Tag Archives: Theater

Joel Dicker – Das Verschwinden der Stephanie Mailer

Alles nur Theater

Der Schweizer, der die überzeugendsten amerikanischen Romane schreibt, ist wieder da. In Das Verschwinden der Stephanie Mailer taucht Joel Dicker wieder in den mörderischen Kosmos einer amerikanischen Kleinstadt ein (übersetzt von Amelie Thoma und Michaela Meßner)

Diesmal heißt das Städtchen Orphea und liegt an der Ostküste, direkt vor den Toren New Yorks. Ein höchst beschauliches Städtchen, in dem jeder jeden kennt. Eine kleine Buchhandlung, Cafés, Feuerwerk am 4. Juli. Alles recht durchschnittlich, wäre da nicht jene Katastrophe, die 1994 Orphea heimsuchte. Als Touristenattraktion hatte man das erste Theaterfestival Orpheas ins Leben gerufen. Doch während der ganze Ort der Eröffnung des Festivals beiwohnte, ereignete sich ein paar Straßen weiter ein brutaler Mehrfachmord. Der Bürgermeister, seine ganze Familie und eine Joggerin wurden damals brutal erschossen. Wenig später wurde ein Täter dingfest gemacht – und damit wäre es ja eigentlich gut.

Das wäre dann allerdings auch ein relativ kurzer Roman geworden. Wer schon einmal einen Roman von Joel Dicker gelesen hat (Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert oder Die Geschichte der Baltimores), der weiß allerdings auch: kurz und bündig ist die Sache des Schweizers nicht. Und so setzt der voluminöse Roman (ca 650 Seiten) dann auch 20 Jahre später ein.

Auf einer Feier im Polizeirevier wird Jesse Rosenberg verabschiedet. Von Kollegen wird er nur der 100-Prozentige genannt, seine Aufklärungsquote ist legendär. Doch dann begegnet er der titelgebenden Stephanie Mailer, die als Journalistin für die lokale Gazette schreibt. Sie konfrontiert ihn mit einer unbequemen Aussage: damals habe er nämlich den Falschen verhaftet. Alle Kollegen einschließlich Jesse hätten wichtige Spuren übersehen.

Das nagt natürlich am 100-Prozentigen und so beschließt er, noch einmal eine letzte Ermittlung vor seinem Abschied durchzuführen. Diese erhält unerwartet eine besondere Brisanz, nachdem Stephanie Mailer wie vom Erdboden verschluckt scheint. Was meint die Journalistin entdeckt zu haben, das damals jeder andere übersehen hatte?

Ein Cold Case wird aufgeklärt

Das Verschwinden der Stephanie Mailer ist wieder ein Roman, der irgendwo zwischen Kriminalroman und Great American Novel in der Tradition von Richard Russo oder John Updike angesiedelt ist. Dicker spielt mit den Versatzstücken des Kriminalromans, um ein Poträt seiner Kleinstadt Orphea zu zeichnen. Das Buch bedient sich klar der Erzähltechnik des Cold Case. Immer wieder springt Dicker von der Gegenwart 2014 zurück ins Jahr 1994, als die Bluttat die ganze Stadt erschütterte. Stück für Stück enthüllt er die damaligen Geschehnissen und Verflechtungen, die die ganze Stadtgesellschaft durchdrangen und auch heute noch durchdringen.

Zudem präsentiert Dicker auch eine ganze Vielzahl an Figuren, deren Blick man als Leser*in immer wieder einnimmt. Das Haupttrio sind dabei Jesse Rosenberg und sein damaliger Partner Derek Scott sowie Anna Kanner, eine junge und ambitionierte Polizeibeamtin. Diese leidet unter dem Sexismus und dem Mobbing ihrer Kollegen und will es allen zeigen. Diese Trio versucht die Spuren des damaligen Falls wieder aufzunehmen. Dabei kreuzen sie die Bahn von zahlreichen Stadtbewohnern, die alle ganz eigene Leichen im Keller haben. Denn nicht nur beim Theaterfestival ist vieles Kulisse, Lug und Trug – auch Orphea selbst ist nicht besser.

