Category Archives: Sachbuch

Michael Maar – Leoparden im Tempel

Ob Elias Canetti, der Oger, das wechselhafte Gemüt Virginia Woolfs oder der Teufel bei Thomas Mann – in seinem wiederveröffentlichten Werk Leoparden im Tempel widmet sich Michael Maar abwechslungsreich den von ihm verehrten Schriftsteller*innen und nimmt ihr Werk und ihre exzeptionelle Bedeutung für die literarische Welt in den Blick.


Man könnte es sich leicht machen mit dem eigentlich nicht ganz so neuen Buch Michael Maars. Nach einer Erstveröffentlichung im Berenberg-Verlag vor sechzehn Jahren erscheint Leoparden im Tempel nun als Neuauflage im Rowohlt-Verlag, gehalten im Design seines 2020 erschienen Stil-Opus Magnum Die Schlange im Wolfspelz.

Schon der Blick auf die schmale Seitenzahl macht klar, dass es sich mitnichten um ein Werk handelt, dass an Maars ebenso voluminöses wie kenntnisreiches Literaturbergwerk anschließt. Vielmehr will er sich den von ihm verehrten Schriftstellern widmen, wobei ein Gendern des Untertitels tatsächlich fast überflüssig scheint. Denn von zwölf Schriftstellerporträts ist lediglich eines einer Frau gewidmet, nämlich Virginia Woolf.

Hier zeigt sich, dass in der den sechzehn Jahren seit Erscheinen des Buchs viel Sensibilisierung gegenüber der hier im Speziellen wie auch im Allgemeinen zuvorderst männlichen Kanonbildung stattgefunden hat. So sei nur an die Aktion #frauenzählen, das daraus entstandene Sachbuchprojekt Frauen Literatur von Nicole Seifert oder die hervorragende Kurzporträtsammlung Dichterinnen & Denkerinnen von Katharina Herrmann erinnert, die dem Maar’schen Männerüberschuss und Geniekult entgegenwirken, der sich in diesem Buch äußert.

Porträts von Schriftstellern

Sollte man es sein lassen? Diese offensichtliche Ungleichbehandlung von Schriftstellerinnen als Anlass nehmen, das Buch in die Ecke zu stellen? Das wäre tatsächlich ein Fehler, denn obgleich die nicht zu leugnende maskuline Schlagseite ebenso wie die veraltete Rechtschreibung des Buchs rückwärtsgewandt scheint, gelingt es Maar vorzüglich, seine Verehrung der offensichtlicheren (Thomas Mann, Franz Kafka) und die hierzulande noch immer zu unbekannten Autoren (Anthony Powell, Gilbert Keith Chesterton) begeisternd vorzubringen und Lust auf ihr Schreiben zu machen (obgleich natürlich Größen wie Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Gabriele Tergit oder vergessene Autorinnen wie die gerade wieder neu entdeckte Helga Schubert durchgehend fehlen).

Michael Maar - Leoparden im Tempel (Cover)

Neben solchen Leerstellen merkt man auch den Aufsätze an, dass einige ihrer aufgegriffenen Punkte in der Zwischenzeit etwas anders betrachtet werden müssen. So ist beispielsweise Maars Frage, ob man Giuseppe Tomasi di Lampedusa vielleicht noch mit einer Labelung als Geheimtipp postum die Ehrung verschaffen könnte, die ihm für sein Werk Der Leopard gebührt, in meinen Augen hinfällig. Denn die glänzende Neuübersetzung von di Lampedusa Meisterwerk durch Burkhart Kroeber vor vier Jahren hat doch erheblich Staub von diesem Werk gepustet und dieses neu ins öffentliche Bewusstsein gebracht.

Genauso ergeht es den Klagen, die Maar in seinem Kapitel über Anthony Powell äußert. Dort beklagt er, dass Powell hierzulande völlig unbekannt sei und man ihm dem deutschen Publikum kaum schmackhaft zu machen vermag. Während letztere Beobachtung wahr zu sein scheint, ist die Vermittlungsarbeit doch in der Zwischenzeit weiter geraten (dem Maar auch in dem leicht angepassten Quellenverzeichnis Rechnung trägt, da er dort die 2015 begonnene Neuausgabe von Powells Gesamtwerk unter dem Titel Dance aufführt). So wurde diese Neuausgabe des Werkes im Februar 2016 von Maxim Biller an maximal prominenter Stelle im deutschen Fernsehen vorgestellt, nämlich beim Literarischen Quartett.

Sich verändernder literarischer Zeitgeist

Es sind einige Punkte dieser Art, an denen man feststellen kann, dass sich der literarische Zeitgeist gewandelt hat. So sind neue Blicke und Maßstäbe auf Literatur eingezogen, der Geschmack hat sich gewandelt, kurz: die Zeit seit dem ursprünglichen Erscheinen des Buchs ist nicht stehengeblieben. Das merkt man bei dem Blick auf die Äußerlichkeiten des Buchs durchaus.

Davon unberührt ist aber der Kern von Michael Maars Buch, dem man in seiner ganzen Begeisterung und dem sprudelnden Stil auch Stilblüten wie die folgende gerne verzeiht:

Man merkt seiner [Anthony Powells] Prosa nicht an, dass sie nach Joyce entstand. Um Modeströmungen hat dieser Autor sich nie geschert. Erst jetzt, nachdem sich deren Wasser verlaufen haben, kann man erkennen, wie einsam er herausragt.

Michael Maar – Leoparden im Tempel, S. 111

Jener Kern seiner kurzen Porträts, er gleicht nach wie vor einem brodelnden Magmakern voller heißglühender Lava (um hier einmal den bildhaften und blumigen Stil Maars aufzugreifen). Überraschend seine Erkenntnisse, wenn er etwas die Bedeutung des Teufels im Werk Thomas Manns herausarbeitet oder die ewige Rätselhaftigkeit im Werk Franz Kafkas beschreibt, der es mit seinem Bild der Leoparden im Tempel auch auf den Titel von Maars Buch geschafft hat.

Literaturverehrung, die begeistert

Gelungen stellt Maar auf nur wenigen Seiten die Besonderheiten im jeweiligen Werk der Autoren heraus und erklärt, was ihr Werk so faszinierend und über alle Zeiten erhoben macht. Das tut er in gut lesbaren und nachvollziehbaren Aufsätzen, von denen die Porträts Mann, Nabokov und di Lampedusa in meinen Augen zu den gelungensten zählen.

