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Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr

Sommer, das ist auch immer Theater. Es zieht die Menschen nach draußen und auf den Freilichtbühnen des Landes werden Opern, Musicals und Theaterstücke gegeben. Auch in Erich Kästners Roman Der kleine Grenzverkehr ist das nicht anders. Hier verschlägt es einen jungen Schriftsteller nach Österreich, wo er zusammen mit einem Freund die legendären Salzburger Festspiele mitsamt ihrer nicht minder legendären Aufführung des Jedermann von Hugo von Hoffmannsthal als Höhepunkt besuchen will. Doch nicht nur auf der Bühne wird Theater gespielt – und dann ist da auch noch die lästige Problematik des Schlagbaums zwischen Österreich und Deutschland…


Es ist eine Grenzsituation noch vor Schengen, Freizügigkeit und dem Euro, die Erich Kästner in Der kleine Grenzverkehr wieder aufleben lässt. Sein in Form eines Tagebuchs erzählten Romans spielt im Jahr 1937 und erschien erstmalig ein Jahr darauf. Das ist insofern bemerkenswert, da 1938 der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland unter den Nationalsozialisten vollzogen wurde.

Volten der Geschichte

Kästner formuliert diesen Umstand in seinem Vorwort an die Leser der 1948 in Zürich erschienen Ausgabe wie folgt:

Als ich dieses kleine Buch, während der Salzburger Festspiele Anno 1937, im Kopf vorbereitete, waren Österreich und Deutschland durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken „auf ewig“ voneinander getrennt. Als das Büchlein im Jahr 1938 erschien, waren die beiden Länder gerade „auf ewig“ miteinander verbunden worden. Man hatte nun die gleichen Briefmarken und keinerlei Schranken mehr. Und das kleine Buch begab sich, um nicht beschlagnahmt zu werden, hastig außer Landes.

Habent sa fata libelli, wahrhaftig, Bücher haben auch ihre Schicksale. Jetzt, da das Buch in einer neuen Auflage herauskommen soll, sind Deutschland und Österreich wieder voneinander getrennt. Wie durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken. Die neuere Geschichte steht, scheint mir, nicht aufseiten der Schriftsteller, sondern der Briefmarkensammler. Soweit das ein sanfter Vorwurf sein soll, gilt er beileibe nicht der Philatelie, sondern allenfalls der neueren Geschichte.

Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr, S. 7

Und während man sich nun, knapp neunzig Jahre seit dem ursprünglichen Erscheinen, wieder mehr oder minder frei von Kontrollen und Devisentausch zwischen den Nachbarländern bewegen kann, ist von der Durchlässigkeit der Grenze für Georg, den Helden von Kästners Roman, noch nichts zu spüren – im Gegenteil.

Über die Grenze nach Österreich

Mit einem schönen metafiktionalen Kniff gibt Kästner sein Werk dabei als Fundstück aus, das er ohne das Wissen seines Freundes publiziert habe. Einst habe es ihm sein Freund in die Hände gedrückt, und nun habe er sich entschieden, dieses Sommertagebuch zu veröffentlichen.

Erich Kästner - Der kleine Grenzverkehr (Cover)

Und so beginnt die Geschichte Georg Rentmeister, der von seinem Freund Karl eingeladen wird, zusammen mit ihm die Salzburger Festspiele zu besuchen. Für Karl steht ein Engagement als Bühnenbildner in Aussicht – und so wollen die beiden Freunde sich im August in der Stadt an der Salzach umtun und den vielen hochkarätigen Aufführungen unter freiem Himmel beiwohnen, wie Georg in dem Tagebuch schreibt.

Da ist nun nur das Problem der Devisen. Denn obschon er die Reise nach Österreich per Bahn angetreten hat, steht eine Auskunft der Devisenstelle noch aus. Genau (um)gerechnet bleiben ihm von seinen zehn Reichsmark täglich nur 33,3 Pfennige für den Aufenthalt in Salzburg – „Was zu wenig ist, ist zu wenig!“, wie Georg selbst in seinem Tagebuch notiert. Und so entscheidet er sich zu einem zweigeteilten Aufenthalt. Das Hotel bezieht er auf der deutschen Seite in Reichenhall, um dann täglich mit dem Autobus eine halbe Stunde und zwei Passkontrollen später in Salzburg einzutreffen, wo er mit seinem Freund die von ihren Kunstschätzen und Bauten geprägte Stadt durchstreift und dem sommerlichen Kulturgenuss huldigen möchte.

