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Didier Daeninckx – Tod auf Bewährung

Auf den kleinen Münchner Verlag Liebeskind ist Verlass. Egal ob Western, Klassiker, Krimi oder welthaltige Literatur aus Afrika oder Japan. Immer wieder gelingt es diesem Haus, spannende Perlen abseits des literarischen Mainstreams zu präsentieren. Dieses Buch macht dabei keine Ausnahme: Didier Daeninckx‚ Klassiker Le der des ders aus dem Jahr 1984, vor zehn Jahren in der Übersetzung von Stefan Linster als Tod auf Bewährung erschienen. Ein klarer Fall für #backlistlesen.

Wir befinden uns Anfang der Zwanziger Jahre in Paris. Der Große Krieg liegt zwar in der Vergangenheit, seine Auswirkungen sind aber immer noch überall zu spüren. Die Amerikaner bevölkern die Gassen von Montmatre bis Pigalle, viele Menschen tragen Traumata mit sich herum und der illegale Handel mit Waren aus Übersee boomt.

Ein Auftrag für René Griffon

Didier Daeninckx - Tod auf Bewährung (Cover)

Anfang Januar verheißt ein nächtlicher Anruf einen neuen Auftrag für René Griffon, der sich als Privatdetektiv im 19. Arrondissement verdingt. Er wird von einem ranghohen Militär angeheuert, der Untreue bei seiner Ehefrau vermutet. Ein absoluter Klassiker, der auf den ersten Fall wie leicht verdientes Geld für Griffon aussieht. Doch so einfach, wie sich der Fall zunächst darstellt – der bekennende Krimileser ahnt es längst – ist der Fall dann natürlich nicht. Seine Suche nach der Wahrheit hinter dem Fall führt ihn vom Anwesen des Colonels in Aulnay über die Kneipen von Pigalle bis zu einem Sanatorium in Villepinte. In seinem Packard Twin Six braust Griffon durch höchst unterschiedliche Orte rund um Paris, um Licht ins Dunkel dieses immer kompliziert werdenden Falles zu bringen. Hier scheint niemand mit offenen Karten zu spielen

Von der anfänglichen Untreue wächst sich der Fall zu einer Affäre aus, die zurück bis zu den Schlachtfeldern bei La Courtine führt. Dabei entfaltet Didier Daeninckx neben der Rahmenhandlung auch ein beeindruckendes Porträt von Paris mit seinen ganzen so unterschiedlichen Vorstädten. Vom industriellen Levallois bis nach Roissy en France, von Vergnügungsvierteln bis in das Sanatorium, das hier an das Batman’sche Arkham Asylum erinnert reicht der Bogen, den der Krimiautor spannt.

Bis zum bitteren Ende

Schön auch der Mut von Daeninckx, seine voranpreschende Geschichte bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Hier gibt es kein unpassendes Happy End, hier wird der Noir in seiner ganzen Düsternis durchexerziert. Dass die Farbe Schwarz dabei immer wieder als Leitmotiv auftaucht, das passt gut ins Bild.

So ist Tod auf Bewährung ein souverän mit den Themen und Motiven des Krimi Noir spielendes Buch, das einerseits als Hommage an ein (zumindest im Erscheinungsjahr 1984) nicht mehr wirklich populäres Genre funktioniert. Die Themen, die Figur von René Griffon als Privatdetektiv, das von halbseidenen Figuren bevölkerte Paris, alles das ist Noir Pur.

Dann hat das Buch neben seinem Willen zu Hommage andererseits aber auch selbst das Zeug zum zeitlosen Klassiker. Das Buch ist eine Vermessung von Paris in der Zwischenkriegszeit, ein klassischer (manchmal ja schon fast altmodischer) Krimi um einen Privatschnüffler und ein Porträt dessen, was ein Krieg mit einer Gesellschaft anstellen kann, souverän ausbalanciert durch Didier Daeninckx. Obwohl hier viele Zutaten zusammenfinden, ist das Ganze doch sehr stimmig ausbalanciert und darüber hinaus auch noch spannend. Schon ab dem Anruf, der Griffon aus seinem Trott reißt, besitzt Tod auf Bewährung einen mitreißenden Sog.