Die Figuren, die Joel Dicker in seinem Roman präsentieren, decken eine wirklich enorme Bandbreite ab. Von wirklich glaubwürdig bis hin zu völlig clownesk präsentiert er hier alle Schattierungen. Viele der cartoonartigen Figuren (man denke nur an die Einführung des Literaturkritikers Meta Ostrowski – hatte Joel Dicker noch eine Rechnung offen?) erhalten erst relativ spät so etwas wie Konturen und Tiefe.

Da er über diese Figuren aber auch Humor ins Buch bringt, der auf Holzhammer-Pointen zumeist verzichtet, sah ich Joel Dicker das gerne nach. Er schafft es, die verschiedenen Töne seines Buchs gut zusammenzuführen und daraus ein vielschichtiges Buch zu kreieren, das am Ende gar etwas an Fargo erinnert. Kein Krimi im reinen Sinn, aber eines auf alle Fälle: erneut sehr, sehr gute Unterhaltung!


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Margaret Atwood – Hexensaat

Welch schönes Projekt: als Verneigung vor dem vor 400 Jahren verstorbenen Barden und ikonischen Dichter William Shakespeare schrieben beziehungsweise schreiben 8 Bestseller-Autoren unter dem Titel Shakespeare-Projekt Neuinterpretationen der Werke Shakespeares. Das Ganze erscheint bei uns nach und nach in schöner Ausstattung im Knaus-Verlag. Zu dem Autorenkreis zählen Größen wie Tracy Chevalier, Gillian Flynn, Howard Jacobson oder auch Jo Nesbø.

Als viertes Werk erschien nun das Werk Hexensaat der kanadischen Großmeisterin Margaret Atwood, das von Brigitte Heinrich ins Deutsche übertragen wurde. Grundlage ist Shakespeares Stück Der Sturm, der im Buch zum Prüfstein für den Regisseur Felix wird. Jener plante eigentlich eine furiose Inszenierung des Stücks, die ihn zum Gesprächsthema in der Theaterwelt machen und sein persönlicher Triumphzug werden sollte. Doch eine Intrige seines engsten Mitarbeiters verhinderte das. Gebrochen, durch den Tod seiner Frau und Tochter zerstört und von der Welt vergessen zieht er sich in eine bruchfällige Hütte zurück. Aufgeben will Felix dennoch nicht und sinnt auf Rache. Der Schlüssel hierfür ist eine Theatertruppe im Gefängnis, mit der er ebenjenen – wie könnte es anders sein – Sturm einstudiert, um sich an seinen Feinden zu rächen.

Folglich inszeniert Margaret Atwood eine Neuinterpretation jenes vielgespielten Werkes des Barden aus Stratford-upon-Avon, die auf drei Ebenen funktioniert. Da ist zunächst der klassische  Sturm mit seinen Motiven: der Insel, auf der Caliban, Prospero, Miranda und der Geist Ariel leben, der Schiffbruch, der neue Gestrandete bringt und all die Intrigen, die klassisch im Werk Shakespeares sind. Auch wenn man mit dem Opus des Barden nicht vertraut ist – durch einen raffinierten Kniff löst Margaret Atwood dieses Problem. Denn für seine Neuinszenierung muss Felix den Gefängnisinsassen jenes Werk auch erst einmal mit vielen – manchmal sogar etwas zu vielen – didaktischen Kniffen näherbringen. Neben dieser aktuellen Ebene ist da auch noch Felix selbst, der von der Welt vergessen gestrandet ist und nun seinen eigenen Sturm durchlebt und ein wahrer Prospero ist.