Doch da ist auch noch eine weibliche Bekanntschaft, die der permanent in Geldnöten steckende Georg macht. Der Genehmigungsvertrags seiner Devisen zieht sich weiterhin und so ist es ein Stubenmädchen namens Konstanze, das ihm unverhofft begegnet und das ihn aus der finanziellen Bredouille befreit.

Sommerliche Scharaden in Salzburg

Auf einem nahegelegenen Schloss würde sie arbeiten, so offenbart sie sich Georg, der nicht nur von ihrem Sparkassenbuch begeistert zeigt, sondern deren Äußeres den jungen Mann auch zum Schwärmen bringt. Rasant beginnt das Tête-a-tête der beiden, bei dem sich dann herausstellt, dass Konstanze Georg etwas vorspielt. Doch auch er spielt wenig später schon bei der sommerlichen Scharade, die Konstanze aufzieht, begeistert mit. So gibt es nicht nur auf den Bühnen der Stadt Irrungen und Wirrungen zu beobachten, sondern auch im Schloss spielt sich schon bald Heiter-Romantisches ab…

Der kleine Grenzverkehr ist ein Buch, bei dem nur wenig auf das hindeutet, was schon ein Jahr später über die beiden Länder und bald den ganzen Kontinent hereinbrechen sollte.

Originalcover der Ausgabe von "Der kleine Grenzverkehr" aus dem Jahr 1948
Cover der Ausgabe von „Der kleine Grenzverkehr“ aus dem Jahr 1948 mit Illustrationen von Kästners Freund Walter Trier

Während Karl in Berlin noch der Erlaubnis des Wehrkreiskommandos und der Passstelle bedarf, um überhaupt die vierwöchige Reise nach Österreich antreten zu dürfen, wird die Welt mit jedem Kilometer, den er der deutsch-österreichische Grenzregion näher kommt, leichter. Postkartenmotive von Heu erntenden Bauern auf den Bergen oder den Gassen Salzburgs versprühen Nostalgie und Idylle.

Zudem nimmt sich dieser im August spielende Roman auch nicht ernster, als er muss. Das Spiel mit dem fiktiven Tagebuch, die Scharaden um Georg und Konstanze, die Irrungen und Wirrungen – Kästners Sommerroman ist leicht und heiter – was insbesondere angesichts der Umstände, unter denen er entstanden ist, umso bemerkenswerter ist. Dass Kästner fünf Jahre vor dem Entstehen dieses Buchs mit ansehen musste, wie seine eigenen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden, und in Folge dieses Ereignisse mit einem partiellen Schreibverbot belegt wurde, diese Erfahrungen zeichnen den Roman nicht, im Gegenteil.

Fazit

Der kleine Grenzverkehr feiert das Theater, die Scharade und die Liebe hingebungsvoll. Ebenso ist der Roman eine Hommage an Salzburg und seine Festspiele und die Welt der Berge. Auch fast neunzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen lässt dieser kurze und doch reichhaltige Romane auch angesichts der Umstände seiner Entstehung staunen. Eine wirkliche Empfehlung, und das nicht nur an Augusttagen!


  • Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr
  • ISBN 978-3-03882-015-4 (Atrium)
  • 146 Seiten. Preis: 12,00 €
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Nicola Upson – Experte in Sachen Mord

Tod und Intrigen im Londoner West End. Im ersten Band ihrer Reihe um Josephine Tey und Archibald Penrose nimmt Nicola Upson die Leser*innen mit in die flirrende Welt des Theaters und erzählt in Experte in Sachen Mord von Morden, Familiengeheimnissen und rauschenden Theatererfolgen zwischen Covent Garden und St. Martins Lane.


Auch wenn Josephine Tey selbst vom letzten Zug nach Schottland schrieb, so nimmt sie als fiktive Figur in Nicola Upsons Roman Experte in Sachen Mord den genau umgekehrten Weg. So reist sie zu Beginn des Romans aus ihrer schottischen Heimat in Inverness nach London. Der Grund für die Reise der eigentlich recht reisescheuen Elizabeth Mackintosh alias Josephine Tey hat aber einen guten Grund. So ist es ihr Theaterstück Richard von Bordeaux, das am Theater des Impresarios Bernard Aubrey sämtliche Rekorde bricht.

