andere Mal an in einer Welt, deren Spielregeln sich Bartholomäus nicht immer erschließen.

Doch dann verschwindet Vater Fuchs von einem auf den anderen Tag aus Bartholomäus‘ Leben. Und der junge ist völlig auf sich alleine gestellt, hat er doch seinen einzigen Fürsprecher verloren. Da kommt die Expedition dreier wunderlicher Brüder aus Bayern gerade recht. Diese Brüder, die auf den Namen Schlagintweit hören, wollen ähnlich wie ihr großes Vorbild Alexander von Humboldt, die Welt Indiens erkunden. Dank seiner bayerischen Sprachkenntnisse, die sich Bartholomäus im Haus der bayerischen Missionare erworben hat, wird er zum Übersetzer der drei Brüder. Zusammen brechen sie auf, um Indien zu erkunden.

Die Erkundung Indiens

Die drei so unterschiedlichen Brüder machen sich also mit einem ganzen Treck an Trägern, Übersetzern und lokalen auf, um der Vermessung Indiens voranzutreiben. Im Auftrag der East India Company sollen die das Land vermessen und kartieren. Bombay und Kalkutta sind dabei nur die ersten Stationen auf einer Reise, die mindestens ebenso viele Gefahren wie Entdeckungen bereithält. Ganz nah dran immer Bartholomäus, der auf den Reisen sein Museum der Welt im Gepäck hat. Denn er möchte das erste Museum Indiens gründen und sammelt deshalb alles, was ihm wichtig erscheint. Und das sind von Gegenständen bis hin zu Emotionen die unterschiedlichsten Dinge, die ihm auf seiner Reise mit den Schlagintweits begegnen.

Aus München auf die höchsten Berge und bis nach Indien: Die Gebrüder Schlagintweit

Diese ganzen Gegenstände, die Bartholomäus sammelt, bilden die Überschriften des Buchs. Immer spielen die Fundstücke im folgenden Kapitel eine Rolle. Mal sind es Erfahrungen oder biographische Hintergründe, dann aber auch wieder Begegnungen mit Menschen oder Konkretes wie Opiumpflanzen. Über diese Feinordnung hinaus montiert Christopher Kloeble seinen Roman in chronologischer Reihung, die in Bombay 1854 beginnt.

Als Romancier kann man sich über die Geschichte der Schlagintweit-Expedition freuen. Hier liegt die Geschichte ja schon förmlich auf der Straße. Eine Expedition dreier Bayern ins exotische Indien. Spionage, Vermessung, Humboldt-Freundschaft, ein auf seiner Reise hingerichteter Bruder. Da erzählt sich so eine Geschichte fast wie von selbst.

Erzählerische Manierismen

Tatsächlich ist Das Museum der Welt ein großer Bilderbogen, der mich manchmal mit seinen erzählerischen Manierismen nervte. So ist die Welt Indiens eh schon voller Bezeichnungen und Titel, die sich uns nicht erschließen. Dann hat aber auch Bartholomäus die Angewohnheit, sämtliche Entitäten in seiner Welt mit eigenen Bezeichnungen zu belegen. So sind etwa Vickys die Kolonialherren, da es sich ja um Viktorianische Truppen handelt, die in Bombay das Sagen haben. Ab und an eingestreut haben solche Termini ja ihren Reiz. Aber inmitten dieser Bezeichnungen von Makadam, Devinder, Train, Khansaman, Bihishti, Rakscha, Raja, Smitaben und so weiter und so fort verlor ich sukzessive den Überblick.

Christoph Kloeble - Das Museum der Welt (Cover)

Ein Glossar oder Personenverzeichnis wäre hier eine sinnige Ergänzung zum Roman gewesen, auf das man (zumindest in der mir vorliegenden Ausgabe) verzichtet hat. Eine Entscheidung, die mir den Lektüregenuss etwas verleidet hat.

Abgesehen von diesen stilistischen Arabesken ist das Buch aber nicht nur eingedenk des zuende gegangen Humboldt-Jahres eine reizvolle Lektüre. Ich sehe Das Museum der Welt auch übergeordnet als Teil eines beachtens- und begrüßenswerten Trends. Denn zunehmend interessieren sich Literat*innen auch für die marginalisierten und vergessenenen Figuren der Weltgeschichte. So spielt (wenngleich hier nur fiktiv) Bartholomäus eine entscheidende Rolle bei den Expeditionen der Schlagintweits. Durch seine Brille beobachten wir den ganzen indischen Kosmos, in den die Schlagintweits einfach einbrechen und deren Verhalten für den Jungen oftmals wunderlich wirkt.