Fazit

Hervorragend, dass der Liebeskind-Verlag die Initiative gewagt hat, das Buch dem deutschen Lesepublikum zugänglich zu machen. Schade hingegen, dass das Interesse für Daeninckx‘ Krimi hierzulande eher verhalten geblieben ist. Obwohl er laut Verlagsangaben immerhin als einer der wichtigsten Kriminalschriftsteller Frankreichs gilt. Wer Tod auf Bewährung liest, wird dieser Einschätzung nicht widersprechen wollen. Ein kluges Spiel mit Genremotiven und ein überzeugender Krimi Noir aus Paris, der die Zeit der 20er Jahre schon lange vor Volker Kutscher und Co. als Spielfeld entdeckte.


  • Didier Daeninckx – Tod auf Bewährung
  • Aus dem Französischen von Stefan Linster
  • ISBN 978-3-935890-83-0 (Liebeskind)
  • 288 Seiten. Preis: 18,90
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Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber

Ein Roman wie ein Orgelkonzert. Von wuchtig brausend bis hin zu verspielten Passagen präsentiert Mathias Énard Literatur einer anderen Liga. Ein grenzen- und rahmensprengendes Werk, aufregend, fordernd und überwältigend. Eine Sinfonie der Sinne – ich bin begeistert.


Für seinen neuen Roman greift Mathias Enard so richtig in die Tasten. Sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber liegt eine umfangreiche Klaviatur von Stimmungen und Klängen zugrunde. Das ist am ehesten mit einer volltönenden und registerreichen Orgel zu vergleichen, auf der der Meister für seinen Roman in die Vollen geht und nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern – um im Bild zu bleiben – ein ganzes Konzert präsentiert, wie zumindest ich es schon lange nicht mehr gehört beziehungsweise gelesen habe.

Dabei beginnt alles noch ganz überschaubar mit der Exposition. Ein junger Ethnologe kommt in ein kleines Dorf im Westen Frankreichs in der Nähe von La Rochelle. Dort bezieht er Quartier – das er in Erinnerung an Claude-Levi Strauss Das Wilde Denken tauft. Sein Ziel ist es, für seine Promotion eine anthropologische Studie des Lebens auf dem Dorf anzufertigen. Nicht weniger als ein Standardwerk schwebt dem jungen Mann vor.

In Tagebucheinträgen lernen wir das Dorf namens La Pierre-Saint-Christophe kennen, das eine soziologische Struktur aufweist, wie sie auch vielen deutschen Dörfern gemein ist. Eine Kneipe als Gesellschaftsmittelpunkt, eine Kirche, ein paar Zugezogene, die nicht wirklich in die Dorfgemeinschaft integriert sind. Ihnen allen fühlt David Mazon, so der Name des jungen Forschers, mal mehr und mal weniger erfolgreich auf den Zahn. Seine Feldforschung beginnt, während er sich in seiner Behausung in einem Bauernhof mit zahlreichen Tieren einrichtet (unter anderem zwei Katzen, die er passenderweise Nigel und Barley tauft) Doch nach etwas mehr als einem Monat Tagebucheinträgen bricht dieser erste Teil des Buchs unvermittelt ab.

Ein Anthropologiestudent, Seelenwanderungen und ein Schweine-Priester

Ging es zuvor um das Leben dort im Dorf, wendet sich Enard in der Folge auch dem Sterben und dem ewigen Leben zu. Hierfür wechselt er die erzählerischen Register. Denn statt der Tagebucheinträgen David Mazons wählt er nun die auktoriale Erzählperspektive, aus der er auf das Dorf blickt. Er erzählt von den Dorfbewohner*innen und deren Sterben, das keineswegs das Ende des Lebens ist. Denn in Enards Welt Welt herrscht die Idee eines Bardo, auch genannt Seelenrad oder Transmigration. Der Tod führt hier stets zu einer Wiedergeburt der Dörfler*innen, die sich auch schon mal als Geziefer in David Mazons Badezimmer oder als mnemotechnisch begabter Automechaniker manifestieren können. Der skurrilste Fall ist sicherlich der des Dorfpfarrers Largeau, dessen Seele nach seinem Verscheiden in den Körper eines Wildschweins fährt. Ein klarer Fall eines Schweine-Priesters, könnte man sagen.