Die Theaterwelt im Londoner West End

Nicola Upson - Experte in Sachen Mord (Cover)

Ausverkaufte Vorstellungen, lange Schlangen vor den Ticketschaltern, Souvenirpuppen passend zur Inszenierung und Schauspieler, die in ihren Rollen zu Stars werden, darunter auch der junge John Terry (dessen reales Vorbild John Gielgud Upson im Roman kaum verhüllt). Teys Stück löst im Londoner West End einen regelrechten Hype aus, und so giert der Impresario natürlich nach weiteren Erfolgen, die er in Form einer geplanten Tour des Stücks mitsamt seinem Erfolgsschauspieler gefunden zu haben meint.

Auch Elspeth, eine junge Frau, ist großer Fan von Teys Stück und der Autorin selbst, mit der sie zufällig ein Zugabteil auf dem Weg nach London teilt. Kurz nach der Ankunft des Zuges im Bahnhof King’s Cross wird die junge Frau allerdings brutal ermordet. Der Tatort im Zugabteil ist geschmückt und wie ein Bühnenbild inszeniert. Das macht auch Archibald Penrose von Scotland Yard stutzig.

Der alte Freund Josephines beginnt mit seinen Ermittlungen, die ihn mitten hinein ins Londoner West End führen. Denn nicht nur vor den Kulissen der Theater gibt es Morde und Intrigen – auch dahinter geht es nicht minder gefährlich zu. Neidische Inspizientinnen, ambitionierte Stars und mittendrin Aubrey als Impresario, der alle Charaktere und Pläne zusammenhalten muss.

Archie Penrose und Josephine Tey ermitteln

Dass Experte in Sachen Mord der Auftakt einer Reihe ist, merkt man dem Krimi nur in einigen wenigen Aspekten an. So ist die Einführung der Nebenrollen etwas schematisch und die Zeichnung mancher Figuren doch etwas unterambitioniert – und auch gewisse Längen schleichen sich inmitten der Mördersuche im Westend ein. So sind 480 Seiten für den Plot etwas überdehnt, wenngleich es Nicola Upson schlussendlich gut gelingt, die einzelnen Fäden und Charaktere des Buchs zu einem wahren Familiendrama zusammenzuführen.

Die besondere Stärke liegt in der Atmosphäre, die die britische Autorin hier heraufzubeschwören weiß. Trinkrituale hinter der Bühne der Theater, Josephine Tey bei zwei Freundinnen, die als Ausstatterinnen entscheidend zum Erfolg vieler Theaterproduktionen beitragen, Klatsch und Tratsch und die Grillen mancher Theaterstars – Experte in Sachen Mord schöpft hier aus dem Vollen und lässt die Theaterbegeisterung der Zwischenkriegszeit lange vor Kino, Musicals und Co wiederauferstehen.

Ähnlich wie Reginald Arkell in seinem 1953 erschienenen Roman Charley Moon ist auch dieser historische Krimi eine Hommage an die flirrende Theaterwelt Londons und die seiner Stars – mit der ermittelnden Krimiautorin Josephine Tey mittendrin.

Zudem gibt es in ihrem Krimi auch Anklänge an die Schrecken des Ersten Weltkriegs, der noch immer in den Köpfen der Britinnen und Briten vorhanden war und der auch auf die Geschehnisse in Experte in Sachen Mord entscheidende Auswirkungen hat. Somit ist der Krimi voller Zeitgeschichte und Lokalkolorit, was entscheidend zur Qualität des Cosy Crime-Titels beiträgt.

Fazit

Insgesamt gelingt Nicola Upson mit dem ersten Band ihrer Krimireihe um Josephine Tey und Archibald „Archie“ Penrose ein wirklich guter Auftakt zu einer Serie, die im englischen Original mittlerweile schon elf Bände umfasst. Theaterwelt, eine (trotz zweier Leichen) recht unblutiger Krimi, gemächliches Tempo, verbunden mit nur ein paar kleineren Anlaufschwierigkeiten machen aus Experte in Sachen Mord einen wirklich guten Krimi für alle Theaterfans und Freunde klassischer britischer Krimis.

Weitere Informationen zu Josephine Tey und Nicola Upsons Reihe gibt es auch auf dem Lady-Blog. Und mit Mit dem Schnee kommt der Tod liegt noch ein weiterer, eher in weihnachtlichem Rahmen angesiedelter Band der Reihe bereits besprochen vor (es handelt sich um den neunten Band der Reihe).


