Tag Archives: Frankreich

Maria Borrély – Mistral

Schon kurz nach dem Beginn fällt der unabhängige Kanon-Verlag durch ein ambitioniertes Programm auf. Nun ist dem Berliner Verlag eine echte Entdeckung gelungen. In ihrem ursprünglich 1929 erschienenen Roman Mistral erzählt Maria Borrély ebenso präzise wie lyrisch von einem kleinen Dorf in der Provence, vom wechselseitigen Walten der Kräfte in der Natur und im Menschen und von einer unglücklichen Liebe


Manche Bücher gehen ungewöhnlichen Wege, ehe wir sie als Leser*innen zu Gesicht bekommen. Maria Borrélys Buch ist hierfür ein Beispiel, beginnt die Geschichte doch mit einer Vitrine in einer Kneipe im französischen Dörfchen Puimoisson. Dort, inmitten der Provence, verbringt die Übersetzerin Amelie Thoma regelmäßig ihre Urlaube und stieß beim Besuch einer Kneipe auf eine Vitrine, wie sie in ihrem Nachwort des Buchs erklärt. In jener Vitrine fanden sich neben den üblichen regionalen Spezialitäten auch die Erzeugnisse eines kleinen Verlagshauses, darunter den Roman Sous le vent von Maria Borrély. Schauplatz des Buches ist ebenjenes Dorf Puimoisson, in dem Thoma nun knappe 100 Jahre nach Erscheinen des Romans auf das Buch stieß – und begeistert war.

Der Grund ihrer Begeisterung ist nun in Thomas Neuübersetzung zu lesen, nachdem die ursprüngliche Übersetzung von Walter Gerull-Kardas im Züricher Scientia-Verlag aus dem Jahr 1939 datiert und in ihrer barocken Gestaltung dem vielschichtigen Ton von Maria Borrély nicht wirklich gerecht wurde, wie Amelie Thoma in ihrem Nachwort erklärt. Die Suche nach einem Verlag, der eine Neuausgabe des Werks wagte, trug in Form des Kanon-Verlags offenkundig Früchte und so gibt es nun eine französische Autorin zu entdecken, die genau auf Natur und Mensch blickt und mit ihrem Schreiben als eine der Vorreiterin der aktuell so boomenden Gattung des Nature Writing gelesen werden kann.

Le vent nous portera

Maria Borrély - Mistral (Cover)

Schauplatz des Romans von Maria Borrély ist die Region Haute-Provence in ihrer ganzen Fülle. Dort, auf und am Fuße des Plateaus gibt es den ganzen Reichtum zu entdecken, die die Natur so spendet. Mandelernte, später im Jahr der blühende Lavendel, Quitten, Salbei, Korn und dichte Wälder. Es ist nahezu ein Paradies, kostet den Menschen aber auch entbehrungsreiche Arbeit.

Die Umwelt gibt den Takt vor, nach dem die Menschen im kleinen Dörfchen hier leben. Gemeinsam trifft man sich abends im Schein der Lampe, um Mandeln zu pulen, während der Mistral ums Haus weht. Gemeinsam werden die Acker geeggt und besät. Man folgt dem Rhythmus der Natur, dem Werden und Vergehen, während die die verschiedenen Winde vom Plateau herab wehen und durch die verlassenen Viertel des Dorfs streichen.

Der Südwind bläst seit zwei Tagen, heiß wie aus einem Backofen, und hat das Korn zu schnell reifen lassen. […].

Die dichten, glänzenden Halme kommen ihm vor wie das volle Haar der drallen Erde. Den Falten des Geländes folgend, sind sie herrlich goldbraun gereift. Wo die Bäume ihnen Schatten geben, ist die Farbe weniger intensiv. An manchen Stellen sinken sie in schweren Bündeln um, als hätten sie einen Sonnenstich.

Rund um das vor Licht, trunkenen Zikaden und sonnenverbrannten Ähren sirrende Plateau bilden die Hügel einen Ring aus blauer Frische. Auf der Montagne de Lure ist ein Hauch Schnee zu erahnen.

Und der Lavendel, zwischen zwei Weizenfeldern, erscheint wie der violette Grund einer Schlucht am Morgen.

Maria Borrély – Mistral, S. 53

Frühlings Erwachen

Während neben der Natur als Hauptdarstellerin mehr oder weniger das ganze Dorf das menschliche Personal des Romans bildet, schält sich bald die junge Marie als Ankerpunkt des auktorial erzählten Geschehens heraus. Sie spürt nicht nur die Kräfte der Natur im Frühjahr erwachen – auch in ihr wirken die Kräfte der Natur und lassen die Sehnsucht und das Begehren erwachen. Ziel von Maries Leidenschaft ist der junge Müllersknecht Olivier Roure, der ihr den Kopf verdreht hat und den sie im Lauf des Frühlings und Sommers zunehmend begehrt.

Als sie im oberen Viertel herauskommt, sieht sie Olivier auf dem Karren und ist auf einmal atemloser als eben noch, während sie die steile Straße hinaufeilt.