Mit solchen Einfällen ist Das Jahresbankett der Totengräber randvoll. Höhepunkt dieser sprudelnden Seelenwanderungsfantasien ist das Kapitel And we shall play a game of cards…, bei dem Enard in die Vollen geht. Vordergründig beschreibt er dabei zunächst graphisch und literarisch die waghalsien Zockerpartien im Dorfwirtshaus. Doch dabei bleibt es nicht. Er verknüpft diese Spielbereichte mit Schilderungen der Feldzüge Chlodwigs 507, Episoden um Heinrich von Navarra oder Napoleon Bonaparte. Das ist fantasievoll und in Sachen Erfindungsgabe und Ideenreichtum mehr als bemerkenswert. Schon lange ist mir kein Buch mehr untergekommen, das eine derart überbordende Schöpfungs- und Ideenkraft an den Tag legte. Das lässt sogar den vielgelobten und ähnlich waghalsigen Roman Lincoln im Bardo von George Saunders hinter sich. Aber auch die Sprachmacht Enards ist mehr als bestrickend.

Das Jahresbankett der Totengräber

Mathias Enard - Das Jahresbankett der Totengräber (Cover)

Das wird im Kernstück des Romans dann vollends offenbar. Dieses bildet das titelgebende Kapitel Das Jahresbankett der Totengräber. In ihm schildert Énard das rituelle jährliche Zusammentreffen der Totengräber, das in diesem Jahr vom lokalen Bestatter ausgerichtet wird, der auch als Bürgermeister des Dorfes fungiert. Während sich die Totengräber der Völlerei hingeben, steht das Rad des Sterbens still. Die Zeit scheint aufgehoben und der Tod hat Pause. So können sich die Totengräber, Sargkutscher und Leichenwäscher einem Schmaus hingeben, der alle Veganer*innen, Diabetiker*innen oder Weight Watchers um den Verstand bringen dürfte. Mit größter Freude schildert Enard die Orgie, bei der geschmaust und gezecht wird, das selbst die Saturnalien im alten Rom oder barocke Tafeleien daneben verblassen. Wie es ihm hier gelingt, die lukullischen Ausschreitungen und sinnlichen Grenzüberschreitungen erfahrbar zu machen, das ist größte literarische Kunst, die bleiben wird. Dessen bin ich mir sicher.

Während die Totengräber tafeln, werden Debatten geführt (sehr aktuell etwa die Debatte, ob Frauen auch zum Bankett zugelassen werden sollten) oder Erzählungen dargeboten. Mit diesen Erzählungen knüpft Enard an die Größen der französischen Literatur an. So ist es während des Jahresbanketts etwa die Sage von Gargantua und Pantagruel von Jean Rabelais, die Enard zitiert und interpretiert. Sein junger Anthropologe David Mazon liest in seinem Wilden Denken 1793 von Victor Hugo. Und nicht nur die beim Jahresbankett gereichten Meerestiere sind á la Dumas zubereitet. Auch einige Passagen im Buch selbst erinnern an den Großmeister der Mantel- und Degenromane. Hier wandelt Enard auf großen literarischen Spuren – kann aber angesichts seiner Sprachmacht, Ideenfülle und Fabulierlust im Konzert der Großen bestehen.

Eine nuancenreiche und bemerkenswerte Übersetzung

Die literarische Meisterschaft von Mathias Enard wird in diesem Kapitel genauso wie im Rest des Buchs offenbar. Dabei sollte man allerdings Eines nicht vergessen. Dass wir diese rauschhafte und so vielstimmige Literatur auch im Deutschen genießen können, hat einen, besser gesagt zwei Gründe. Diese hören auf die Namen Holger Fock und Sabine Müller. Ihnen ist das Kunststück gelungen, diesen Sprachrausch auch ins Deutsche zu übertragen.

Marcel Gendreau, der schriftstellernde Lehrer, wartete also ungeduldig auf die Kommentare von Honoratioren und Journalisten.

Die Reaktionen übertrafen seine Erwartungen bei Weitem.

Während der Bürgermeister die Mehrheit der Romanfiguren wiedererkannte und sich über einige Porträts gewaltig amüsierte, war das bei seiner Gattin weniger der Fall, die sich als gnadenlose Klatschbase beschrieben fand und teilweise für Louises Leiden verantwortlich gemacht wurde; sie beklagte sich sofort bei ihrem Mann darüber und forderte entweder das Einstampfen des Werks oder zumindest eine komplette Neufassung, was den Ädilen in Bedrängnis brachte.