Aus allen Zeilen spricht die Verehrung Maars, der mit seinen Porträts wie auch später in der Schlange im Wolfspelz seine immense Belesenheit herausstellt. Seine Einführung in das Schaffen der oftmals alles andere als umgänglichen und bescheidenen Autoren macht Lust, sich mit den Werken genauer zu beschäftigen. Er gibt einen Eindruck, wie Literaturvermittlung zu begeistern vermag, wie ein genauer Blick beim Lesen den unverkennbaren Stil zutage treten lässt – und wie man mitreißend davon zu erzählen vermag.

Das wiegt in meinen Augen die klar benennbaren Kritikpunkte an Leoparden im Tempel auf alle Fälle wieder mehr als auf, sodass ich für dieses Büchlein eine große Empfehlung aussprechen möchte. Gerne sei der Band auch als Geschenk allen Literaturfans empfohlen, Ich empfehle im Anschluss an die Lektüre danach dann die Lektüre von Dichterinnen & Denkerinnen, denn dann hat man auch einen ausgewogenen Eindruck von Schriftstellerinnen, die es durchaus auch mit den hier vorgestellten Männern aufnehmen können!


  • Michael Maar – Leoparden im Tempel
  • ISBN: 978-3-498-00398-2 (Rowohlt)
  • 144 Seiten. Preis: 22,00 €
  • Zum Buch bei Yourbookshop
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Niklas Maak & Leanne Shapton – Durch Manhattan

Es gibt Bücher, die haben eine ebenso einfache wie bestechende Grundidee. Durch Manhattan von Niklas Maak und Leanne Shapton zählt zu dieser Kategorie. Denn hier treffen sich eine Künstlerin (Shapton) sowie ein Architektur- und Kunstkritiker (Maak), um gemeinsam Manhattan zu durchqueren, von der Südspitze auf einer annähernd geraden Linie bis in den Norden zum Ende der Halbinsel. Auf ihrem Weg begegnen ihnen Menschen, Bauten und kleine Momente, die sie in Schrift und Bild einfangen. Ein schön gestaltetes Werk und das Zeitdokument eines New York kurz nach dem Umbruch, den die Präsidentschaft Donald Trumps bedeuten sollte.


STATEN ISLAND FERRY TERMINAL I

Wir fingen ganz unten an. Wir trafen uns am Staten Island Ferry Terminal. Wir hatten keinen genauen Plan, nur die Idee, das zu tun, was alle, die nach Manhattan kamen, seit Jahrhunderten taten: an der Südspitze ankommen und dann nach Norden gehen.

Wie erzählt man von einer Stadt – und was erzählt die Stadt, wenn man sie nicht nur nach Punkten absucht, an denen sich etwas Bedeutendes oder Bekanntes befinden soll; was findet man, wenn man nicht einfach Orte aufsucht, von denen man gehört hat, und so einen vorgezeichneten Weg folgt – sondern wenn man einfach losgeht, vom südlichsten Punkt der Insel bis zu ihrem nördlichen Ende, wenn man eine Linie zieht vom Staten Island Ferry Terminal nach oben und dann hinaufwandert entlang dieser Linie bis zur 220th Street, wo der Harlem River Manhattan von der Bronx trennt, entlang einer Linie, die keiner Regel, aber auch nicht dem Zufall folgt, sondern die Bewegung der Besiedlung Manhattans nachzeichnet?

Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan, S. 6

Von Süd nach Nord durch Manhattan

So beschreibt Maak das gedankliche Konzept, das Durch Manhattan zugrunde liegt. Ein Stadtplan, der zur groben Orientierung dient, ist mit im Gepäck, und schon geht es los mit den ersten Metern Manhattan, die Maak und Shapton in nuce den rasanten Wandel zeigen, den New York und insbesondere Manhattan seit den ersten Einwanderern erfuhr, die hier an der Südspitze Manhattans ankamen, nachdem sie auf Ellis Island die Erlaubnis zum Aufenthalt im Land of the free erhielten.

Niklas Maak, Leanne Shapton - Durch Manhattan (Cover)

Telefonzellen, die dort am Hafen in Zeiten von WhatsApp und Smartphones schon wieder reichlich anachronistisch wirken. Hausnummer, die auf den Türen der Häuser anstelle einer dauerhaften Montage nur geklebt werden und so einen Eindruck der Schnelllebigkeit geben. Schaukelnde Ampeln im Wind. Es sind kleine Beobachtungen, die Durch Manhattan ausmachen.

Aber auch bekannte Landmarken wie die Wall Street oder der Trump Tower werden von den beiden Flanierenden besucht. Während Maak über die Einsamkeit der Familienmitglieder Donald Trumps sinniert (der zum Zeitpunkt des Erscheinens gerade sein erstes Jahr der Präsidentschaft begann), lässt sich auch vor allem an der Wall Street die unglaubliche Schnelllebigkeit beobachten, wenn Maak noch einmal der Occupy Wall Street-Bewegung nachspürt, die heute schon wieder so ziemlich in Vergessenheit geraten ist.

Immer wieder gibt es neben den kleinen und größeren Beobachtungen auch biographische Skizzen, die Maak in den Spaziergang einflicht. Diese erzählen Einwandererschicksale oder bisweilen auch skurrile Begebenheiten, etwa die eines möglichen Seitensprungs, der durch Google Maps bezeugt wurde.

Ein vielstimmiges Portraits Manhattans

Wenn es ein Wort gibt, mit dem sich dem sich Stil und Inhalt von Durch Manhattan charakterisieren lassen, dann ist es das Wort Polyphon. Denn Maak und Shapton gelingt es, die ganze Vielstimmigkeit New Yorks in diesem Buch einzufangen. So finden alle Bevölkerungsschichten und Ethnien Widerhall in diesem Buch, neben den bekannten Sehenswürdigkeiten sind es auch Orte wie Hancock Place oder der Bryant Park, die die Popkultur Manhattans sonst eher ausspart.