Mit zugeschnürter Kehle verlangsamt sie ihren Schritt und wünscht, sie könnte mit den Händen ihr hüpfendes Herz festhalten.

Unter dem dünnen Stoff zeichnen sich ihre Brüste ab wie zwei aufragende Wogen. Die runde Hüfte wiegt sich, schwingt. Die Blöße des schönen, erblühten Körpers strömt über, strahlt durch die schlichte Baumwolle, die an den kraftvollen Gliedern klebt, wie Licht durch einen Lampenschirm.

Er sieht sie in einer fließenden Bewegung näherkommen, mit einem Blick, der den keuschen Schleier durchdringt, trinkt die Glut, die die Wangen der jungen Frau rötet, wie Likör, denkt, dass das Schönste an ihr weder der Körper ist noch die geschmeidige Anmut ihres Gangs, sondern die Liebe, die ihr aus allen Poren dringt, die Leidenschaft, die sie verströmt wie ein Parfum.

Maria Borrély – Mistral, S. 60

Die Kräfte der Natur walten auch in diesen beiden jungen Menschen. Und doch kann es, ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen, nichts werden, mögen auch Sinn und Sinnlichkeit noch so stark für die beiden jungen Menschen sprechen.

Alles andere als Kitsch

Man könnte es sich nun leichtmachen mit Maria Borrélys Roman und ihn des übermäßigen Pathos und Kitsch zeihen. Doch das wäre falsch, auch wenn es einem Sätze wie „Ihr Herz ist ein blühendes Feld, das nach Hoffnung duftet“ natürlich einfach machen.

Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn Borrélys Buch ist unglaublich stimmig in der Art und Weise, wie sie Natur und Herz, Gefühl und Jahreszeiten hier zusammenbringt. Die knospende Natur, die auch in Marie waltet, die Kälte und Düsternis, die im Winter auf die junge Frau übergreift – hier schreibt eine Autorin mit einem tiefen Verständnis von Mensch und Natur, obschon man manches Sprachbild hundert Jahre später auch aufgrund wirklicher Kitsch-Autor*innen seither als abgegriffen empfinden mag.

Wie sie die Gegend dort in der Provence aber in hellen Farben schildert, wie sie den bäuerlichen Rhythmus und das Tagwerk, die versuchte Domestizierung von Äckern und Wäldern beschreibt, wie auf jeder Seite das Auge der Autorin für Ökologie durchscheint, das macht Maria Borrély in meinen Augen zu einer der frühen Vorreiterinnen der heute so boomenden Gattung des Nature Writing mit einer schon fast impressionistischen Sprachkraft, die Amelie Thoma im Deutschen nun erlebbar macht:

Auf den Tennen ein Konzert brummender Maschinen.

Die Sonne sticht vom Himmel.

Manch einer ist noch am Dreschen.

Rund um die Stangen wächst kegelförmig der Haufen aus Körnern und Spreu. Ansonsten ist der Platz gefegt, das uralte Pflaster mit seinen glänzenden abgewetzten Steinen, die die Fußsohlen verbrennen, nackt.

Maria Borrély – Mistral (S. 54)

Ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt

Sie erzählt vom Jahreskreislauf und findet immer wieder kraftvolle Metaphern, die man aus heutiger Sicht natürlich leicht als Kitsch abtuen kann, aber dabei außer Acht lässt, wie geschickt sie Natur und Sehnen verbindet.

Mistral ist ein Buch, das von seiner Sinnlichkeit lebt, die auf den ganzen 113 Seiten fast mit den Händen zu greifen ist. Zudem setzt Borrély in vielen Szenen auch auf eine großartig inszenierte Uneindeutigkeit in den Szenen, die verschiedene Lesarten erlaubt (unter anderem in der großartigen Schlussszene), und findet (auch vor allem dank ihrer Übersetzerin Thoma) Sprachbilder, die in ihrer Originalität überzeugen und bei einem bleiben, wie etwa dieses: „Der Tag sickert langsam aus den Umrissen der Dinge“.

So bleibt nach der Lektüre der Eindruck, hier einer wirklich Wiederentdeckung beigewohnt zu haben, deren Alter von fast hundert Jahren man auch dank Amelie Thomas Neuübersetzung kaum merkt. Schön, dass die weiteren Romane dieser hochinteressanten Autorin mit ihrer Prosa, deren „Reichtum an Farben, (…) eigentümlicher Klang, (…)unmittelbare Kraft bis in die kleinsten Sätze der Dialoge“ auch Andre Gide rühmte, der Borrélys Werk begutachtete und zur Veröffentlichung im renommierten Gallimard-Verlagshaus empfahl, demnächst im Kanon-Verlag erscheinen sollen!

Fazit

Das Werden und das Vergehen, die Kraft der erwachenden Natur, die auch Marie spürt, die Sinnlichkeit, die das Begehren und das ganze Leben dort am Fuße des Plateaus hat, all das fasst die 1890 in Marseille geborene und später als Dorflehrerin in der Provence lebende und lehrende Autorin konzise zusammen. Natur und Mensch, Gefühl und Jahreszeiten, alles verbindet sich in Mistral auf großartige Weise, gekleidet in eine Sprache, die an vielen Stellen an Impressionismus erinnert, und in der die Sinnlichkeit einen großen Platz einnimmt.