  • Nicola Upson – Experte in Sachen Mord
  • Aus dem Englischen von Verena Kilchling
  • ISBN 978-3-0369-5013-6 (Kein & Aber)
  • 480 Seiten. Preis: 22,00 €
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Claire Thomas – Die Feuer

Wer kennt es nicht. Da sitzt man in einer Theateraufführung mit womöglich mehreren Akten und einer Lauflänge über zwei oder drei Stunden – und der Funke der Inszenierung will nicht wirklich überspringen. Das Geschehen auf der Bühne löst nichts in einem aus, stattdessen lässt die Aufmerksamkeit nach und die Gedanken beginnen zu schweifen. Auch den drei Frauen, die in Claire Thomas´ Roman Die Feuer aufeinandertreffen, ergeht es nicht anders. Bei ihnen hat das allerdings ganz unterschiedliche Gründe.

Während auf der Bühne Beckett gegeben wird, lodern die Flammen rund um Melbourne immer höher und Sorgen, Erinnerungen und Überlegungen überlagern alles.


Pünktlich zum Klingeln der Vorstellung hat es Margot in den Theatersaal geschafft. Während draußen vor der Tür um 19:00 Uhr abends noch Temperaturen von vierzig Grad herrschen, ist es im Innenraum des Theaters doch verhältnismäßig kühl. Welches Stück gegeben wird, weiß sie als Abonnentin gar nicht und will sich überraschen lassen. Von ihrem unbekannten Sitznachbar erfährt sie noch, dass es sich um ein Stück von Samuel Beckett handelt, danach öffnet sich schon der Vorhang.

Drei Frauen, ein Theaterstück

Summer hingegen kennt sich sehr gut aus. Sie hat dem Stück schon mehr als fünfmal beigewohnt. Dies allerdings nicht aus Enthusiasmus, sondern weil es ihr Job als Schließerin im Theater erfordert, die Türen rechtzeitig zu öffnen und zu schließen und die Nachzügler im Theater noch einzuweisen. Auf einem Sperrsitz verfolgt sie einmal mehr die Vorstellung.

Claire Thomas - Die Feuer (Cover)

Und dann ist da noch Ivy, die ebenfalls im Zuschauerraum sitzt. Später in der Pause wird sie umschwärmt und verwöhnt werden, was einen einfachen Grund hat. Ivy ist als Mäzenin im Besitz von viel Geld, das natürlich Interesse und Begehren weckt. Auch das Theater möchte von ihren finanziellen Zuwendungen profitieren, weswegen sie als gern gesehener Gast natürlich hofiert wird.

Diese drei Frauen sitzen alle im selben Theaterstück, vom Inhalt bekommen sie allerdings nur wenig mit. Eine bis zu ihrem Rumpf eingegrabene Frau namens Willie unterhält sich im Stück mit ihrem Mann Winnie, der die meiste Zeit abwesend ist. Recht viel mehr passiert nicht in Samuel Becketts Stück Glückliche Tage, was den Frauen viel Raum zum Mäandern der Gedanken gibt.

Da ist die bedrohliche Lage der Feuer rund um Melbourne, die besonders Summer belasten. Ihre Freundin April befindet sich irgendwo da draußen in der Feuerzone und lässt nichts von sich hören. Margot belastet der Rauch in der Luft ebenso wie die Situation ihres Abschieds von der Uni und die schwierige Beziehung zu ihrem dementen Mann. Und Ivy hadert mit ihrem Dasein als stets umschwärmte Geldgeberin, bei der doch eher ihr Vermögen als ihre Persönlichkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.

Ein Theaterabend, drei ganze Leben

All diese Belastungen und Probleme wälzen die Frauen, während Willie auf der Bühne monologisiert. In der Pause werden alle drei Figuren aufeinandertreffen, die von Claire Thomas passenderweise in Form eines Theaterstücks mit reinen Dialogen und Handlungsanweisungen geschildert wird, ehe sie zum zweiten Teil verändert an ihre Plätze zurückkehren und neue Impulse gewonnen haben.

Claire Thomas ist dann aber souverän und klug genug, das Ende nach dem Fall des Vorhangs nicht auszuerzählen, sondern vieles offen zu lassen, womit sie sich natürlich auch an Samuel Becketts existenzialistischen Dramen und Schauspielen orientiert, die es den Zusehenden auch in ihrer Deutung nicht leicht machen und keine einfachen Antworten liefern.