Und auch thematisch offenbart Maaks und Shaptons Kollaboration eine unglaubliche Bandbreite, die von Überlegungen zum Reiz der Hamptons über die Bildwelten Edward Hoppers bis hin zur Beschreibung der Funktionsweise amerikanischer Fenster reicht. Hinter all dem scheint immer wieder die Herkunft Niklas Maaks als Gastprofessor für Architekturgeschichte und Architekturliebhaber durch, der mit seinem Wissen unangestrengt die ebenso eleganten wie präzisen Schilderungen von Gebäuden und deren Bewohner*innen grundiert.

Blick ins Buch nebst beigefügter Karte.

Und auch in den von Leanne Shapton aquarellierten Bildwelten drückt sich diese Vielstimmigkeit aus. Ihre Skizzen und Sketches treten mit Maaks Schilderungen in einen Dialog und ergänzen und umspielen die meist zweispaltigen Textkörper. Sie zeigen Shaptons Blick für die Besonderheiten abseits des Offensichtlichen und bieten Bildwelten, die von konkret bis abstrakt reichen und denen stets eine Erklärung des Dargestellten beigegeben ist.

Fazit

So entstanden ist ein Buch, der dem Flanieren huldigt, ähnlich wie das auch Teju Cole in seinem ebenso empfehlenswerten Roman Open City tat. Niklas Maaks und Leanne Shaptons zweitägige Tour mündet in einem Buch, das die Widersprüche und unterschiedlichen Facetten Manhattans gelungen porträtiert. Das Buch verbindet ein Auge für Architektur und stilistische Varianz. Kleine biographische und künstlerische Skizzen ergeben ein Buch, das dem Geist Manhattans nachspürt und diesen Geist Anfang des Jahres 2017 auch tatsächlich treffend einfängt. Mit viel Beobachtungsgabe und dem Auge für die Details abseits des Weges wissen die beiden über das Große im Kleinen viel über diese Halbinsel zu erzählen, die ebenso Sehnsuchtsort wie Albtraum sein kann.

Dieser Dialog von Stadt und Kunst ist ein großartiges Geschenkbuch, von dem man freilich keine tiefschürfende Analyse zu den Zuständen der USA erwarten soll. Aber als will Durch Manhattan auch gar nicht. Vielmehr ist es eine gelungene Lehntstuhlreise, die eine*n mitnimmt in die Häuserschluchten dort und ein Gefühl für den Puls dieses Stadtteils vermittelt und in dem man sich immer wieder festlesen kann!


  • Niklas Maak, Leanne Shapton – Durch Manhattan
  • ISBN 978-3-446-25666-8 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 25,00 €
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Teresa Bücker – Alle Zeit

„Wir sagen: die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden.“

Thomas Hettche – Pfaueninsel

So bringt das kleinwüchsige Schlossfräulein Maria Dorothea Strakon in Thomas Hettches famosen Roman Pfaueninsel die ganze Absurdität unseres Umgangs mit der Zeit auf den Punkt. Sie beobachtet das Werden und Vergehen dort auf der Insel, sieht Königinnen kommen und Könige gehen, ein ganzes neues Jahrhundert heraufdämmern – nur die Zeit, sie sieht sie nicht. Es sind nur Besucher*innen von außen, die dort ein Gefühl der Existenz von Zeit auf die Insel bringen, wenn sie sich etwa nur eine bestimmte Dauer dort zugestehen oder wenn im Altern der Besucher*innen das Verstreichen von Zeit offenbar wird.

Und tatsächlich ist die Beobachtung aus dem Roman ja eine durchaus richtige. So wirklich greifbar ist die Zeit nicht, sie kann nur mit Hilfsmitteln erfasst werden und ihr Vergehen lässt sich nur über das Voranschreiten von Verfall oder Fortschritt erkennen. Doch ist die Zeit der alles entscheidende Taktgeber der Moderne geworden. Was uns im Umgang mit der Zeit dabei eint, ist meist das Gefühl, zu wenig von ihr zu haben. Zu wenig Zeit für Freunde, Familie, Hobbys, drohende Deadlines im Job und oftmals ein Gefühl der Erschöpfung, wenn der Tag wieder zu wenig Stunden hat.

Doch es könnte auch ganz anders sein. Wie eine gerechtere Zeitpolitik aussehen könnte, was sich für uns und die Gesellschaft ändern könnte und was plötzlich möglich wäre, das ergründet Teresa Bücker in ihrem durchdachten und weitgreifenden Manifest, das mit Verve für eine neue Zeitpolitik plädiert. Denn was wäre, wenn wir sie plötzlich hätten – Alle_Zeit?


Es ist eine einfache Frage, die sich wohl viele schon einmal gestellt haben und die Teresa Bücker an den Anfang des vierten Kapitels in ihrem Buch stellt: Was würden Sie machen, wenn Ihr Tag plötzlich 25 Stunden hätte? Eine Stunde mehr, die man auf ganz individuelle Art und Weise nutzen könnte. Ein verlockender Gedanke, den Bücker als Ausgangslage für das Nachdenken über freie Zeit nutzt.

Denn obschon wir Zeiterfassungen zufolge über mehr freie Zeit verfügen, immer länger leben, die Arbeitszeit sank und die Urlaubstage stiegen, so sind es doch über 26 Millionen Menschen, die den Erfassungen nach angeben, zu wenig Zeit zur Verfügung zu haben. Druck in der Arbeit, überforderte Familien und allgegenwärtiger Stress sind nur ein paar Faktoren, an denen sich das Gefühl des Zeitmangels ablesen lässt. Doch es könnte alles anders sein, folgt man Teresa Bückers faktengesättigten Überlegungen und Denkansätzen. Denn es wäre möglich. Wir könnten auch in einer entspannteren, gerechteren und auf vielfältige Art und Weise reicheren Gesellschaft leben, wenn wir denn nur wollten.

Zeitgerechtigkeit herzustellen bedeutet radikale Umverteilungspolitik.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 231

Diese Umverteilungspolitik, ihre Ansatzpunkte und Chancen erläutert Bücker über insgesamt sechs Kapitel, bevor sie die Kernthesen im Schlussteil (K)eine Utopie noch einmal prägnant vorstellt und formuliert.