Eine großartige Entdeckung, die Amelie Thoma hier gemacht und gekonnt ins Deutsche übertragen hat. Diese Wiederentdeckung ist der beste Beweis, dass es sich auch im Urlaub mal lohnen kann, das literarische Angebot vor Ort mal genauer in Augenschein zu nehmen.


  • Maria Borrély – Mistral
  • Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-98568-069-6 (Kanon)
  • 127 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Annie Ernaux – Der junge Mann

Ein Blick in die Schreibwerkstatt Annie Ernaux‚ und weit mehr als eine nachgereichte Gabe zur Verleihung des Literaturnobelpreises im vergangenen Jahr: ihre kurze autobiographische Erzählung Der junge Mann, die von einer Affäre genauso wie von Klassenunterschieden und dem Aufstiegsstreben erzählt.


Der Blick auf die reinen Äußerlichkeiten des Buchs lässt zunächst den Eindruck einer Mogelpackung entstehen, die ihren dünnen inneren Gehalt geschickt kaschieren soll. Gerade einmal vierzig recht spärlich und in großer Type bedruckte Seiten, dazu noch ein paar Seiten mit einer Werkauswahl der bei Suhrkamp erschienenen Bücher von Annie Ernaux, fertig ist Der junge Mann.

Ist das nicht eigentlich eher eine kleine Erzählung, die in einem Sammelband besser aufgehoben wäre, die hier mit viel Mühe und merkantilem Geschick zu einem Buch mit ambitionierter Preisgestaltung aufgeblasen wird?

Nein, auch wenn man das Buch als Leser wohl nicht länger als zehn Minuten brauchen dürfte. Denn das Buch nimmt im Schreiben von Annie Ernaux durchaus eine spannende Doppelrolle ein, ist es doch eine autobiographische Erzählung, die sich in ihr gesamtes Oeuvre einfügt und anknüpft. Zugleich ist Der junge Mann auch Werkstattbericht und Auskunft über Ernaux‘ eigenes Schreiben, der die prägenden Erzählthemen und den erzählerischen Ansatz noch einmal vor Augen führt.

Eine Affäre mit dem Zeug zum Skandal

Dabei beginnt alles wie eine umgekehrte Version von Peter Maffays Und es war Sommer.

Mein Gedächtnis lieferte mühelos Bilder vom Krieg, von amerikanischen Panzern in La Vallée, Lillebonne, von Plakaten mit General de Gaulle und seinem Käppi, von Demos im Mai 1968, und jetzt war ich mit jemandem zusammen, dessen frühste Erinnerungen bis zur Wahl von Giscard d’Estaing zurückreichten, wenn überhaupt.

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 34

Das was Tessa Hadley im vergangenen Jahr in ihrem zu Unrecht kaum beachteten Roman Freie Liebe eindrücklich aber fiktiv beschrieb, Annie Ernaux hat es in der Realität selbst erfahren. Die leidenschaftliche Affäre mit einem jungen Mann, die sie als mittelalte Frau mit einem eigentlich festen Platz im Leben beginnt. Noch einmal die eigene Studentenzeit erleben, noch einmal den Rausch des Begehrens und der völligen Hingabe. Das ist es, was sie mit dem titelgebenden jungen Mann sucht und erlebt, wobei der junge Mann in ihrer Erzählung eigentlich ein konturloser Schemen bleibt, der nicht einmal einen Namen erhält.

Annie Ernaux und der junge Student

Annie Ernaux - Der junge Mann (Cover)

Die Affäre, in die sie sich kurz vor Beginn der Jahrtausendwende stürzt, ist dazu angetan, gesellschaftlich den Stab über sie zu brechen. Denn wenn sich ein Mann eine deutlich jüngere Geliebte nimmt oder sich in eine Affäre stürzt, dann ist das etwas, das gesellschaftlich kein Aufsehen erregt und weithin akzeptiert ist. Der umgekehrte Fall hingegen ist weitaus mehr dazu angetan, Aufsehen und offene Ablehnung hervorzurufen. Das muss auch Annie Ernaux selbst erleben, nicht nur am Strand von Capri, wo sie mit ihrem jugendlichen Geliebten den Sommerurlaub verbringt.

Sie mit 54 Jahren in der Menopause, er ein junger Student ohne viel Geld in einer bescheidenen Studentenbude. Und doch stürzen sich beide mit Wucht in diese Affäre, bei der Ernaux die Wochenenden bei ihm in Rouen verbringt, wo sie auch selbst einst studierte.

Er begegnete mir mit einer Leidenschaft, wie ich sie mit vierundfünfzig Jahren noch bei keinem Mann erlebt hatte.

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 17

Die Affäre mit dem jungen Studenten wird zugleich zum Portal in ihre eigene Vergangenheit, wenn in der Wohnung zum Liebesspiel Musik der Doors erklingt und sie in ihrer postkoitalen Ermattung auf der am Boden liegenden Matratze auf das gegenüberliegende ehemalige Krankenhaus Hôtel-Dieu blickt, in dem sie einst 1963 eine Abtreibung vornehmen ließ (was sich so wieder wunderbar ins Oeuvre Ernaux‘ einfügt, schließlich erzählte sie bereits in Das Ereignis von dieser Erfahrung).