Ein Stück postkoloniale Literatur

Auch Christopher Kloeble selbst beschreibt das so, dass er mit Bartholomäus lieber eine unbekannte geschichtliche Perspektive wählte, als der Geschichte der Gebrüder Schlagintweit eine weitere bekannte Facette hinzuzufügen. Damit reiht sich das Buch ein in einen gegenwärtigen Trend, die andere, postkoloniale Seite der Geschichte zu zeigen. Hervorragend gelang das zuletzt Petina Gappah in ihrem Livingstone-Roman Aus der Dunkelheit strahlendes Licht. Auch sie schaffte es eindrücklich, unserer weißen Sicht auf die Kolonial- und Expeditionsgeschichte Afrikas eine neue Sichtweise entgegenzusetzen.

Die Klasse jenes Werks besitzt Das Museum der Welt leider nicht, dafür ist es mir etwas zu verplaudert, überfrachtet und stilistisch nicht ganz überzeugend. Aber nichtsdestotrotz ist das Buch ein klassischer Abenteuerroman alter Bauart, ein Stück postkoloniales Erzählen, die Geschichte der Mannwerdung eines Jungen und eine Erzählung über die Expedition der Gebrüder Schlagintweit. Wenn man über die Schnitzer des Buchs hinwegsehen mag, erhält man hier eine originelle Lektüre, die das alte Indien wieder auferstehen lässt.

Weitere ganz unterschiedliche Meinungen gibt es auf folgenden Seiten: SZ online, Letteratura und Lesenslust.


Bildrechte Porträt Schlagintweit: Von unbekannt – [1], PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3174418

Diesen Beitrag teilen

Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Im Reich des Geliebten Führers

Der Roman von Adam Johnson könnte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen: Die Welt schaut auf Nordkorea, das Land das hermetisch abgeschottet vom Geliebten Führer Kim Jong Un regiert wird und dessen außenpolitischen Drohungen die Nachbarstaaten alarmieren.

Während sich die Politik im Zaudern verliert hat Adam Johnson den Versuch unternommen, sich dem Land auf literarischer Ebene zu nähern – und wurde prompt mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Sein Werk, im Original schlicht mit dem Titel „The Orphan Master’s Son“ versehen, wurde für den deutschen Buchmarkt von Suhrkamp Nova als „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ veröffentlicht, übersetzt von Anke Caroline Burger. Ebenso sperrig wie der Titel ist auch die Gesamtstruktur und seine Länge von über 680 Seiten – ein Wagnis, das in meinen Augen geglückt ist.

Der in meinen Augen ebenso falschen wie überflüssigen Unterscheidung zwischen E und U verweigert sich Das geraubte Leben des Waisen Jun Do konsequent und erlaubt es sich, einen brutalen Konflikt literarisch aufzulösen und sogar manchmal zum Stilmittel des Humors zu greifen.

Der Roman von Adam Johnson lässt sich vortrefflich mit einem Zitat aus dem Buch beschreiben:

Es gibt kein Wort dafür […] Es gibt kein Wort, weil es noch nie jemand getan hat.

Johnson, Adam: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do, S. 384

Jun Dos Erlebnisse in Nordkorea

In „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ entwirft der amerikanische Autor zugleich die Charakterstudie eines nordkoreanischen Bürgers und die der nordkoreanischen Republik. Nicht von ungefähr erinnert der Name des Protagonisten Jun Do lautmalerisch stark an das amerikanische Wort für unbekannte Leichen – John Doe. Im Buch gerät der höchst durchschnittliche Genosse Jun Do in unterschiedlichste Verwicklungen und erfährt die Abgründe des menschenverachtenden totalitären Regimes um den Geliebten Führer.