Niemals genug Zeit

So geht Teresa Bücker zunächst der Frage nach, warum uns die Zeit in einer Gegenwart von 24/7-Verfügbarkeit doch niemals reicht und warum auch die freie Zeit, die doch eigentlich der Erholung dienen sollte, so oft vom Beruf durchdrungen ist. Dem folgt im Kapitel Arbeits_Zeit die Betrachtung unserer Gesellschaft, die sich zum überwiegenden Teil über die Erwerbsarbeit definiert. Unsere Anerkennung von Vollzeitarbeitenden und die Geringschätzung von häuslichen Tätigkeiten oder gar Arbeitslosigkeit sind Themen des Kapitels, das Bücker hier auch aus ihrer persönlichen Perspektive betrachtet.

Teresa Bücker - Alle_Zeit (Cover)

Ihre Rolle als Mutter, das Unwohlsein in Gesprächen, sich als arbeitslose Erziehende zu erkennen zu geben, statt einem „geregelten“ Auskommen nachzugehen, dies ist eine der wenigen persönlichen Anekdoten, die sie zur Illustrierung ihrer These vorbringt. Derlei Einsprengsel bleiben im Text allerdings auf ein Minimum reduziert, vielmehr arbeitet Bücker überwiegend studiengestützt faktual und arbeitet mit vielen Quellen und Zitationsnachweise – fast 500 Fußnoten umfasst der Anmerkungsapparat.

In den weiteren vier Kapiteln von Alle_Zeit spürt die Autorin dann der Care-Arbeit und einer neuen Aufteilung derselben nach, stellt die Frage nach der Bedeutung und dem Platz von Kindern in unserem Konzept von Zeit und kommt vom Privaten und dem damit verbundenen Feld der freien Zeit (in dem beispielsweise auch so etwas wie der Begriff des Zeitkonfetti aufgegriffen wird) zum Politischen. Denn auch politisches Engagement in ganz unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen zählt zu Bückers Idee einer neuen Zeitkonzeption, kann diese doch auch bedeuten, dass bislang unterrepräsentierte Vertreter*innen unserer Gesellschaft wie Alleinerziehende, Menschen aus unteren Lohngruppen, Nicht-Weiße oder Menschen mit Migrationshintergrund besser als bislang für ihre Belange eintreten könnten.

So schlägt Teresa Bücker den Bogen von der Problembeschreibung über eine maximalbreite Skizzierung eines neuen Zeitkonzepts bis hin zu Umsetzungsideen und den damit verbundenen Möglichkeiten, die der Idee einer neuen Form von Umgang mit der Zeit beinhalten.

Auf der Höhe der diskursiven Gegenwart

Das Buch ist, obschon im letzten Jahr erschienen, absolut auf der Höhe der diskursiven Gegenwart. Die Debatten um eine 4-Tage Woche greift Bücker genauso auf, wie sie für eine fairere Verteilung der Care-Arbeit und „privaten“ Lasten eintritt. Warum gilt es immer noch als neoliberales Ideal, alle Menschen in Vollzeit-Beschäftigung zu bringen? Bücker argumentiert für ein Teilzeit für alle, die Ressourcen schon, Potenziale eröffnet, freie Zeit für sich, die Gemeinschaft und den sozialen Zusammenhalt von Familie und Gesellschaft ermöglicht. Mit ihrer Theorie einer neuen Zeitverteilung erschafft sie einen Denkansatz, der in so gut wie alle Lebensbereiche hineinragt und viele heutige Mangellagen berührt.

Die unzureichende Pflegesituation, die aktuell durch die Schwächung anderer Länder in Form von Abwerbung von Arbeitskräften funktioniert. Fehlende Kitaplätze und Erzieher*innen, die zu überlasteten Familien führen, denen als Antwort auf fehlende Entlastung und die schwierige Vereinbarkeit von Vollzeit und Kinderbetreuung oftmals entgegengehalten wird, das man sich das mit dem Kinderbekommen vorher einmal besser überlegen hätte sollen. Die ökologische Transformation, die ein solche Konzept mit weniger Arbeit und mehr Gesellschaftszeit unterstützen würde – an vielen Punkten zeigt sich, wie ausgearbeitet und konkret die Thesen Bückers sind, die unsere unmittelbare Gegenwart betreffen. Was sich von Familien- und Umweltpolitik bis hin zur Arbeitspolitik ändern und verbessern würde, das führt sie mit viel Verve aus:

Eine Arbeitspolitik für das 21. Jahrhundert muss aber sehr viel mehr tun, als sich nur mit den Bedingungen und der Sicherheit von bezahlten Arbeitsplätzen zu befassen. Sie muss dafür Sorge tragen, dass alle gesellschaftlich notwendigen Arbeiten auf zumutbare Weise übernommen werden können und dass sie honoriert werden. Es ist Aufgabe der Arbeitspolitik, alle Formen von Arbeit so zu verteilen, dass sie niemanden zeitlich oder gesundheitlich überlastet, denn freie Zeit ist ein Menschenrecht.

Die Länge der Arbeitstage und mit ihr die Menge der freien Zeit müssten sich annähern, damit alle Menschen die gleichen Chancen haben, sich jenseits der Arbeit frei zu entfalten. Dass Menschen trotz Arbeit arm sind, dürfte nicht akzeptiert werden. Eine Arbeitspolitik von heute muss außerdem klima- und umweltschädliche Arbeit regulieren und die Entstehung emissionsarmer Jobs fördern, damit Arbeit nicht unsere Lebensgrundlage zerstört. So verstanden, wäre Arbeitspolitik nicht nur Zeitpolitik für unsere Alltagszeiten, sondern auch Politik für die globale Zukunft.

Teresa Bücker – Alle Zeit, S. 54 f.

Eine neue Form von Wohlstand

Logo Deutscher Sachbuchpreis 2023

Folgt man Bückers bestechender Argumentation könnte eine fairere Gesellschaft entstehen, die nicht mehr auf Wachstum, denn auf sozialen Reichtum setzt. Wofür dann aber auch die Übermacht des Patriarchat beendet werden muss, denn Zeitwohlstand bedeutet auch eine faire Lastenaufteilung zwischen Partner*innen (dabei vergisst Teresa Bücker auch queere Lebensentwürfe in Alle_Zeit nicht und denkt diese explizit mit).