Re-Enactment der eigenen Studentenzeit

Der junge Mann dient Annie Ernaux zum Re-Enactment ihres eigenen Lebens, ihrer Studentenzeit und jener Phase, mit der sie als arrivierte und gebildete Autorin eigentlich schon längst abgeschlossen hatte.

Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 21

Neben der Leidenschaft und der Zeitreise zurück in ihre eigene Studentinnenzeit zeigt ihr die Affäre aber auch ihr eigenes Vorankommen in der französischen Gesellschaft auf. Denn während der junge Mann in Armut lebt und sich mit kreativen Spartricks über Wasser hält, ist es doch ein gesellschaftlich gesetztes Leben, das Ernaux führt. Zwei Kinder mit einem Lehrer, akademische Bildung, literarische Erfolge als Autorin, alles ist da. Im Kontakt zu ihrer Affäre, der aus dem Prekariat stammt, dieses aber mitsamt sämtlicher habituellen Gepflogenheiten vom ostentativen Nicht-Wählen bis hin zu mangelnden Tischmanieren gar nicht ablegen will, kommt sie sich wie eine Bildungsbürgerin vor, die längst einen intellektuellen, aber vor allem sozialen Abstand zum Milieu und Habitus der Studentenwelt gewonnen hat.

So dient ihr die Affäre auch zur Selbsterkundung und zur Betrachtung des eigenen Lebensweges, auf dem sie mit dem jungen Studenten noch einmal mehr als nur einige Schritte zurückmacht, ehe die Affäre dann mit dem Beginn des neuen Jahrtausends endet. Die Klassenunterschiede, die in dieser Affäre offenbar werden, sie sind sowieso ein Lebensthema im Schreiben der Autorin – und in diesem Text wird das erneut ganz deutlich.

Die Poetik von Annie Ernaux‘ eigenem Schreiben

Was dieser Text zudem deutlich zeigt, das ist, wie Ernaux schreibt und ihre Poetik funktioniert. Denn das Konzept ihres Schreibens und ihres schreibenden Selbstverständnisses ist diesem Buch vorangestellt:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.

Annie Ernaux – Der junge Mann

Das beweist der Text ganz deutlich. Denn die Französin gesteht, dass sie den Abschluss eines Lebensabschnitts oder Erlebnisses braucht, um ihn schreibend zu verarbeiten. So ist die sich auflösende Beziehung zu dem jungen Studenten Ausgangspunkt für den Erfolg ihres Schreibprojekts über ihre eigene Abtreibung (wobei sie das Abstoßen des Fötus mit dem Abstoßen von der Beziehung mit dem Studenten engführt). Erst wenn etwas vorbei ist, dann kann etwas die Verschriftlichung beginnen. Das zeigt auch Der junge Mann und ist dadurch so etwas wie ein Schlüssel zum literarischen Selbstverständnis der Nobelpreisträgerin und das rechtfertigt in meinen Augen auch die große Form der Aufmachung, die keinesfalls eine Mogelpackung, sondern ein Schlüsseltext zum Werk von Annie Ernaux ist.

Fazit

Selbstbeschreibung und Selbsterkundung in einer Welt mit festgeschriebenen Rollenbildern, das Zertrümmern von Tabus, die radikale Offenheit, sie zeichnen Annie Ernaux‘ Schreiben aus. Und in Der junge Mann tritt genau das ganz deutlich zu Tage. Deshalb ist der Text weit mehr als nur ein kleiner literarischer Baustein im Gesamtgefüge von Ernaux‘ Werk, sondern ein zentraler Pfeiler, der ihr Schreiben und ihren Blick auf die Weltkonzentriert bündelt. Der Text zeigt fokussiert die schriftstellerischen Anliegen und Themen im Werk der Nobelpreisträgerin. Mit ihrem neuesten Buch erklärt uns Annie Ernaux, wie sie die Welt sieht und beschreibt. Und nicht zuletzt zeigt Der junge Mann, wie viel in einem kleinen Textkondensat stecken kann.


  • Annie Ernaux – Der junge Mann
  • Aus dem Französischen von Sonja Finck
  • ISBN 978-3-518-43110-8 (Suhrkamp)
  • 48 Seiten. Preis: 15,00 €
Diesen Beitrag teilen

Karine Tuil – Diese eine Entscheidung

Zwischen Wissen und Gewissen, Vernunft und Impuls pendelt in Karine Tuils neuem Roman die Antiterror-Staatsanwältin Alma Revel. Sie muss Diese eine Entscheidung treffen, die unmittelbare Konsequenzen für sie und ihr Umfeld haben wird. Darf man einen potentiellen Attentäter in vorbeugende Haft nehmen, auch wenn eigentlich alle Zeichen für eine De-Radikalisierung sprechen? Welchen Preis sind wir bereit, für unsere Freiheit zu zahlen?


