Philipp Oehmke – Schönwald

Alle glücklichen Familien gleichen einander – aber jede unglückliche – na ja, man kennt es. Lew Tolstoi hat es in seinem Jahrhundertwerk Anna Karenina einst vorgemacht – und vor allem die amerikanischen Autoren von Jonathan Franzen bis zu Richard Ford tun es ihm bis heute nach – große Familienromane zu schreiben. Familienromane, die über die familiäre Introspektive hinausweisen und zugleich Zeitgeistvermessung und Gesellschaftsanalyse sind. Nur hierzulande tun wir uns schwer mit dem Genre, eifern in Ansätzen dem Ganzen nach – aber so richtig eine literarische Antwort auf die Great Novels haben wir hierzulande noch nicht gefunden. Philipp Oehmke will das (mit entsprechend fokussiertem Marketing seines Verlags Piper) nun ändern und schickt sich an, mit Schönwald einen deutsche Antwort auf Die Korrekturen und Co. zu verfassen. Gelingt ihm das?


Es ist auf Twitter und anderen Plattformen ein beliebtes Muster. Man nimmt einen oder bekannten Prominenten oder ein Popprodukt meist amerikanischer Prägung – und das Ganze dann mit dem Verweis „Deutsche …“ ein lokales (meist völlig überzogenes) Äquivalent gegenüber. Herausgestellt werden soll neben der Fallhöhe der Vergleiche auch die Lächerlichkeit und die Piefigkeit deutscher Personen und Themen, die gerade im Vergleich mit dem amerikanischen Vorbild besonders ärmlich wirken. Siehe Beispiel unten.

Aus solchen Vergleichen spricht auch neben allen humorproduktiven Umtrieben der Neid, so etwas Ikonisches oder auch nur „Cooles“ hierzulande nicht zu haben.

Auch der Familienroman ist so etwas, bei dem man hierzulande den Vergleich mit den amerikanischen Größen nicht anzutreten braucht. Der „Deutsche Korrekturen“-Roman ist bislang ausgeblieben. Der Buchmarkt wirft lieber dutzende und dutzende Familiensagas als Variation des Immergleichen auf den Markt – die von qualitativen Abstufungen von Peter Prange oder Daniel Speck bis ganz nach unten reichen. Ein stilistisch überzeugender und ambitionierter Roman, der literarisch dem Vergleich mit den Werken Franzens, Eugenides, Morrison und Co. statthält, ist bislang ausgeblieben.

Philipp Oehmke als deutscher Jonathan Franzen?

Auch im Piper-Verlag hat man diese Lücke erkannt, weshalb man nun prononciert Philipp Oehmke zu einer Art „Deutscher Jonathan Franzen“ aufbauen möchte und seinen Roman bereits im Vorfeld als „Großer Familien-Roman in der Tradition amerikanischer Literatur“ bewarb. Reichlich große Fußstapfen also, in die der 1974 geborene Reporter mit seinem als Spitzentitel ausgerufenen Debüt nun treten soll.

Philipp Oehmke - Schönwald (Cover)

Die in seinem Roman im Mittelpunkt stehende Familie hört auf den Namen Schönwald. Vater Hans-Harald und Mutter Ruth, beide inzwischen schon über Siebzig, leben in Köln. Er pensionierter Staatsanwalt, sie Hausfrau, Mutter und verhinderte Germanistik-Professorin. Drei Kinder haben sie, die sich alle anlässlich der Eröffnung eines queeren Buchladens namens They/Them in Berlin eingefunden haben. Eröffnen möchte diesen die einzige Tochter der Schönwalds, Karolin. Neben ihr gibt es noch den Nachzügler Benni und den Ältesten der drei Geschwister, Chris. Er ist extra aus den USA nach Deutschland geflogen, besitzt – oder besser gesagt: besaß – eine Professur dort. Nun verdingt er sich allerdings als intellektueller Einpeitscher der MAGA-Bewegung rund um Donald Trump, wovon niemand in Deutschland etwas mitbekommen soll.

Der unter dem Motto „Never explain. Never complain“ zusammengehaltene Familienverbund ist schon recht bröckelig, wenn er denn überhaupt jemals fest gefugt war. Die abendliche Intervention einer jungen Aktivistengruppe, die die Eröffnung des Buchladens mit dem Vorwurf von Nazi-Geld als Finanzierungsgrundlage des Buchladens stört, bringt das instabile Familiengefüge noch mehr ins Wanken.

Ein bröckelnder Familienverbund

Denn wie Oehmke in diesem überwiegend aus Rückblenden bestehenden Roman zeigt, hat jede der Figuren eigene Geheimnisse oder Probleme, die sie mit viel Tünche und Selbstverleugnung zu wahren versucht. Doch durch die Geschehnisse rund um den Buchladen und das Aufeinandertreffen aller fünf Schönwalds kommen viele dieser sorgsam gehüteten Geheimnisse ans Tageslicht. Da gerät der Vorwurf des Nazigeldes und die Befassung mit der eigenen Familiengeschichte fast ins Hintertreffen.