Eins ist ihre Idee einer neuen Aufteilung der Macht und Freiheit dabei allerdings nicht, wie Bücker am Ende des Buchs noch einmal nachdrücklich klar macht. Denn Alle_Zeit will keine Utopie sein, die man so betitelt leicht ins Reicht der Fantasie verschieben könnte. Vielmehr bietet das Buch neben der Problembeschreibung einen konkreten Handlungsfaden, der schon jetzt zur Umsetzung kommen könnte, wenn wir alle – Politik und Zivilgesellschaft eingeschlossen – denn nur wollten.

Sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Erwerbsarbeit einen wesentlich kleineren Teil des Lebens einnimmt und stattdessen mehr Zeit für andere Dinge bleibt, fällt vielen Menschen schwer. Sie deuten diesen Gedanken als Träumerei, die wir uns ab und an erlauben können, nicht als reale Möglichkeit, anders zu leben. Schließlich gibt es als Sehnsuchtsort den Ruhestand, mit dem wir angeblich in ein Meer aus freier Zeit hinübertreten. Wir werden ja weniger arbeiten: nur später.

Freie Zeit als neuer, als anderer Lebensabschnitt. Um weniger arbeiten zu können, muss die Zeit für uns erst neu beginnen. Diese Beruhigungstaktik, dass wir irgendwann all die Zeit haben werden, um das zu tun, wonach wir uns sehnen, schadet uns jedoch in der Gegenwart, da wir unsere Bedürfnisse damit nicht als etwas Unmittelbares, Wichtiges begreifen, sondern stattdessen verinnerlichen, dass sie etwas Zukünftiges sind: Wir dürfen etwas anderes wollen, überhaupt etwas wollen, aber nicht jetzt. Später. In der Gegenwart sollen wir bedürfnislos sein.

Wir sollen uns mit den Gegebenheiten arrangieren und das Beste aus ihnen machen. Die Gegenwart ist damit nur eine Übergangsphase, bis das richtige Leben beginnt. Wenn wir unsere Gegenwart jedoch nicht als relevant betrachten, sondern als Vorstufe zu etwas, das erst noch kommen wird, dann entpolitisieren wir sie. Wir trainieren uns darauf, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Aber wann beginnt die richtige Zeit? Unendliche Geduld und sanft formulierte Ideen werden zur Tugend, konkrete Ideen, Forderungen und Warnungen hingegen als Aktivismus diffamiert. Es gilt als zu radikal, in der Gegenwart zu handeln. Doch wenn das Jetzt nicht zählt, wie steht es dann um unsere zukünftige Gegenwart?

Teresa Bücker – Alle_Zeit, S. 128 f.

So entsteht ein runder Text, an dem es aufgrund seines Anspruchs und der damit Schritt haltenden Argumentation und theoretischen Unterfütterung nichts auszusetzen gilt. Dass ein Inhaltsverzeichnis inklusive Unterkapiteln und eine nach Kapiteln gegliederte Ordnung der fast 500 Zitationsnachweise im Anhang des Buchs die Übersichtlichkeit etwas erhöht hätten, sind Petitessen, die angesichts des ansonsten mehr als überzeugenden Ganzen nicht ins Gewicht fallen.

Fazit

Der Reichtum und die Schlüssigkeit von Bückers neuem Zeitmodell und die vielfachen Anknüpfungspunkte an die Debatten verbunden mit der Vision einer gerechteren Gesellschaft machen aus Alle_Zeit eine unbedingte Empfehlung, der eine maximal große Leserschaft und Diskurs über die Thesen zu wünschen ist. Es handelt sich bei Bückers Buch um eine gute Wahl für die Nominierung zum Deutschen Sachbuchpreises 2023 und in meinen Augen auch um einen würdigen potentiellen Siegertitel, beweist Bücker hier doch Mut zu einer klugen Vision und liefert darüber hinausgehend auch Umsetzungsstrategien hin zu einer gerechteren und besseren Gesellschaft.

Alle_Zeit ist ein holistisches Gedankengebäude, das dem Gedanken für ein zeitgerechteres Miteinander in allen Konsequenzen und der gebotenen Tiefe nachgeht. Für die Lektüre dieses bedenkenswerten Buchs sollte man sich auf alle Fälle eines wirklich nehmen, nämlich Zeit!


  • Teresa Bücker – Alle Zeit
  • ISBN 978-3-550-20172-1 (Ullstein)
  • 400 Seiten. Preis: 21,99 €
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Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis

In einem eigenwilligen Hybrid aus Bekenntnisroman, Werkschau, Bildungsroman und Werkstattbericht erzählt der Vorarlberger Arno Geiger von seinem Glücklichen Geheimnis und davon, wie dieses Geheimnis sein eigenes literarisches Schaffen beeinflusste. Dabei wird der Medienwandel und Werteverfall von Gedrucktem ebenso eindrücklich vor Augen geführt, wie auch so manches hartnäckige Schriftstellerklischee dekonstruiert wird.


Ein oder zwei Bücher genügen, man debütiert auf dem Literaturmarkt, bekommt am besten etwas Aufmerksamkeit und fortan hat man sich aller materieller Sorgen entledigt. Die Tantiemen sprudeln und man kann gut vom Erreichten leben. Noch immer halten sich solche Klischees vom Schriftsteller*innendasein, obwohl es wohl kaum eine Zeit gab, in der diese Vorstellungen vom glamourösen Schriftstellerdasein so wirklich zutraf, heute noch weniger als früher.

Nicht einmal die oberste Liga der Autor*innen, deren Werke breit rezipiert und vor allem in breiter Masse gekauft werden, kann sich so wirklich auf reine Buchverkäufe stützen. Lesetouren und Co sind heute ein fast unerlässliches weiteres Einkommmensfeld, möchte man vom Schreiben leben können. Mit ein oder zwei Büchern alleine ist man noch längst kein gemachter Mann oder keine gemachte Frau.

Der Werdegang von Arno Geiger

Das ist auch die Erfahrung von Arno Geiger, den man wirklich zu schriftstellerischen Oberschicht zählen kann, hat er doch zuletzt mit seinen Romanen Unter der Drachenwand oder Der alte König in seinem Exil, dem Demenzbericht über seinen Vater, für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Arno Geiger war es auch, der als erster im Jahr 2005 den neu eingerichteten Deutschen Buchpreis mit seinem Roman Es geht uns gut gewann. Doch selbst ein Autor mit solchen Erfolgen war oder ist nicht vor materiellen Nöten und Existenzkrisen gefeit. Das zeigt Das glückliche Geheimnis eindrücklich.