Mit diesen Fragen bekommt es Alma Revel ganz unmittelbar zu tun. Denn im Namen des Staates soll sie im Fall von Abdeljalil Kacem entscheiden, der zusammen mit seiner Frau Sonja Dos Santos aus Syrien nach Frankreich heimgekehrt ist. Die Frage, vor der die Antiterror-Staatsanwältin nun steht, ist eine, die man auch aus der Serie Homeland kennt. Geht von dem Kacem und seiner Frau eine unmittelbare Gefahr aus – oder ist die Beteuerung des Heimkehrers glaubwürdig, dass ihm die Zeit dort im IS-Herrschaftsgebiet die Augen geöffnet hat? Hat er wirklich dem Fanatismus abgeschworen – oder sind das nur vordergründige Lippenbekenntnisse? Keine leichte Entscheidung, die Alma treffen muss, vor allem da sie auch privaterweise gerade gefordert ist.

Ich heiße Alma Revel. Ich bin am 7. Februar 1967 in Paris zur Welt gekommen.

Ich bin neunundvierzig Jahre alt.

Ich bin die einzige Tochter von Robert Revel und Marianne Darrois.

Ich bin französische Staatsangehörige.

Getrennt lebend, Mutter von drei Kindern.

Ich bin Ermittlungsrichterin in der Abteilung Terrorismusbekämpfung.

Karine Tuil – Diese eine Entscheidung, S. 15

Alma vermengt auf ungute Weise Privates und Dienstliches. Denn getrennt von ihrem Mann lebend stürzt sie sich in eine Affäre ausgerechnet mit dem Mann, der Abdeljalil Kacem vor Gericht verteidigt. Bald schon verschwimmen die Grenzen. Das Private beeinflusst die Anwältin, deren professionelles Urteilsvermögen schon bald empfindlich getrübt wird – mit katastrophalen Folgen, wie sich zeigen wird.

Probleme mit dem gewählten Erzählansatz

Karine Tuil - Diese eine Entscheidung (Cover)

Dabei erweist sich in Diese eine Entscheidung die von Karine Tuil gewählte Erzählkonstruktion leider als deutlicher Schwachpunkt. Denn der eigentlichen Handlung vorangestellt ist ein Prolog, in dem Alma die auf einem Bildschirm die Auswirkungen eines brutalen Attentats zu sehen bekommt. Die Frage, die im folgenden Text und den dazwischengeschalteten Verhörprotokollen über zwei Drittel des Buchs erörtert wird, ist damit eigentlich schon hinfällig. Inwieweit ist die Wandlung des IS-Sympathisanten Kacem glaubhaft? Diese Frage, auf der der Spannungsbogen beruht, sie ist schon vorab gelöst und verpufft damit recht wirkungslos. Zu keinem Zeitpunkt gibt es in den ersten Dritteln damit wirkliche Spannung oder Neugier.

Stattdessen läuft das Buch auf einen klaren Punkt hinaus, der schon initial bekannt ist, wenngleich Karine Tuil die Gewissensabwägungen und Entscheidungen im Prozess glaubhaft darstellt und gerade Alma Revel in ihrem undankbaren Job, als Mutter und Geliebte durchaus facettiert darstellt. Aber überraschend ist an der ganzen Erzählung nicht. Bis im letzten Drittel die Konsequenzen von Almas Entscheidung Thema sind.

Späte Wucht

Plötzlich hat Diese eine Entscheidung jene Wucht, die dem Buch in den beiden vorherigen Dritteln fehlte. Ohne zu viel verraten zu wollen, sind die Auswirkungen von Almas Entscheidung fatal und beeinflussen durch ihre professionelle Entscheidung einmal mehr ihr privates Leben. Die Ereignisse in Paris, die im November 2015 die Welt erschütterten, sie werden dann noch einmal ganz unmittelbar und präsent.

Hier zeigt sich Karine Tuil dann die Qualitäten, die ich an ihr als Autorin so schätze. Politik, Gesellschaftskritik an unseren blinden Flecken, Betrachtung unserer Lebensweise aus verschiedenen Blickwinkeln und eine schonungslose Analyse bestehender Zustände und der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit.

All das bietet sie in Diese eine Entscheidung auf – und doch hätte das Buch diese Wirkung in ganz anderer Weise entfaltet, hätte sie sich für eine andere Erzählweise entschieden und den verräterischen Prolog einfach weggelassen.

Fazit

Diese eine Entscheidung ist das Porträt eines eigentlich sehr professionellen Staatsanwältin, die durch ihr Privatleben in ihren Entscheidungen beeinflusst wird – mit katastrophalen Folgen. Karine Tuil gelingt ein nuanciertes Bild einer Frau zwischen Rationalität und Gefühlen, deren Dilemmata sich eindrucksvoll vermitteln. Hätte Tuil dafür allerdings eine bessere Erzählstrategie ohne die allzu verräterische Exposition gewählt, das Buch hätte deutlich gewonnen, davon bin ich überzeugt.