Philipp Oehmke hat einen Roman geschrieben, der tatsächlich von seiner Erzählweise und dem schichtweisen Freilegen der Erzählfiguren und ihrer Biografien in der Tradition amerikanischer Romane steht (nicht umsonst wird auf den ersten Seiten schon Jonathan Franzen erwähnt, dessen Leserin Ruth Schönwald ist). Dabei setzt Oehmke allerdings auf ein Erzählkonzept, das seine Figur Ruth an einer späten Stelle im Roman selbst mit folgenden Worten kritisiert:

Sie hatten über Der Zauberer gesprochen, eine neue Biografie über Thomas Mann, und Harry hatte den Damen dabei zugehört, wie sie darüber diskutierten, dass der Autor das Buch als Roman deklarierte und sich damit die Freiheit verschaffte, basierend auf Briefen und Tagebucheinträgen Szenen und Dialoge auszuschmücken und zu erfinden. Ruth hatte dieser Hybridform kritisch gegenübergestanden, Fiktives und Faktisches ließe sich nicht mischen, es sei unfair Mann und seiner Familie gegenüber und im Übrigen ein Betrug am Leser. Sie würde es ja auch nicht wollen, dass jemand ihr Leben nähme und einfach ein paar Sachen dazuerfinde.

Philipp Oehmke – Schönwald

Faktisches und Fiktives

Tatsächlich setzt auch Schönwald auf eine Vermengung von Realien und Fiktion. Denn die initiale Attacke auf die queere Buchhandlung aus einer „woken“ Aktivistengruppe mit dem Vorwurf des Nazi-Geldes als Startkapital erinnert an den fast deckungsgleichen Fall der Berliner Buchhandlung She Said. Damals wurde die Gründerin Emilia von Senger vor allem in den sozialen Netzwerken stark für die Gründung des queeren Buchladens angegriffen. Der damalige Vorwurf: Finanzierung des Geschäfts durch Geld aus einem Nazi-Erbe, schließlich war von Sengers Vorfahre Panzergeneral im Zweiten Weltkrieg.

Nicht nur diese im Buch verhandelte Causa weist verblüffende Kongruenz mit den damaligen Geschehnissen auf, auch die auftretenden Aktivisten und ihr Sprech von „Menschen mit Nazihintergrund“ erinnert stark an das vielbeachtete Gespräch, das die Künstler*innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah im Nachgang im Zuge der Debatte um She Said führten.

Hier kommt es zu einer Verschmelzung des Faktischen und Fiktiven, wie es Ruth Schönwald nicht gefallen hätte – und auch für das Buch selbst geht diese literarische Übermalung nicht ganz auf.

So gleicht die Moshtari Hilal abgeschaute Aktivistin Malala einem Fremdkörper, dessen Einbindung in den engsten Familienverbund nach den Vorfällen um die Attacke auf den Buchladen nicht wirklich plausibel erscheint. Auch andere Nebenfiguren bleiben im Gegensatz zu den Schönwalds selbst unkonturiert. So wirkt Chris‘ Freundin und Trump-Flüsterin Kimberley Conway ein jüngeres Abziehbild von Kellyanne Conway. Es scheint, als müssten sich alle Figuren, die nicht zur Kernfamilie zählen, mit einem unscharfen Standort am Rande des Familienporträts begnügen.

Noch nicht wirklich ausbalanciert

Ob in Bezug auf die Figuren oder den Plot selbst, vieles ist hier noch nicht wirklich hundertprozentig ausbalanciert. Die erzählte Gegenwart verliert gegen die Rückblenden haushoch, das Ende ist in seiner Seelenstriptease-Stimmung etwas zu überhastet und zu kitschig. Das Faktische rund um den Buchladen verhält sich zum Fiktiven nicht ganz rund und ganz generell gesprochen: der Versuch der Gleichstellung Philipp Oehmke mit Jonathan Franzen tut diesem Debüt nicht wirklich gut, provoziert es doch immer den direkten Vergleich mit den „Originalen“. und weckt zu hohe Erwartungen.

Für sich genommen ist Schönwald ein mehr als solides Debüt, das gutes Erzählhandwerk zeigt und eine Familie in der Innensicht schildert, die vielleicht nicht auf ihre eigene Art traurig ist, aber doch genug Probleme mitbringt, auf dass sich viele Leser*innen mit diesen so unterschiedlichen Charakteren identifizieren oder einfühlen können. Mag Philipp Oehmke auch (noch) nicht der „Deutsche Jonathan Franzen“ sein, so ist er doch ein Autor, der gut unterhält. Er liefert einen gelungenen Familienroman ab, der zumindest im nationalen Vergleich weit oben anzusiedeln ist.


  • Philipp Oehmke – Schönwald
  • ISBN 978-3-492-07190-1 (Piper)
  • 544 Seiten. Preis: 26,00 €
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