Dabei zeichnet Arno Geiger in seinem Buch seinen Werdegang und die ökonomischen Realitäten ungeschönt nach. So lebt er Anfang der 90er Jahre in Wien in reichlich beengten Verhältnissen:

Es fehlt nicht viel, dann sind es drei Jahrzehnte, seit es angefangen hat. Ich war vierundzwanzig Jahre alt, strebte keine Anstellung an, weil ich Schriftsteller werden wollte, und lebte in Wien in einem Haus, das dem Aussehen nach kurz vor dem Abriss stand. In diesem heruntergekommenen Haus bewohnte ich eine heruntergekommen Wohnung, dreißig Quadratmeter, bestehend aus einer engen Küche und einem an die Küche anschließenden Zimmer. Dieses Zimmer hatte die Aufgabe von Wohn-, Arbeits-, Ess- und Schlafraum zu erfüllen. Das Klo auf dem Gang teilte ich mit den Nachbarn.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 12

Das glückliche Geheimnis und das Altpapier

Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis (Cover)

Hier beginnt das, was Arno Geiger als „Glückliches Geheimnis“ bezeichnet und das sich fortan durch sein Leben ziehen wird. Denn inmitten seiner kärglichen Existenz stolpert er eines Tages über fünf vor dem Altpapiercontainer abgestellte Kartons, die Romane und Ausstellungsbände enthalten. Diese Entdeckung wird zum initialen Auslöser für seine Beschäftigung mit Altpapier. Fortan durchsucht er Container, schleppt Briefkonvolute, ausgesonderte Romane und Bildbände mit nachhause und veräußert diese teilweise gewinnbringend zusammen mit seiner Freundin bei Flohmärkten oder Antiquariaten.

Während er und sein Lektor für die Platzierung seiner ersten Romane im Programm des Hanser-Verlags kämpfen, bedeutet ihm die Suche nach neuen Geschichten und Entdeckungen Inspiration für sein eigenes Schreiben, in das er in diesem Buch an mehreren Stellen Einblick gibt.

Die vielen Metamorphosen im Arbeitsprozess sind schwer nachzuzeichnen. Die Lumpen, die ich nach Hause brachte, mussten zerrissen und in Fasern aufgelöst werden, damit daraus neuer Stoff entstehen konnte. Mein Schreibtisch war das Spinnrad, auf dem ich die Bruchstücke aus Fremdem und Eigenem zu neuen Fäden spann. Ich erfand zwei Dutzend Hasenfelle (Orte, Charaktere, Handlung), benutzte mein künstlerisches Talent als Nadel und nähte mit den gesponnenen Fäden und erfundenen Fellen einen Mantel: das Kunstwerk.

Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis, S. 128

Werkstattbericht, Literaturbetriebsprosa und Medienwandel

Neben diesem Einblick in die Schreibwerkstatt und die Ideenfundgrube für seine Romane ist Das glückliche Geheimnis auch ein Stück weit Literaturbetriebsprosa. So dürften Geiger und der ehemalige Hanser-Verleger Michael Krüger nicht unbedingt beste Freunde sein, seinen Schilderungen über die mühseligen Platzierungen seiner Romane im Programm nach. Die Hintergründe seines Gewinns des Deutschen Buchpreises, erschöpfende Lesetouren und Einblicke in den wenig glamourösen Schriftstelleralltag sind Bestandteil dieses Buchs. Vor allem aber ist das Buch eine eindrückliche Illustration über den Medienwandel und den Werteverfall des Gedruckten.

Erlöst Geiger zu Beginn seiner Karriere noch Geld mit dem Verkauf der Altpapierfunde, so wirkt dies heute nur ebenso anachronistisch wie das Bild einer sorgenfreien Schriftstellerexistenz.

Wohl jeder, der schon einmal ein nur wenige Monate altes Buch auf Momox oder einer anderen Plattform wie Ebay und oder modernen Antiquariate monetarisieren wollte, wird erfahren haben, dass sich die Ankaufspreise selbst für neu erschienene Gebrauchsliteratur nur noch im Centbereich bewegen. Längst einen florierenden Markt für die Wegwerfware Buch entstanden, was Geiger beim Rückblick auf seine Touren selbst anekdotisch beobachtet, als er festhält, dass die Liebesromane weniger und die Kriminalromane mehr wurden, Noten im Altpapier verschwanden und dafür die Weinkartons zunahmen.

Wie rasch das Buch vom gutverkäuflichen Objekt zur Dutzendware geworden, die Öffentliche Bücherschränke und Wühlkisten verstopft, das führt Das glückliche Geheimnis eindringlich vor Augen.

Das Buch als Wegwerfware

Schon längst ist das Buch zu einer Wegwerfware geworden, deren Wiederverkauf zumindest finanziell schon lange nicht mehr lohnt. Das führt bei Geiger dann auch zu einer besonders pikanten Szene, als er, der Träger des Deutschen Buchpreises, bei einer seiner Altpapiersuchen schließlich seinen eigenen ausgezeichneten Roman Es geht uns gut aus dem Müll fischt.

Einzig und allein die Überhöhung seines Wühlens im Altpapier irritiert in diesem Buch etwas. So schreibt sich Geiger aufgrund seines Tuns zum gesellschaftlichen Bodensatz der Gesellschaft herab und sieht sich sozial markiert in der Gosse. Seine Touren zu den Altpapiercontainer schildert er als eine Art Wiedergänger von Doktor Jekyll & Mr Hyde. Ich bin mir bei solchen Bezeichnungen nicht wirklich sicher, ob hier nicht etwas Banales nur einfach dramatisch überhöht wurde. Heute würde man Arno Geiger doch wohl eher zu seinem nachhaltigen und ressourchenschonenden Umgang mit dem gedruckten Wort gratulieren und ihn als Paten eines Öffentlichen Bücherschranks verpflichten, denn ihn gleich festzunehmen, wie er es in diesem Buch für sich fast nahelegt.