Der Tierarzt erkannte in dem Roman nur die Frau des Ädilen, aber das genügte zunächst, um ihn im höchsten Maße zu belustigen, bis die Jeremiaden der Frau Bürgermeister aus Solidarität ein Echo bei seiner eigenen Lebengefährtin fanden und er ebenfalls in Bedrängnis kam.

Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber, S. 165

Jeremiaden, Klatschbase, Ädile oder auch Wortschönheiten wie Schnabulieren, die sich im Text finden. Ganze Gedichte, die übertragen wurden. Kulinarische Beschreibungsexzesse, Gerichtsverhandlungen mit Zeuginnen, die einen unverständlichen Dialekt sprechen: Die sprachliche Fülle, die die beiden Übersetzer*innen für Enards Wortrausch finden, ist überzeugend. So gelingt es ihnen auch kreativ, den Abschluss des Jahresbanketts ins Deutsche übertragen. Hier muss jeder Totengräber eine Formulierung fürs Sterben finden. Was die beiden Übersetzer*innen daraus gemacht haben, das ist aller Ehren wert. Man kann dieses Buch in meinen Augen nicht rühmen, ohne die Übersetzungsleistung bei diesem Buch auch in den Blick zu nehmen.

Fazit

Das Jahresbankett der Totengräber ist wahrlich ein literarisches Konzert. Überbordend und donnerend wie eine Sinfonie aus der Feder von Bruckner oder Strauss. Verspielt, experimentell, mal schnell, mal verträumt, mal historisierend, mal romantisierend. Das alles ist dieses Enard’sche Werk. Das Buch weist eine Fülle an Themen und Leitmotiven auf, die sich zwischen den einzelnen Kapiteln hindurchschlängeln. Immer wieder unterbrechen kleine Zwischenspiele in Form der Chansons das Buch und geben ihm Struktur.

Mag manch einer auch einen fehlenden Fokus oder die (nur scheinbar) disparaten Teile des Buchs kritisieren, so greifen für mich diese Kritikpunkte nicht. Enard gelingt in seinem Buch ein schier berstendes Poträt eines Landstrichs und seiner Bewohner*innen, das man in dieser überbordenden barocken Fülle so lange nicht mehr gelesen hat. Zudem ist das Buch sinnig durch das Leitmotiv von Leben und Sterben durchkomponiert.

Oder um es etwas bündiger zu sagen: Die Lust am Geschichtenerfinden ist überzeugend, die Themen decken eine große inhaltliche und zeitliche Breite ab, der Anspruch ist angenehm fordernd. Zudem ist das Buch ein großer Sprachrausch, der ebenso überzeugend übersetzt wurde. Große Literatur, die bleiben wird!


  • Mathias Énard – Das Jahresbankett der Totengräber
  • Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
  • ISBN 978-3-446-26934-7 (Hanser)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Sorj Chalandon – Wilde Freude

Von einer niederschmetternden Diagnose, einem riskanten Plan und einer Frauenfreundschaft erzählt der französische Schriftsteller Sorj Chalandon in seinem neuen Roman „Wilde Freude“ (Originaltitel „Une Joie féroce“, Deutsch von Brigitte Große).


Es ist eine Diagnose, die ein ganzes Leben auf links dreht. Bei einer Untersuchung stellt der Arzt der Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Krebs. Eine Chemotherapie muss schnellstmöglich begonnen werden. Nicht nur ihr Körper wird dabei an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Auch die Beziehung zu ihrem Partner überlebt diese Diagnose nicht. Schon einmal stand die Beziehung kurz vor ihrem Ende, als das gemeinsame Kind starb. Und nun ist die Partnerschaft mit Jeannes Mann endgültig an ihrem Ende angekommen.

Sorj Chalandon - Wilde Freude (Cover)

Allerdings findet die Buchhändlerin schon bald eine andere Form der zwischenmenschlichen Beziehung. Bei der Chemotherapie macht sie die Bekanntschaft mit drei Frauen. Da sind Brigitte und Assia, die in einer luxuriösen Pariser Wohnung zusammenleben. Die dritte im Bunde ist Eva, deren Schicksal auch Jeanne eingedenk der eigenen Biographie sehr anrührt. So hat Evas Partner ihr gemeinsames Kind entführt. Er verlangt von ihr eine Auslöse von 100.000 Euro, damit sie ihr Kind wieder in die Arme schließen kann.