Während die Einheit von Raum und Zeit gewahrt bleibt, fächert sie durch die Gedankenströme der drei Frauen ganze Leben auf, erzählt von Scheitern, Enttäuschungen, Ängste, Gewalterfahrungen und Lebensentwürfen, die doch ganz anders endeten, als sie eigentlich erhofft waren. Auch lässt das Stück selbst Rückbindungen auf die Leben der drei Figuren zu, erlaubt interpretatorische Ausdeutungen und ist reich an Zwischentönen.

Fazit

Das macht aus Die Feuer eine starke, intensive Lektüre, die auf 250 Seiten drei ebenso unterschiedliche wie gleichwertig überzeugende Leben und Schicksale präsentiert. Eine vibrierende Lektüre, die durch die abstrakte Gefahr des Feuers mitbangen lässt und durch die Konzentration auf das kleine Personenensemble Intimität und Eindringlichkeit entfaltet.

Literarisch durch die beständigen Abschweifungen und eingebauten Erinnerungsschleifen rund um das Beckett-Stück interessant erzählt, gönnte sich Claire Thomas den Luxus, nicht alles ganz genau auszubuchstabieren, sondern bei aller Verzahnung der drei Leben auch Leerstellen und Freiräume zu lassen, was das Buch umso überzeugender macht.

Mit Die Feuer reiht sich die australische Autorin nahtlos in ein wirklich exzellentes Bücherprogramm des Hanser-Verlags aus diesem Frühjahr ein, das in dieser Qualität länger nicht mehr da war. Nach Percival Everetts Erschütterung und Fatma Aydemirs Dschinns ein weiteres Highlight. So darf es im Herbst gerne weitergehen!


  • Claire Thomas – Die Feuer
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-446-27297-2 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 23,00 €
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Reginald Arkell – Charley Moon

Schon das Cover auf dem Leineneinband macht klar: Charley Moon kommt aus einer anderen Zeit oder um es mit anderen Worten auszudrücken: dieses Buch ist old-fashioned, um sprachlich gleich einmal am Handlungsort des Buchs anzukommen. Und tatsächlich ist Reginald Arkells Roman altmodisch im besten Sinne. Er präsentiert einen Bildungsroman, der dem idyllischen England, der Komik und dem Theater ein Denkmal setzt. Entschleunigte Feelgood-Unterhaltung!


In Little Summerford gehen die Uhren noch etwas anders. Der erste Weltkrieg steht kurz bevor, doch das große Weltgeschehen hat im idyllischen Städtchen nahe der Themse noch nicht Einzug gehalten. In einer baufälligen Mühle wächst Charley Moon als Sohn des Müllers auf. Für die Arbeit dort in der Mühle ist er nicht so recht geeignet, stattdessen verbringt er seine Zeit lieber unbeschwert mit Fischen, Wildern oder dem Träumen auf dem Dachboden der Mühle.

Von der Truppe bis ins Londoner West End

Reginald Arkell - Charley Moon (Cover)

Schon früh scheint sein Talent zu Späßen und musikalischen Einlagen auf. Nachdem ihm sein Vater eröffnet, die ganze Mühle und die umliegenden Ländereien verpfändet zu haben und dass Charley nichts als Schulden erben wird, stirbt er kurze Zeit später. Charley will nichts mit der Tradition der Moons zu tun haben und wählt den Weg zur Truppe.

1916 kommt er zu einem Regiment in Yorkshire, wo seine Talente bald Verwendung finden. Zusammen mit dem drittklassigen Mimen Harold Armytage ist er für die Unterhaltung der Truppe zuständig. Und auch über den militärischen Einsatz hinaus tut sich Charley mit Armytage zusammen, um als Komikerduo auf der Bühne zu stehen. Sie schließen sich einer fahrenden Produktion an, kommen ins Londoner Westend und schließlich erlebt Charley seine ersten großen Erfolge auf der Bühne. Aber wie das im Leben so ist – what comes up, must come down – und so wird auch Charley nicht ewiger Erfolg und Ruhm bescheiden sein.