Fazit

Von solchen Überdramatisierungen abgesehen ist Das glückliche Geheimnis ein Buch, das den Mythos des sorgenfreien und glamourösen Schriftstelleralltags dekonstruiert und das wie eine Dreingabe zum bisherigen literarischen Schaffen des Vorarlberger Autors. Das Buch beleuchtet die Entstehungshintergründe seiner Romane, erzählt von seinem Werden und seinen familiären Wurzeln und legt nun eben auch mit viel Geraune und Bombast die Inspirationsquellen seines Schreibens offen. Eine Mischung, die trotz der disparaten Elemente aufgeht und vor allem für Geiger-Fans doppelt interessant sein dürfte.


  • Arno Geiger – Das glückliche Geheimnis
  • ISBN 978-3-446-27617-8 (Hanser Verlag)
  • 240 Seiten. 25,00 €
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Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus

Verträgt sich der Kapitalismus mit Umweltschutz und den Anforderungen an eine grüne Zukunft? Ulrike Herrmann meint nein und spricht sich in ihrem neuen Sachbuch für Das Ende des Kapitalismus aus und setzt statt auf neue Technologien auf Grünes Schrumpfen und die britische Kriegswirtschaft während des Zweiten Weltkriegs.


Es könnte doch so einfach sein, wenn man einigen Debatten gerade nach dem Ende der Gaslieferungen aus Russland verfolgte. Wir müssen rasch die erneuerbaren Energien ausbauen, ein paar Leitungen aus dem windstarken Norden in den Süden ziehen, den Umstieg der Verbrenner auf E-Autos vorantreiben, ein paar CO²-Emissionen einsparen, Wärmepumpen hinters Haus – und dann wird das schon etwas werden mit der Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens und einer grünen Zukunft. So einfach kann es sein, schenkt man einigen Stimmen dieser Tage Glauben.

Kann es eben nicht, wie Ulrike Herrmann in ihrem Buch Das Ende des Kapitalismus behauptet. Denn um unseren Kindern eine wirklich ein einigermaßen lebenswerte Erde zu hinterlassen, braucht es weitaus radikalere Ansätze als ein Windrad vor der Haustür oder einen Solarpanel auf dem Dach. Denn eine ökologisch verträgliche Zukunft und Kapitalismus, das geht nicht zusammen. Vielmehr braucht es ein Ende des Kapitalismus und sogenanntes Grünes Schrumpfen, um auf dieser Erde den Ansatz einer Chance zu haben, unsere Umwelt und damit uns zu retten. Ein Vorbild für einen solchen Ansatz findet sie in der britischen Kriegswirtschaft

Eine Geschichte des Kapitalismus

Doch zunächst beginnt Ulrike Herrmann ihr Buch mit einer Geschichte des Kapitalismus. Warum entstand dieser im Globalen Norden und warum waren es erst die vergleichsweise hohen Löhne in Großbritannien, die ausgehend von der britischen Insel zu einem Erstarken des Kapitalismus und dessen späterer Entfesselung führten? Das erzählt die taz-Journalistin einführend, ehe sie sich der aktuellen ökonomisch-ökologischen Lage unseres Landes und der Erde widmet.

Sie blickt auf die Zerstörung, die unser menschliches Handeln angerichtet hat und beleuchtet das krasse Ungleichgewicht zwischen Globalem Süden auf der einen und dem Globalen Norden auf der anderen Seite, dessen momentaner Ressourcenverbrauch momentan eigentlich zwei bis drei Erden bräuchte, um so in der Zukunft in irgendeiner Form Bestand haben zu können. Ein Zustand, der eng mit dem Kapitalismus verknüpft ist, der beständiges Wachstum braucht, um irgendwie fortexistieren zu können, oder wie es Ulrike Herrmann formuliert:

Der Kapitalismus ist faszinierend, weil er Wachstum und Wohlstand erzeugen kann. Aber leider benötigt er diese Expansion auch, um stabil zu sein und nicht in Krisen zu schlittern. Dieser Wachstumszwang kollidiert jedoch mit dem begrenzten Planeten Erde: Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich.

Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus, S. 84

Schon jetzt sind entscheidende Kipppunkte überschritten, die Einhaltung des Pariser Klimaschutzabkommens so gut wie unmöglich und die wahren Gefahren wie das die Freisetzung von in Mooren gebundenem Methan, der unwiederbringliche Verlust und damit die Zerstörung unserer Lebensgrundlage so gut wie unumkehrbar. Um auch nur einen halbwegs realistischen Ansatz der Rettung unseres Planeten zu haben, braucht es radikale Ansätze.

Grüne Technologie als Irrweg

Das Hoffen auf neue Technologien, vollständigen grünen Strom und den Fortbestand der Industrie und Arbeitsplätze in der aktuellen Form sind dabei nur Schimären, die wir verzweifelt zu haschen versuchen, um unsere Augen vor der unbequemen Wahrheit noch etwas weiter verschließen zu können und an Illusionen festzuhalten, die eben nicht mehr als das sind.

Ulrike Herrmann - Das Ende des Kapitalismus (Cover)

Denn in Das Ende des Kapitalismus zerstört Ulrike Herrmann gnadenlos und mit Verve sicher geglaubte Wahrheiten und angenehme Scheinsicherheiten. Wind und Sonne? Keine verlässlichen Energielieferanten. Atomenergie? Scheidet ebenfalls aus. Die Probleme von Speicherkapazitäten und Leitungsstrukturen nicht gelöst und technisch wohl auch in Zukunft kaum praktikabel umsetzbar. Generell die Vorstellung von vollumfänglicher grüner Energie eben eine Schimäre und nicht mehr als das (auch wenn beispielsweise ihr ehemaliger taz-Kollege Malte Kreutzfeldt Zweifel an dieser Hypothese äußert).

Das bisher praktizierte ökologisch-ökonomische Lebensmodell ist nicht zu halten und muss nicht nur reformiert, sondern gleich abgeschafft werden, so die mit vielen Quellen untermauerter Befund der Journalistin (die dabei auch historische Mythenbildung zu Fall bringt, wie etwa die der Kolonien, deren wirtschaftliche Bedeutung man völlig überschätzt und die abgesehen von den Verbrechen und Genoziden vor Ort wirtschaftlich immer ein reines Zuschussgeschäft waren, überstieg ihr Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt sowohl in Sachen Import als auch Export nicht einmal ein Prozent)

Digitalisierung und technische Innovationen werden uns nicht retten können, auch Wärmepumpen und neue Wohnmodelle sind nur minimale Pflaster auf einer Wunde, die im übertragenen Sinne nach einer anderen Heilung verlangt als nur kleinteiliger Kurpfuscherei.