  • Karine Tuil – Diese eine Entscheidung
  • Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
  • ISBN 978-3-423-29036-4 (dtv)
  • 352 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Négar Djavadi – Die Arena

Kaum bricht sie an, die Zeit der Wahlkämpfe, dann ist es auch wieder Zeit für Veranstaltungen, die gerne einmal den Titel „Die Arena“ oder „Die Wahlkampfarena“ tragen. Das Parteienpersonal nimmt in solchen Veranstaltungen Stellung und bekennt Farbe in Konfrontationen, wie es dann immer in Werbungstexten heißt. So richtig hoch her geht es bei solchen Konfrontationen selten. Ganz anders die historischen Arenen im römischen Weltreich, die noch für Massenspektakel, Gewalt und Tod standen und die von den heutigen Arenen etwa so weit entfernt sind wie Italien von stabilen politischen Verhältnissen.

Négar Djavadi hat nun einen Roman geschrieben, der ebenfalls den Titel Die Arena trägt und der sich thematisch zwischen phrasenreichem Wahlkampf und tödlichem Spektakel im alten Rom einordnet. Darin zeigt sie ein Paris im Ausnahmezustand, das wenig mit Eiffelturm und Croissant-Seligkeit zu tun hat, als vielmehr eines, das von Gangkriegen und Polizeigewalt inmitten eines Wahlkampfs um das Amt des Pariser Bürgermeisters erschüttert wird.


Dass ein Riss durch die französische Bürgerschaft geht, das haben die jüngsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen deutlich gezeigt. Nachdem sich Amtsinhaber Emmanuel Macron in einigen Arena-Debatten mit seiner rechten Herausforderin Marine Le Pen maß, behielt er zwar sein Präsidentenamt, wenige Wochen später verlor er allerdings die Mehrheit im Parlament und die extremen Ränder wurden durch die Wahlen gestärkt.

Dieses Gefühl gravierender politischer Veränderung, der Hinwendung zu extremen Positionen und gärende Wut im Volk scheint immer wieder in Die Arena durch, wenn diese Gefühle nicht sogar das ein ums andere Mal offen zutage treten. Négar Djavadi thematisiert dies, indem sie als Form den klassisch-realistischen Großstadtroman in der Tradition eines Émile Zola oder Honoré de Balzac wählt.

Verschiedene Figuren, verschiedene Milieus

Eine Vielzahl unterschiedlicher Figuren rückt sie in den Mittelpunkt, die pars pro toto für verschiedene Paris oder vielmehr französische Milieus und Gesellschaftsschichten stehen.

Alles beginnt dabei mit dem Mord an einem Teenager im Müllraum eines Mehrparteienhauses, für den eine verfeindete Gang wenig später Rache übt.

Ja, seit September hat es schon zwei [Abrechnungen] gegeben… Die letzte war Ende Januar, da wurde ein Jugendlicher tot im Müllraum der Cité Rouge gefunden. Le Parisien brachte keine vier Zeilen darüber, und in den anderen Zeitungen stand gar nichts! Adam hatte es mir nach der Schule erzählt… Vierte Klasse, stell dir vor…“

„Cité Rouge gegen Grange-aux-Belles, richtig?“

„Offensichtlich… Aber da ist noch die Cité Blanche, die Beihilfe leistet oder mitmacht (verdrossenes Kopfschütteln). Es ist alles so undurchsichtig, dass du nicht wirklich weißt, was vor sich geht. Issa ist der Dritte in fünf Monaten.

Négar Djavadi – Die Arena, S. 293

Die Gangs der unterschiedlichen Stadtviertel bekriegen sich – und mitten hinein in diesen Konflikt wird auch Benjamin Grossmann gezogen. Dieser ist eigentlich ein erfolgreicher Jetsetter unter Dauerstress. Für die französische Produktionsplattform BeCurrent arbeitet er als französischer Lokalchef, betreut die Entwicklung neuer Serienformate (auch hier wieder der Anknüpfungspunkt zum Serienschreiber Balzac), fungiert als Mittler zwischen vielversprechenden Kreativen und seinen amerikanischen Chefs. Kurzum, Grossmann steht für eine echte Upperclass-Existenz zwischen Schickeria und Dauerstress.

Als ihm nun sein Handy geklaut wird, potenziert sich Grossmanns Stress noch einmal deutlich. Denn für seinen Job ist das Telefon eigentlich unerlässlich, weshalb er vor seinem Umfeld den Verlust des Mobiltelefons kaschiert. Einen Jungen, den er im Verdacht hat, sein Telefon gestohlen zu haben, stellt er in der Nacht des Verlustes noch zur Rede und schreckt bei der Konfrontation auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück.

Eine Debatte über Polizeigewalt

Négar Djavadi - Die Arena (Cover)

Als nun der vermeintliche Handydieb tot aufgefunden wird, ist Grossmann alarmiert. Doch statt ihn als Verdächtigen zu vernehmen, ist die Polizei erst einmal auf sich selbst konzentriert. Denn die Polizistin, die den toten Jungen entdeckte, hat sich zu einer Unüberlegtheit hinreißen lassen und dem Toten einen Tritt versetzt, ehe sie dessen Ableben feststellte. Dieser Tritt wurde gefilmt und verbreitet sich nun auf den sozialen Kanälen reißend schnell. Ein Shitstorm gegen die Polizei nimmt ihren Lauf, auf Twitter und Co. verbreitet sich das Video wie ein Flächenbrand und befeuert die Debatte um Polizeigewalt.