Eine fast unberührte Idylle

Wer Charley Moon liest, findet eine fast unberührte Idylle in allen Belangen vor. Das kleine Dörfchen Little Summerford wirkt wie einem Buch Beatrix Potters entnommen, das Theater hat hier noch die Faszination, die ganze Dorfbevölkerung zusammenströmen lässt, die Figuren sind ehrliche Männer und Frauen, die zu ihrem Wort stehen und irgendwie fügt sich immer alles.

Hier gibt es sie noch die heile Welt auf dem Dorf, während in London die Verlockungen wie Pferdewetten, Billard und Trunkenheit lauern. Manchmal erinnert das Ganze an den Musicalklassiker My fair lady, dann wieder etwas an Dickens oder an die pastorale Idylle englischer Heimatmaler.

Reginald Arkells Buch ist neben der Hymne auf das entschleunigte Dorfleben auch eine auf das Theater. Hier im Londoner West End meint man, dass seit Shakespeares Stücken im Globe Theatre keine Minute verstrichen ist. Es herrscht Tumult, die Sperrsitze revoltieren gegen den Oberrang und die Zuschauer erschreien und erklatschen sich Zugaben von ihren Favoriten. Gegen den gesitteten und braven distinktionsgesättigten Theaterbesuch von heute nimmt sich Charley Moon ganz anachronistisch aus, was bei dem Blick auf das Erscheinungsjahr von 1953 auch nicht verblüffen sollte.

Die so lebendige Schilderung der Londoner Theaterwelt speist sich dabei aus Reginald Arkells Vita selbst (1881-1959). Denn neben seiner Leidenschaft fürs Gärtnern war Arkell als Stückeschreiber in London zwischen West End und Covent Garden sehr aktiv, verfasste Musical, Kabaretts und andere Bühnenwerke. So ist Charley Moon auch als Hommage an seinen eigentlichen Brotberuf zu verstehen, mit der er der Theaterwelt ein Denkmal setzt.

Fazit

Charley Moon ist ein ganz klassischer Bildungsroman, der das Dorfleben in Little Summerford feiert und der mit Charley Moon einen sympathischen und aufrichtigen Helden in den Mittelpunkt rückt. Wie schon in Pinnegars Garten beschwört Reginald Arkell hier auch eine urtypisch britische Welt herauf, die von allzu großem Unglück oder Not verschont bleibt. Wirklich warmherzige Feelgood-Unterhaltung, die in diesen Zeiten Eskapismus und Ablenkung verheißt.


  • Reginald Arkell – Charley Moon
  • Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich
  • ISBN 978-3-293-00538-9 (Unionsverlag)
  • 288 Seiten. Preis: 19,00 €
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Thomas Hettche – Herzfaden

Auf wohl keinen Roman habe ich mich als Augsburger mehr gefreut in diesem Herbst als auf diesen: Thomas Hettche erzählt in Herzfaden die Geschichte einer der wichtigsten, wenn nicht DER wichtigsten deutschsprachigen Kulturinstitution der Nachkriegszeit, nämlich die der Augsburger Puppenkiste.


Nachdem er in seinem letzten Roman Pfaueninsel die Erzählperspektive eines kleinwüchsigen Schlossfräuleins wählte, setzt Hettche in seinem neuen Roman das Erzählen aus kleingeratener Sicht fort. In Hettches Herzfaden ist da zunächst ein Mädchen, das nach der Vorstellung im Puppentheater vor dem eigenen Vater durch eine Tür flüchtet. Dadurch gerät es auf einen Speicher. Dort muss es feststellen, dass es auf Puppengröße geschrumpft ist. Das Mädchen findet sich in der Gegenwart ikonisch gewordener Figuren wie etwa dem Urmel oder dem König Kalle Wirsch wieder. Figuren, die das Mädchen trotz seines jungen Alters immer noch kennt.

Thomas Hettche - Herzfaden (Cover)

In die Mitte der geschnitzten Puppen auf dem Speicher tritt eine große Frau, die dem Mädchen in der Folge ihre Lebensgeschichte erzählt. Es handelt sich bei der Frau um Hannelore Marschall , genannt Hatü. Sie ist die Tochter Walter Oehmichens, der zusammen mit ihr das später so bekannte Oehmichens Marionettentheater gründen sollte und in dem sie zur Schöpferin all dieser Figuren wurde, die Hatü und das Mädchen nun umgeben.