Margaret Atwood strukturiert ihre Neuinterpretation Hexensaat durch die klassischen fünf Akte nebst einem Epilog, der die Inhalt des Original-Sturms zusammenfasst und damit auch einen genauen Vergleich zwischen Interpretation und Originalquelle erlaubt. Insgesamt ein sehr gelungenes Remake (wenngleich Atwoods Gefängnisinsassen schon wirkliche Pappkameraden sind) – und ein frischer Zugang zu Shakespeares Werk, das den Staub von 500 Jahren locker wegpustet und vielleicht auch Atwood-Fans zu Shakespeare-Fans machen könnte und umgekehrt.

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Ferdinand von Schirach – Terror

Der Weichenstellerfall

Der Fall, um den das Theaterstück Terror von Ferdinand von Schirach kreist, ist in der Theorie als sogenannter Weichenstellerfall bekannt. Ein Wagon rast ein abschüssiges Stück Schiene herab und droht in einen vollbesetzten Personenwaggon auf der Strecke aufzufahren. Dutzende Opfer wären die Folge – doch da gibt es eine Weiche, die man umlegen könnte. Am Ende der alternativen Strecke befinden sich allerdings 5 Gleisarbeiter, die man mit der Entscheidung, die Weiche zu stellen, ermorden würde.

Ferdinand von Schirach - Terror (Cover)

Genau dieses Dilemma überträgt von Ferdinand von Schirach in seinem Stück nun auf den Bundeswehrpiloten Lars Koch. Dieser hat eine Lufthansa-Maschine abgeschossen, in der 164 Passagiere saßen. Die Maschine befand sich in der Hand eines Geiselnehmers, der drohte das Flugzeug auf die vollbesetzte Allianz-Arena abstürzen zu lassen. 70.000 Opfer wären die Folge gewesen. Lars Koch hat nun den Tod der 164 Fluggäste gegen den von 70.000 Arenabesuchern in Kauf genommen und das Flugzeug gegen die Anordnung seiner Vorgesetzten vom Himmel geholt. In der Folge sitzt er nun auf der Anklagebank und der Leser beziehungsweise der Zuschauer des Theaterstücks befindet über das Urteil. Durfte Koch das Flugzeug abschießen und damit die Verfassung im vorliegenden Einzelfall aushebeln? Oder darf man kein Menschenleben gegen ein anderes aufrechnen? Am Ende entscheidet jeder Betrachter selber.

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Petra Morsbach – Opernroman

Neustadt – eine Stadt in der Provinz wie jede andere auch: man wäre gerne größer als man ist. Folglich übt man sich in der Disziplin „Mehr Schein als Sein“. Das macht auch vor dem städtischen Theater nicht halt, in dem sich der größte Teil dieses Opernromans abspielt. Und Opern gibt es mehrfach in diesem Buch, auch im übertragenen Sinn: das Grundgerüst für den Roman bilden die Opern einer Spielzeit, die im Neustädter Theater auf dem Spielplan stehen. Diese sind die Klassiker Tristan und Isolde, Figaros Hochzeit, Fidelio, Die Fledermaus und das Requiem.

Um diese Einstudierungen herum gruppiert Petra Morsbach ihre Charaktere vor und hinter die Bühne und lässt sie nicht nur musikalische Dramen spielen und erleben. Egal ob Inspizienten, Orchestermusiker oder Heldentenöre – die Opern machen vor niemandem Halt. Gerne würde man glamouröser erscheinen oder den Sprung zu den großen Bühnen der Welt schaffen, doch dann heißt das Endergebnis aller Bemühungen doch nur Neustadt.