Ein Ausweg durch Grünes Schrumpfen

Einen Ausweg sieht Herrmann nur im sogenannten Grünen Schrumpfen, einer Verabschiedung von bisher praktizierten ökonomischen Leitlinien und dem generellen Ende des Kapitalismus, dessen Bedürfnis nach Wachstum nicht mit einer Welt kompatibel ist, die dieses Wachstum nicht mehr hergibt.

Dass das nicht schmerzhaft sein kann, sondern durchaus funktioniert, dafür zieht die Journalistin das Beispiel Großbritanniens zur Zeit des Zweiten Weltkriegs heran. Denn dort hatten sich die Eliten noch zu lange in Sicherheit gewiegt, gar mit dem Hitler-Regime sympathisiert, ehe sie sie von heute auf morgen in einem Krieg wiederfanden, auf den das Land trotz moderner Truppen nicht wirklich vorbereitet war.

So musste plötzlich die ganze Wirtschaft des Landes auf Kriegsproduktion umgestellt werden, Lebensmittel rationiert und von vielen Briten und Britinnen neue Jobs in der Rüstungsindustrie ergriffen werden, um gegen das kriegshungrige Hitler-Deutschland eine Chance zu haben.

Dabei erkennt Herrmann gerade in der egalitären Natur dieser Kriegswirtschaft den großen Vorteil, der auch dem krassen Ungleichgewicht unserer Gegenwart etwas entgegenzusetzen hätte. Denn so standen allen Bürger*innen dieses Landes die gleiche Zahl an Kalorien und übrigen Zuteilungen zu, unabhängig von ihrem sozialen Stand und ihrer Klasse. Die ganze Bevölkerung wurde in dieser staatlichen Planwirtschaft gleichbehandelt, was auch mit Verzicht und der Streichung von Privilegien einherging. In unserer Gesellschaft, in der die Reichen immer reicher werden und die Armen immer mehr werden, in der oftmals das finanzielle Vermögen und die Herkunft über Chancen in der Bildung und Gesellschaft entscheiden, tatsächlich ein radikaler, aber bedenkenswerter Ansatz.

Eine solche egalitäre Einbeziehung der ganzen Gesellschaft könnte laut Ulrike Herrmann dazu angetan sein, die immer größer werdende Kluft zwischen einem kleinen Prozentsatz der Gesellschaft und dem vom Kapitalismus nicht profitierenden Rest zu verkleinern und durch neue Arbeits- und Lebensmodelle Sinn zu stiften und die von David Graeber einst als Bullshit-Jobs getauften gut bezahlten, aber sinnlosen Tätigkeiten zu überwinden. Die Vorteile fächert Ulrike Herrmann in ihrer ganzen Breite auf, wenngleich die Journalistin auch nicht verschweigt, dass unser momentaner Lebensstandard so oder so nicht zu halten sein wird und etwa Flugreisen oder Früchte außerhalb ihrer Saison ein Auslaufmodell sein dürften.

Ein radikaler Denkansatz

Man kann Ulrike Herrmann wahrlich nicht vorwerfen, dass ihr radikaler Denkansatz zu wenig ambitioniert sei. Vielmehr legt sie einen großen Strategieentwurf für eine halbwegs lebenswerte Zukunft vor, der in vielen Punkten neben der starken Illusionszertrümmerung aber auch durchaus Bereitschaft zu einer Neubewertung der Lage erkennen lässt. Oft betont die Journalistin, dass das Buch gerade in Sachen Innovationen und technischer Neuerungen den gegenwärtige Stand und die absehbare Zukunft abbildet. Sie selbst führt in einigen Passagen auch Gegenbeispiele an, die ihrer eigenen Hypothese widersprechen oder bei denen sich sicher geglaubte Annahmen als Irrtümer herausstellt.

Das mag zwar in einigen Punkten auch zutreffen, aber an der gesamtpessimistischen und alarmistischen Grundhypothese des Buchs dürfte das auch wenig ändern (obgleich man sich natürlich anderes wünscht, Herrmann aber bei ihrer stringent durchargumentierten Schrift leider auch häufiger rechtgegeben muss, als man das eigentlich möchte. Aber tief in sich ahnt doch wohl aber jeder und jede vernunftbegabte Leser*in, dass sich unser Leben in Zukunft nicht mehr so annehmlich gestaltet wird, wie wir es aktuell gewohnt sind).

Fazit

Auch wenn die Verzahnung von Kapitalismusgeschichte und illusionszertrümmernder Streitschrift in manchen Passagen nicht ganz aufzugehen vermag und man an manchen Behauptungen zweifeln darf, so ist Das Ende des Kapitalismus doch ein eindringliches Buch, das uns die Webfehler des kapitalistischen Systems und die beschränkten Potentiale der grünen Energien und der damit verbundenen Technologien vor Augen führt.

Die Stärke von Ulrike Herrmanns Buch ist die Zugänglichkeit, mit der sie von ihrem Thema schreibt. Kurze Kapitel, die die jeweilige These schon im Titel tragen, werden allgemeinverständlich von ihr ausgeführt und mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat belegt. Dabei findet sie immer wieder plausible Bilder wie das des Radfahrers, der als Sinnbild für den Kapitalismus steht. Tritt er nicht mehr in die Pedale um voranzukommen, so droht er umzukippen, denn der Stillstand ohne Bodenkontakt ist für ihn so gefährlich wie der Stillstand für den globalen Kapitalismus.

Stellte Frederic Jameson einst fest, dass man sich leichter das Ende der Welt denn das des Kapitalismus vorstellen könne, so zeigt Ulrike Herrmann hier, dass das durchaus geht.

So ist Das Ende des Kapitalismus ein massenkompatibles Buch, das unbequeme Wahrheiten ausspricht und das energisch für eine kapitalismusfreie Welt eintritt, die weit mehr Chancen als Risiken bereithält, wenn man der Zukunftsvision der Journalistin Glauben schenken darf.


  • Ulrike Herrmann – Das Ende des Kapitalismus
  • Artikelnummer 174324 (Büchergilde Gutenberg)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

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