Doch woher sollte man 100.000 Euro bekommen? Die vier Frauen schmieden einen riskanten Plan. Und plötzlich gibt es eine eigene französische Version von Thelma & Louise, diesmal allerdings zu viert.

Zwischen Krebsdiagnose und Polar noir

Es ist eine außergewöhnliche Mischung, die den Reiz von Wilde Freude ausmacht. So kombiniert Sorj Chalandon in diesem Roman ein Frauenschicksal mit Elementen aus dem Polar-Noir á la Jean-Patrick Manchette und einem klassischen Heist-Roman. Der Roman oszilliert zwischen Mitgefühl für Jeannes Schicksal und der Spannung eines geplanten Raubüberfalls. Wie es Chalandon hier schafft, bei einer Laufzeit von gerade einmal 288 Seiten diese Elemente glaubhaft zu verquicken und auch noch einen überraschenden Twist einzubauen, das ist beeindruckend.

Toll, wie er auf wenigen Seiten das Schicksal von Jeanne, ihre Zweifel und Kämpfe und Belastungsproben schildert. Bei diesem Roman komme ich zum selben Urteil, die am 9. August des letzten Jahres die vier Kritiker*innen des damaligen Literarischen Quartetts fällten. So rühmten sie die Fähigkeit Chalandons, Charaktere im Spannungsfeld von Gut und Böse zu zeichnen, mitreißend zu erzählen und Anteilnahme für die Figuren zu erwecken. Das 4:0 vom damals besprochenen Am Tag davor würde man Chalandon auch in diesem Falle wieder wünschen. Denn wie er in die Haut seiner Heldin schlüpft, Spannung serviert, die Leben der vier Frauen skizziert und überrascht, das hat Klasse.

Hier schreibt ein wirklicher Könner (der ebenso könnerhaft von Brigitte Große übersetzt wurde)!


  • Sorj Chalandon – Wilde Freude
  • Aus dem Französischen von Brigitte Große
  • ISBN 978-3-423-28237-6 (dtv-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 288 Seiten

Bild Sorj Chalandon: Par S. Veyrié — Travail personnel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17536422

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Karine Tuil – Menschliche Dinge

Eine Familie, die auseinanderfliegt. Eine mögliche Vergewaltigung, ein Prozess. Karine Tuil betrachtet in ihrem neuen Roman Menschliche Dinge und blickt tief hinein in die Abgründe von Macht und Machtmissbrauch. Ein höchst aktuelles Buch, gesellschaftliche relevant und doch mit einem Schluss, der mich unzufrieden zurückließ.


Die Französin Karine Tuil ist eine Spezialistin, was das Durchleuchten von Gesellschaften im Kleinen angeht. Meist beschränkt sie ihre Erzählungen auf ein kleines Ensemble von Figuren, in deren Konflikten und Problemen allerdings die Sollbruchstellen unserer modernen Gesellschaft offenbar werden. In ihren beiden Roman Die Gierigen und Die Zeit der Ruhelosen war das schon so. Und in Menschliche Dinge ist das nicht anders.

Karine Tuil - Menschliche Dinge (Cover)

Sie erzählt diesmal von einer Familie, die auf den ersten Blick alles hat. Er, Jean Farel, scheinbar soignierter und gnadenloser Interviewer, der sie in seiner Sendung schon alle hatte: Präsidenten, Entscheider, Wirtschaftsbosse. Und nun soll ihm auch noch der Verdienstorden der Ehrenlegion verliehen werden. Seine Frau, Claire, deutlich jünger, als meinungsstarke Leitartiklerin erfolgreich und in eine wilden Affäre mit einem jüdischen Lehrer verstrickt. Und schließlich ihr Sohn, Alexandre, ausgezeichneter Absolvent von Eliteschulen, nun ein Engagement bei Google anstrebend.

Doch so arriviert, mächtig und gut vernetzt sie alle auch sein mögen – sorgenfrei sind sie deswegen keinesfalls. Jean gilt bei seinem Sender als Auslaufmodell und alter, weißer Mann von vorgestern. Claire droht sich in ihrer Affäre zu verlieren. Und Alexandre löst im sinnentleerten Alkohol- und Drogenrausch auf einer Party eine folgenschwere Katastrophe aus, die seine Familie noch weiter entzweien wird, als es ohnehin schon der Fall ist.