Populistische Talkshow-Gäste gießen zusätzlich noch ins Öl ins Feuer und sorgen schnell für eine Eskalation der Ereignisse, während Benjamin Grossmann hofft, sich dem Interesse in der Debatte entziehen zu können. Und das alles findet zur Hochzeit des Kampfs um das Bürgermeisteramt der Stadt Paris statt.

Von moderato bis furioso

Die Arena orientiert sich grundsätzlich an den eben schon erwähnten literarischen Vorbildern und erzählt immer wieder abwechselnd von ganz unterschiedlichen Figuren, darunter Polizist*innen, Migranten, Gangmitglieder, respektable Bürger*innen, Talkshow-Gäste, Geflüchtete und Politiker*innen. Djavadi begnügt sich aber nicht mit dem Ausfüllen der bekannten Romanstruktur, sondern entwickelt dieses Erzählkonzept weiter, indem sie den durch Twitter und einschlägige digitale Plattformen befeuerten Shitstorm anschaulich erzählt und auch Textnachrichten und Tweets in ihre Erzählung einbettet.

Gut gelingt Djavadi dabei auch zu zeigen, wie der Shitstorm in der digitalen Welt dann schließlich auf die reale Welt übergreift. Konsequent und plausibel demonstriert sie, wie die in der Gesellschaft beständig köchelnden Konflikte um die altbekannten Themenfelder (öffentliche Ausübung der eigenen Religion in einem laizistischen Staat, etc.) immer stärker befeuert werden und auch durch eine entsprechende mediale Begleitung schließlich im Straßenkampf enden (was auch an Ladi Lys Film Die Wütenden – Les Misérables aus dem Jahr 2019 erinnert).

Ganz folgerichtig ist ihr Roman innerhalb der beiden Erzählklammern Präludium und Postludium durch die inkrementalen musikalischen Bezeichnungen moderato, crescendo und furioso strukturiert, die auch stellvertretend für die öffentliche Meinung und das Erregungsniveau stehen. Diese Steigerung der Erregung und Gewalt ist eindrücklich gestaltet, wenngleich das Personenensemble das ein oder andere mal eine leichte Unwucht aufweist – angesichts der dahinterstehenden Fragen und der gesellschaftskritischen Analyse des Buchs fällt das allerdings nicht wirklich stark ins Gewicht, erzählt Négar Djavadi doch mit großem Anspruch und wagt sich an die Vermessung der gesamten französischen Gesellschaft.

Fazit

In Sachen bissiger und zeitkritischer Gesellschaftsromane sind uns die französischen Autor*innen weit voraus. Das beweist Michel Houellebecq, das beweist Karine Tuil und das zeigt nun auch Négar Djavadi auf beeindruckende Art und Weise. In ihrer Arena treffen unterschiedliche Milieus, Interessen und Persönlichkeiten aufeinander und ergeben ein düsteres Bild der französischen Gesellschaft.

Dass da etwas in unserem Nachbarland aus den Fugen gerät, illustriert die iranischstämmige Autorin und Filmemacherin eindrücklich und erweist sich damit als hellsichtige Diagnostikern bestehender Zustände. Mit Die Arena war sie den Ereignissen des französischen Wahlkampfs sogar um ganze zwei Jahre voraus.

Ein dichter, figurenreicher und sehr politischer Großstadtroman, der seinen großen Vorbildern gekonnt folgt und der trotzdem absolut zeitgemäß und eigenständig bleibt.


  • Négar Djavadi – Die Arena
  • Aus dem Französischen von Michaela Meßner
  • ISBN 978-3-406-79126-0 (C.H. Beck)
  • 463 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Francesca Reece – Ein französischer Sommer

Eine junge Engländerin, die sich etwas orientierungslos durch ihr Leben in Paris schlägt. Ein arrivierter Schriftsteller, der per Anzeige jemanden als Sekretär oder Sekretärin sucht, um über die Sommermonate hinweg seine Tagebücher zu sichten und zu ordnen. Und ein Aufeinandertreffen dieser beiden Figuren in der sommerlichen Hitze der französischen Südküste. Könnte im Klischee enden? Tut es tatsächlich nicht, denn Francesca Reeces Debüt Ein französischer Sommer erzählt von Lebenslügen, der Verdrängung der eigenen Vergangenheit und der Unbeschwertheit, die natürlich kein dauerhafter Zustand ist. Kein ganz rundes Debüt, aber ein passables Sommerbuch.


Leah ist eine Figur, wie sie sich auch Sally Rooney ausgedacht haben könnte. Mitte zwanzig lässt sich die junge Britin recht orientierungslos durch ihr Leben treiben, das sie nach Paris geführt hat. Ein Job im Szenecafé, viele Gespräche mit ihrer Freundin Emma, Partys, Alkohol, Sex und Streifzüge durch die Stadt. So sieht Leahs momentanes Leben aus, dem eine Anzeige im Pariser Stadtmagazin FUSAC die Wende bringt. Dort entdeckt sie folgende Annonce:

AUTOR SUCHT ASSISTENT/IN ZUR UNTERSTÜTZUNG BEI ARCHIVARBEIT/RECHERCHE FÜR NEUEN ROMAN.