Von der Entstehung des berühmten Puppentheaters, der Kindheit und dem Aufwachsen in einem weltkriegszerstörten Augsburg, davon erzählt Hatü dem Mädchen. Und wir als Leser*innen lauschen mindestens ebenso gebannt den Erzählungen der dauerrauchenden Frau. Von den Pogromen, der Armut und dem Leid, das der Krieg mit sich brachte. Davon, wie ihr Vater als Spielleiter des Augsburger Staatstheater zunächst nicht entnazifiert wurde, wie die GIs Augsburg besetzten und wie die Oehmichens alles daran setzten, Ablenkung und Normalität zurück zu den Menschen zu bringen. Von all dem erzählt Hatü dem Mädchen auf dem Speicher, das schon bald dem Charme der Puppen erliegt – aber auch ihre Gefährlichkeit erfährt.

Der Zauber der eigenen Kindheit

Im Kern steckt in Herzfaden eine Frage: haben uns Figuren an Fäden, handgeschnitzt aus Holz und mimisch starr, heute noch etwas zu sagen? Heute, da die Ausdrucksmöglichkeiten der perfekt animierte Charaktere in Film und Fernsehen unerschöpflich scheinen, in der es scheinbar keine Grenzen der Darstellungskunst mehr gibt?

Figuren an Fäden: Die Augsburger Puppenkiste (hier eine Leihgabe des Puppentheaters ‚Das Puppenschiff‘ in Mainaschaff)

Die Antwort darauf lautet eindeutig ja. Das zeigt nicht nur der anhaltende Erfolg der Augsburger Puppenkiste und mitsamt ihrer immer wieder ausgestrahlten Evergreens. Das zeigt auch Thomas Hettches gelungener Roman, der den Zauber der Kindheit wieder heraufbeschwört.

Herzfaden bringt das Gefühl zurück, als uns Erzählungen an den Lippen der Eltern hingen ließen. Als die Fantasie noch keine Grenzen kannte und als in der eigenen Vorstellung noch alles möglich war. All das macht der Roman wieder erfahrbar. Was kümmert es, dass da ein Mädchen auf der ersten Seite auf Marionettengröße schrumpft und die Rahmenhandlung einem Märchen gleicht? Die Wahl der erzählerischen Mittel entspricht genau dem behandelten Thema. Das macht den Zauber dieses Buchs aus. Wer Realitätsansprüche an das Buch stellt, der sieht sich auch durch Hettches Nachwort eines Besseren belehrt.

Dieser Roman erzählt die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und wie jeder Roman ist er selbst ein Marionettenspiel. Personen und Ereignisse, die darin vorkommen, hat es wirklich gegeben, und sind doch erfunden.

Hettche, Thomas: Herzfaden

In Herzfaden ist alles möglich

In Herzfaden ist alles möglich, eben ganz wie in der Fantasie. Und das macht das Buch so lesenswert. Denn der Berliner Romancier begreift sein Handwerk in diesem Buch auch als Marionettenspieler, der um die Bedeutung des Herzfadens weiß, jenes unsichtbaren Fadens, der die hölzerne Marionette mit dem Marionettenspieler verbindet. Seine Figuren und dieses gesamte Buch sind auf alle Fälle durch Herzfäden miteinander verbunden.

Oder wie es Michael Ende in Hettches Herzfaden am Ende des Romans ausdrückt:

„Ich wehre mich einfach dagegen, zu werden, was man einen richtigen Erwachsenen nennt. Eines jener entzauberten, banalen, aufgeklärten Krüppelwesen, das in der entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Wissen Sie: In jedem Menschen lebt ein Kind, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig. Und dieses Kind, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft, dieses Kind in uns bedeutet bis zu unsem letzten Lebenstag unsere Zukunft.

Hettche, Thomas: Herzfaden, S. 272

In diesem Sinne ist Herzfaden ein Buch mit einer großen Zukunft, das auch den Deutschen Buchpreis verdient hätte. Es ist eine Hymne auf die Fantasie. Endlich mal ein überzeugender Augsburg-Roman, der seine Kulisse ernstnimmt. Ein Buch, das die Kunst des Marionettenspiels ehrt. Und nicht zuletzt ist Herzfaden ein Roman, der den Zauber der eigenen Kindheit wiederbringt.

Hannelore und Walter Oehmichen (Bildquelle: Augsburger Puppenkiste)

  • Thomas Hettche – Herzfaden
  • ISBN: 978-3-462-05256-5
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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