Macht und Machmissbrauch

Aus Sicht ihrer drei Hauptfiguren, der Familie Farel, schildert Karine Tuil zunächst deren Leben, ehe die zweite Hälfte des Romans dann ihren Ausgang in der von Alexandre ausgelösten Katastrophe nimmt. Auf einer Fete soll er die Tochter von Claires Affäre vergewaltigt haben. Für ihn war alles nur ein Partyspiel, für Alexandres Opfer eine klare Vergewaltigung.

Die verschiedenen Sichtweisen auf Alexandre und seine Tat werden im folgenden, ausführlich geschilderten Prozess offenbar. Durch diesen Prozess wirft Karine Tuil auch einen klaren Blick auf den Komplex von Macht und Machtmissbrauch. Ist Alexandre ein skrupelloser Vergewaltiger, der aufgrund seiner Stellung kein Nein akzeptieren kann? Oder hat die #metoo-Bewegung zu einer Überempfindlichkeit in Sachen sexualisierter Gewalt und Gleichstellung gesorgt? Die Figuren in Menschliche Dinge haben da ganz unterschiedliche Ansichten, die alle ihren Raum bekommen. Die Anhörungen und Plädoyers arbeiten diese sehr deutlich heraus. Hier kann Karine Tuil auch ihre Herkunft als Juristin nicht verhehlen.

Die destruktive Macht des Sex

Im Gegensatz zu anderen Büchern, wie etwa Bettina Wilperts nichts, was uns passiert, blickt Karine Tuil allerdings über das Thema der Vergewaltigung und die Suche nach der Wahrheit hinaus. Die gesellschaftliche Analyse infolge der #metoo-Bewegung und der Umgang von Eliten untereinander sind ihre Themen. Genauso spielt auch der Sex und seine destruktive Rolle zwischen den Geschlechtern eine Rolle. Nicht von ungefähr lautet der erste Satz des Buchs:

Sex war unbestreitbar der wirksamste Brandbeschleuniger, löste das ultimative Inferno aus – Schluss mit der Maskerade: das hatte Claire Farel verstanden, als sie mit neun Jahren den Zerfall ihrer Familie miterlebte, weil ihre Mutter der magnetischen Anziehungskraft eines Medizinprofessors verfallen war, den sie auf einem Kongress kennengelernt hatte; sie hatte es es verstanden, als sie, schon im Beruf, zusah, wie Personen des öffentlichen Lebens in kürzester Zeit alles verloren, was sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten: Position, Ruf, Familie – gesellschaftliche Strukturen, die nur unter großen Mühen und mit Zugeständnissen-Lügen-Versprechungen, der Dreieinigkeit der haltbaren Ehe, stabil geblieben waren, sie hatte erlebt, wie sich die klügsten Vertreter der politischen Klasse für lange Zeit, manchmal sogar für immer, ins Aus beförderten, für nichts als ein flüchtiges Abenteuer, das Ausagieren einer Fantasie, den unbezwingbaren Drang des sexuellen Begehrens – alles, sofort.

Tuil, Karine: Menschliche Dinge, S. 11

Eine schwierige Conclusio

Das ist zweifelsohne gesellschaftlich höchst relevant. Doch auch wenn das Buch nach den Silvesterereignissen von Köln einsetzt, eine Linie von der Affäre um Bill Clinton bis hin zu Harvey Weinstein zieht und intellektuell auf der Höhe der Zeit agiert: der Schluss von Menschliche Dinge enttäuschte mich doch sehr.

Die Conclusio dieses Romans driftet für mich sehr unangenehme Richtung á la Svenia Flaßpöhlers Die potente Frau ab. Ohne zuviel vorwegzunehmen ist es am Ende eine App namens Loving, die sich in der Zukunft großer Beliebtheit erfreut. Die vom normalen Dating und Zwischenmenschlichen verunsicherte Menschen können für sich hier dann einen virtuellen Kontakt anbahnen, der genau ihren Wünschen und Vorlieben entspricht.

Dieser Epilog bedient für mich in der Konsequenz dann wieder dieses alberne Narrativ, dass #metoo den ganzen Flirt, das Spiel mit den Erwartungen und letzten Endes sogar die Erotik getötet habe. War das Buch zuvor wirklich nuanciert und ließ verschiedene Sichtweisen nebeneinander stehen, so ist es dieser Schluss eben nicht.