Das Buch basiert auf eigenen Eindrücken des Autoren, der für den Roman extra nach Nordkorea reiste um seine Erzählung auf eigenen Beobachtungen aufbaute. Dies gibt dem Buch eine zusätzlich ernüchternde Note, wenn Johnson in Interviews zu seinem Roman bemerkt, dass er für das Buch die schwarzen Seiten Nordkoreas noch aufhellen musste. So rückt der Autor nämlich wieder in den Fokus, was wir bei allen medialen-politischen Berichterstattungen gerne vergessen: Es geht beim Nordkorea-Konflikt noch immer um die Menschen, deren Leid vom totalitären Regime einfach hingenommen wird.

Insgesamt ist Das geraubte Leben des Waisen Jun Do nämlich deprimierend durch und durch. Immer wieder muss Jun Do Gewalt ertragen, Verluste hinnehmen und sich an neue Situationen anpassen. Dies wäre an sich noch nicht unbedingt neu oder besonders literarisch – das Neue an dem Buch besteht in meinen Augen in seiner sperrigen Konstruktion. In zwei Teile aufgeteilt erzählt Adam Johnson manchmal etwas komplizierter als vielleicht nötig von der Entwicklung Jun Dos. Er flicht Rückblenden, parallele Stränge und kurze Propagandatext-Splitter zu einem großen Epos, der aufmerksame Leser verlangt. Ein Buch, das keine Zerstreuung, dafür aber Erkenntnis bietet.

Diesen Beitrag teilen

Marjorie Celona: Hier könnte ich zur Welt kommen

Ydentität

 

„Mit sechzehn ist mir klar, was ich bin und was ich nicht bin. Ich werde kein Supermodel sein – [man erzählt] dass meine Mutter nur einen Meter zweiundfünfzig maß und ihre Schultern fast doppelt so breit waren wie ihre Hüften, was ihr die Statur eines Linebackers im Miniformat verlieh. Und das wird auch meine Statur sein. Außerdem ist inzwischen klar, dass ich auf dem linken Auge vollständig blind bin.“ (Marjorie Celona: Hier könnte ich zur Welt kommen, S. 144)

So beschreibt sich Shannon, vor einem YMCA ausgesetztes Findelkind, schonungslos selbst und offenbart dabei gleich das Dilemma, das „Hier könnte ich zur Welt kommen“ von Marjorie Celona im Kern bestimmt. Shannon kennt weder ihre Herkunft noch ihren leiblichen Vater oder ihre Mutter.

Das im Original schlicht mit dem Titel „Y“ übertitelte Werk erzählt anschaulich und eindringlich von der Suche nach Shannons Identität und ihren Eltern.

Nach einer Odyssee durch verschiedene Familien und damit auch verbundene Namenswechsel endet Shannon, wie sie von nun an heißen soll, bei der alleinerziehenden Miranda und ihrer Tochter Lydia-Rose. Themen wie innerfamiliäre Kämpfe, Auflehnung, Selbstfindung und der Wunsch nach den Hintergründen von Shannons Identität dominieren in der Folge die Familie der drei Frauen.

Celona schildert all dies eindringlich und handwerklich äußerst geschickt, indem sie zwei Erzählstränge miteinander verknüpft. Sie streut immer wieder Teile über Shannons Familie und die Zeit vor ihrer Geburt ein, den Löwenanteil macht aber die Ich-Perspektive Shannons aus. Hier wählt Marjorie einen geschickten erzählerischen Kniff, indem sie die Ich-Perspektive mit einem auktorialen, also allwissenden Erzähler, verknüpft. So referiert Shannon schon über den Moment ihrer Aussetzung bis hin in ihre Sturm-und-Drang Zeit. Eine solch konsequente Erzählhaltung habe ich zumindest noch nicht oft gelesen – und diese macht in meinen Augen auch den Reiz des Buches aus. Eindringlich verfolgt man Shannons schwierigen Werdegang und kann sich leicht mit der Heldin identifizieren, da man die Welt durch ihre Augen betrachtet.

En passant reißt Celona große Fragen an und bringt den Leser zur Selbstreflektion: Was bedeutet uns Identität, was prägt uns, wonach sehnen wir uns im Leben? Es spricht für die Debütautorin, dass sie keine starren Antworten auf diese Fragen gibt, sondern sie dem Leser überlässt.

Ein kluges und eindringlich Buch, dass die Y-Dentität in den Mittelpunkt stellt.

Diesen Beitrag teilen