Das Leben hinter den Kulissen

Eine wirklich durchgängige Romanhandlung weist der Opernroman nicht auf, dafür tauchen viele der unzähligen Charakteren immer einmal wieder im Laufe der Spielzeit auf. In den verschiedenen Produktionen haben sie  ihre Auftritte, kämpfen um Anerkennung oder mit ihren Leistungen und wecken mal mehr und mal weniger die Sympathien des Lesers. Dies ist klug gemacht und hat den Charakter eines Episodenromans und nimmt auch Anleihen bei der Operette (deren Charakter Petra Morsbach in dem Abschnitt Die Fledermaus ja auch seziert). Immer wieder kommt es zu Auf- und Abtritten, während GMD und Intendant um ihren Ruf fürchten und das Orchester auch gerne mehr als nur einmal intrigiert.

Der Opernroman ist ein bunter Reigen an Musik, Liebe, Begehren, Neid und Schein, der sich allerdings auch an einigen Stellen ein wenig akademisch ausnimmt.  Auch ist das Buch nicht frei von Längen und überschreitet mit aller Akribie und Sachkenntnis (die Morsbach unbestritten besitzt) von Zeit zu Zeit auch die Grenze zum Sachbuch. Abgesehen davon aber ein mehr als abwechslungsreicher Roman, der die Leser mit hinter die Kulissen der Theater und damit auf die Bretter, die die Welt bedeuten, nimmt. Genau das richtige Buch für Musik- und Opernliebhaber!

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Katharina Mahrenholtz & Dawn Parisi – Theater!

Theater, Theater

Das sang nicht nur Katja Ebstein beim Grandprix 1980 und erreichte damit den zweiten Platz, nein auch das Autorenduo Dawn Parisi und Katharina Mahrenholtz hat sich diesen Themas für seinen neuen im Hoffmann-und-Campe-Verlag erschienenen Band angenommen.

Nachdem sie sich bereits der Literatur und Shakespeare gewidmet haben, gehen die beiden es nun dem Theater, seiner Geschichte, seiner Autoren und seiner Bedeutung auf den Grund.

Wer schon einmal ein Buch der beiden durchgeblättert hat, wird sich gleich wieder zurechtfinden. Statt endloser Bleiwüsten mit trockenen Zusammenfassungen von Werken dominieren kurze, knackige Abstracts der Theaterstücke, die zudem locker und flapsig geschrieben wurden. Dies mag zwar Theaterpuristen nicht schmecken, allen anderen, für die Theater auch Spaß und Entertainment bedeutet, dürfte dies aber gefallen. Mit witzigen Randnotizen, kuriosen Besonderheiten der Stücke und Autoren sowie den wirklich stimmigen Illustrationen Dawn Parisis ist so ein Buch entstanden, das man immer wieder gerne in die Hand nimmt, das mit seinen Texten (mal wieder) Lust auf einen Theaterbesuch macht und das vielleicht sogar dazu angetan ist, den ein oder anderen Leser zum Griff zu einem Reclam-Bändchen zu verleiten.

Inhaltlich schlagen Mahrenholtz und Parisi einen weiten Bogen von den klassischen griechischen Autoren (Sophokles oder Euripides) über Shakespeare und das Mittelalter bis hin zur Neuzeit und Moderne. Klassische Theaterstoffe werden genauso vorgestellt wie schon wieder leicht in Vergessenheit geratene Dramatiker und deren Stücke. Moderne Theaterautoren wie Roland Schimmelpfennig und Yasmina Reza stehen neben Falk Richter oder Dario Fo, Tom Stoppard ergänzt die Reihe um Hochhuth, Müller und Brasch. Ergänz wird dies beispielsweise durch die Vorstellung berühmter Theater, geschichtliche Überblickstabellen oder kleine Gattungskunden von dramatischen Stoffen. So entsteht ein großes Panoptikum an Bekanntem und Unbekanntem, das den Leser immer wieder zum Weiterblättern verführt.

Ein Band für Theaterfreunde genauso wie Theatermuffel, der einfach Freude am Theater weckt. Am besten besorgt man sich sogleich zwei Ausführungen dieses tollen Buchs, damit man immer noch selbst eines besitzt, nachdem man das andere Exemplar verschenkt hat und damit Theaterfreude geweckt hat.

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