Ein enttäuschendes und plattes Ende für einen zuvor umso überzeugenderen Roman. Da nützt auch sämtliches Zitieren von Simone de Beauvoir, Georges Bataille, Martin Buber und Susan Sontag zuvor wenig.

Fazit

Menschliche Dinge ist ein Buch, das Debatten auslösen könnte. Eines, das dahingeht, wo es wehtut. Das eine Pluralität von Sichtweisen zulässt und das dadurch auch nicht jedem oder jede gefallen wird. Das Buch ist auch die Analyse einer Gesellschaft, die durchaus mit Widersprüchen behaftet ist. Und nicht zuletzt ist Menschliche Dinge ein Innenbericht aus der Welt der Eliten, die eben doch nicht so heil ist, wie man es gemeinhin annehmen könnte.


  • Karine Tuil – Menschliche Dinge
  • Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
  • ISBN: 978-3-5461-0002-1 (Claassen)
  • 384 Seiten, 22,00 €
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Jean-Baptiste del Amo – Tierreich

Und der HERR redete mit Mose und Aaron und sprach zu ihnen: Redet mit den Kindern Israel und sprecht: Das sind die Tiere, die ihr essen sollt unter allen Tieren auf Erden. Alles, was die Klauen spaltet und wiederkäut unter den Tieren, das sollt ihr essen. Was aber wiederkäut und hat Klauen und spaltet sie doch nicht, wie das Kamel, das ist euch unrein, und ihr sollt’s nicht essen. Die Kaninchen wiederkäuen wohl, aber sie spalten die Klauen nicht; darum sind sie unrein. Der Hase wiederkäut auch, aber er spaltet die Klauen nicht; darum ist er euch unrein. Und ein Schwein spaltet wohl die Klauen, aber es wiederkäut nicht; darum soll’s euch unrein sein. Von dieser Fleisch sollt ihr nicht essen noch ihr Aas anrühren; denn sie sind euch unrein.

3. Buch Mose, Kapitel 11

Das Schwein als unreines Tier – sucht man die Ursprünge dieses Mythos, dann wird man im Alten Testament fündig. Bis heute hält sich dieses Bild, und das in mannigfaltiger Hinsicht. Sowohl in religiöser als auch in äußerlicher Hinsicht gilt vielen das Schwein als schmutzig. Es riecht stark, wälzt sich im Schlamm, verzehrt alles, was ihm vor den Rüssel kommt. Dass Schweine zu den intelligentesten Tieren im Tierreich zählen, das fällt dabei oft unter den Tisch.

Vom ambivalenten Verhältnis von Mensch und Tier erzählt auch der Franzose Jean-Baptiste del Amo in seinem Roman Tierreich (erschienen bei Matthes& Seitz). Er setzt fünf Generationen gascognischer Schweinezüchter in den Mittelpunkt seines Romans. Diese bewirtschaften zunächst einen kleinen Pachtbetrieb in Puy-Larroque, einem Dorf am Fuß der Pyrenäen. Doch schon bald geht das 19. Jahrhundert und damit das Zeitalter der Industrialisierung zuende. Doch nun setzt eine andere Industralisierung ein – die des Fleischs.

Von Schweinen und Menschen

Eindrucksvoll gelingt es Del Amo in seinem Buch aufzuzeigen, wie sich der Hunger nach Fleisch innerhalb nur weniger Generationen und Jahre exponentiell steigert. Setzt die erste Generation der Gascogner Bauern noch auf eine Co-Existenz mit dem Schwein, so wird am Ende des Buchs im Jahr 1981 eine schon fast pervers übersteigerte Schweinezuchtanlage stehen, in der die Tiere im Tagestakt werfen und zur Schlachtbank geführt werden.

Die Sublimation des Schweins vom bäuerlichen Nutztier bis hin zur reinen Mäst- und Schlachtmasse, das ist ein Thema, das in Tierreich grandios und ebenso erschütternd inszeniert wird.

Ebenso eindrucksvoll ist die Milieustudie eines Bauernhofs über die Zeit hinweg, die Del Amo mit höchster Akribie betreibt. Beginnend im Jahr 1898 zeigt er die Lebensverhältnisse der Bauern, das dörfliche Leben, das harte Ringen ums Überleben. Die Bewirtschaftung der eigenen Scholle, den kalten und effizienten Umgang der Menschen untereinander, der höchstens etwas Raum für Bigotterie lässt – all das liest sich unheimlich dicht und bildstark. Die Vorstudien für Del Amos Buch müssen von größter Genauigkeit und Detailverliebtheit gewesen sein. Anders ist dieses gekonnte Einfühlen in alle Lebensverhältnisse nicht zu erklären.

Die engen und düsteren Bauernstuben, den Wahnsinn des Schlachthauses 1. Weltkrieg, die industrialisierten Mastanlagen – stets findet der Franzose (Jahrgang 1981) Bilder, die sich einprägen und die den oder die Leser*in sicher nicht mehr so schnell loslassen. Del Amo verzichtet auf jede Art von Weichzeichner – was teilweise schwer erträglich ist, aber genau deswegen auch so gut ist.

An der Grenze des Erträglichen – und deshalb so gut

Menschen, die äußere Schönheit mit ästhetischer Schönheit gleichsetzen (oder verwechseln, wie ich meine), die dürften mit diesem Buch garantiert nicht glücklich werden. Zwar gelingt es Del Amo meisterhaft, gerade in der ersten Hälfte bis hin zum Ersten Weltkrieg, eine Natur zu schildern, die man in dieser Benennungsstärke und Dichte kaum in anderen Büchern findet. Doch damit erschlägt man eben nur einen Teil des Buchs.

Denn das entschleunigte Leben gerade vor dem Weltkrieg, es hält auch jede Menge Schmutz, Derbheit und Obszönität bereit. Konsequent naturalistisch schildert der Franzose all das, was bei uns als tabuisiert gilt – egal ob bei Tier oder Mensch. Das Sterben, Ausscheidungen, sexuelle Gelüste bei Mensch und Tier, Triebe und Abgründe – all das ist in Tierreich bis hart an die Grenze des Erträglichen (und manchmal auch darüber hinaus) ausgeführt. Da wird beschrieben, wie der Leichensaft einer aufgebahrten Leiche das Holzbett durchsickert, wie eine Mutter eine Fehlgeburt den Schweinen zum Fraß vorwirft und dergleichen mehr. Das lässt oftmals schlucken, auch wenn man ahnt, wie es in vergangen Zeit zugegangen sein muss.

Dass das alles noch vor dem Ersten Weltkrieg passiert und wir dann noch einen Sprung ins Jahr 1981 vor uns haben, lässt dann schon ahnen, dass hier konsequenterweise auch nicht alles schöner oder besser werden wird.

Um es auf eine griffige Formel zu bringen: Jean-Baptiste del Amo schaut nicht weg, sondern eben genau hin. Unbarmherzig hält er seine Blick auf die Dinge gerichtet, auch wenn diese teilweise schwer erträglich sind. Die Unreinheit und Schmutzigkeit, die ja dem Schwein attributiert wird, sie ist hier konsequenterweise allgegenwärtig. Schweinisch eben.

Und das erwarte ich auch von guter Literatur, die nicht gefallen will, sondern unangepasst und unbequem ist. Sie soll mir Dinge zu zeigen, die nicht in meiner Komfortzone liegen, sondern die mich auch herausfordern und Dinge überdenken lassen, auch eben in ästhetischer Hinsicht.

Ein Feuerwerk der Sprache und Übersetzungskunst

Dass all diese oben beschriebenen Grausamkeiten und letzten Ende auch das ganze Buch dennoch so eindrücklich und genau sind, das hat auch einen ganz bestimmten Grund: die Sprache des jungen Franzosen, die bei ihm ein Instrument von größter Präzision ist. Ich kann mich an kein Buch in zurückliegender Zeit erinnern, das für alle Milieus, Zeiten und Ereignisse so einen guten sprachlichen Zugriff gefunden hat. Dass dem so ist, ist in genauso großem Maße natürlich auch der Übersetzerin Karin Uttendöfer zuzuschreiben. Wie sie den Sound und das teilweise hochspezielle bäuerlichen Sprachgewebe zu durchdringen vermag, das ist große Übersetzungskunst. Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung war und ist da mehr als nur angemessen.


Ein Buch, das zugleich schweinisch und saustark ist. Eines, das ein sprachliches Kunstwerk ist. Und eines, das die Beziehung von Schwein und Mensch neu sehen lässt. All das ist Tierreich von Jean-Baptiste del Amo.

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