Mit einem shaekspearischen oder klassischen Namen brauchen Sie sich nicht zu bewerben.

PARIS UND SÜDEN. TEILZEIT. MICHAEL: 01.14.24.60.86

Francesca Reece, Ein französischer Sommer, S. 12

Und obwohl das Telefonat zunächst nicht den gewünschten Erfolgt zeitigt, erhält Leah die Stelle über Umwege dann doch noch. Bei ihrem Arbeitgeber handelt es sich um den Literaten und Bohemien Michael Young.

Briten in Frankreich

Seine Stimme war Teil der genetischen Ausstattung der englischen Literaturlandschaft seit Ende der Siebziger gewesen, als sein erster Roman, Richards Fall, erschienen war. Bis ins neue Jahrtausend hinein hatte er am laufenden Band zynische moderne Klassiker produziert und genoss die Bewunderung des Establishments der alten Garde genauso wie er von den gebildeten Möchtegern-Rebellen geschätzt wurde, die sich im Filmklub Apocalypse Now anschauten und für David Foster Wallace die Abkürzung DFW benutzten.

Francesca Reece – Ein französischer Sommer, S. 42

Die Arbeit für den Autor, dessen letzter Roman irgendwann um die Jahrhundertwende herum erschien, führt Leah in das Sommerdomizil von Michaels Familie an der französischen Südküste. Dort sichtet Leah die Tagebücher, die sie tief in die umtriebige Persönlichkeit des Literaten eintauchen lassen. Und Michael spürt sein literarisches Talent wiederkehren, während Partys gegeben werden, Leah im Meer badet und die einheimische Bevölkerung näher kennenlernt. Doch ein Paradies ist auch Saint Luc natürlich nicht, denn in der Vergangenheit von Michael gibt es einige dunkle Schatten, die sich dort am Meer in jenem französischen Sommer nun Bahn brechen.

Zwei Erzähler, zwei Generationen, zwei Leben

Francesca Reece - Ein französischer Sommer (Cover)

Francesca Reeve hat einen Roman geschrieben, der abwechselnd aus der Perspektive von Leah und Michael erzählt ist. Neben dem Handlungsstrang der Gegenwart spielt auch die Vergangenheit in England eine wichtige Rolle. Während Leah die Tagebücher Michael Youngs sortiert und sichtet, lernt man in Rückblenden den jungen Michael kennen, der es in Sachen Orientierungslosigkeit und Umtriebigkeit durchaus mit der Leah der Gegenwart aufnehmen kann. Während sich in Saint Luc die Situation zuspitzt, erlebt man in den Erinnerungen Michaels noch einen weiteren prägenden Sommer, der dann allerdings in Griechenland statt in England oder Frankreich spielt.

Das Ganze erinnert in manchen Passagen (besonders den in Griechenland spielenden Episoden) an die jüngst erschienen Romane Sommer der Träumer von Polly Samson oder Lawrence Osbornes Welch schöne Tiere wir sind, nicht nur aufgrund des gleichen Schauplatzes, sondern auch aufgrund der Sezierung von Gruppendynamiken, Liebe und Täuschung in der sommerlichen Hitze.

Was Ein französischer Sommer dann im Vergleich zu diesen Titeln in meinen Augen etwas schwächer macht, ist das Gefühl, hier ein paar lose Erzählstränge zu lesen, die sich als Buch nicht ganz kompakt und überzeugend runden und etwas unverbunden nebeneinander stehen.

So gibt es die Einzelteile des jungen Slacker-Lebens von Leah im Stile von Sally Rooney, die Episoden vom Dolce-Vita-Leben an der Südküste im Sommerhaus der Familie und die Episoden aus Michaels Vergangenheit. Die Teile für sich sind gut gemacht, fügen sich aber nicht immer homogen ein oder passen in ihrem Ton und dem erzählten Inhalt nicht unbedingt immer zueinander. Hier zeigt sich Optimierungspotenzial für weitere Romane von Francesca Reece, die ihre Erzählstränge noch etwas sorgfältiger miteinander verknüpfen sollte, um ein einheitliches und überzeugendes Ganzes abzuliefern.

Fazit

Zwei Leben, zwei Generationen Exilbrit*innen und dazwischen viel Diskurse um Kultur und Schreiben. Sommern an der französischen Südküste, das süße Leben der Boheme und die Frage, wie viel Sein und wie viel Schein ist, das beschäftigt Francesca Reece in ihrem Debüt, das sich als passables Sommerbuch irgendwo zwischen Sally Rooney, Claire Fuller und Miranda Cowley-Heller einordnet.


  • Francesca Reece – Ein französischer Sommer
  • Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller und Tobias Schnettler
  • ISBN 978-3-10-397068-5 (S. Fischer)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen