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Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter

Bücher, die das Spannungsverhältnis von Müttern und Töchtern beschreiben, gibt es wie Sand am Meer. Vigdis Hjorth hat nun auch noch eines geschrieben. Und trotz der bekannten Konfliktlinien und dem überschaubaren Handlungsrahmen gelingt ihr mit Die Wahrheiten meiner Mutter ein Buch, das von Beginn an vibriert und mit seiner geradezu schmerzhaft bohrenden Introspektive überzeugt.


Eines Abends habe ich Mutter angerufen. Es war Frühling, das weiß ich, denn am nächsten Tag machte ich mit Fred einen Spaziergang um Borøya herum, und es war warm genug für ein Picknick auf der Bank am Osesund.

Wegen des Anrufs hatte ich in der Nacht davor fast nicht geschlafen, und ich war froh, am Morgen jemanden zu sehen, und dass dieser Jemand Fred war, ich zitterte noch immer. Ich schämte mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstoßen. Mutter ging nicht ans Telefon. Ich hörte, wie sie mich sofort wegdrückte. Und trotzdem rief ich wieder an. Warum? Ich weiß es nicht. Worauf hoffte ich? Ich weiß es nicht. Und warum schämte ich mich?

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter, S. 7

So hebt Vigdis Hjorths erster bei S. Fischer erscheinende Roman an, der von Gabriele Haefs aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzte wurde. Es sind schmerzliche Zeilen, die den ganzen Grundkonflikt des Folgenden schon in sich tragen. Denn die Ich-Erzählerin Johanna hat sich von ihrer Familie entfremdet und diese auch von ihr.

Sie, die als Künstlerin international für Aufsehen sorgte, mit ihrer Kunst aber auch die Beziehung zu ihrer Familie beschädigt, sie ist nun zurückgekehrt in ihre norwegische Heimat. Dort versucht die inzwischen 60-Jährige nun nach Jahren des Schweigens, nach dem Tod ihres Vaters und ihres Ehemannes in einem zunehmend verzweifelter werdenden Akt wieder Kontakt mit ihrer Mutter aufzunehmen und an Vergangenes anzuknüpfen.

Viele Fragen, keine Antworten

Was für die Künstlerin zunächst noch ein großer Akt der Selbstüberwindung war, führt durch die Weigerung ihrer Mutter und ihrer Schwester, die Kontaktversuche zu beantworten, ebenso zu Verbitterung wie auch einer gnadenlosen Selbstbefragung.

Vigdis Hjorth - Die Wahrheiten meiner Mutter (Cover)

Als Leser*innen sind wir ganz nah an Johannas Gedanken dran und erleben mit, wie sie im Versuch einer Kontaktaufnahme zu ihrer Mutter schon fast obsessive Stalkerqualitäten entwickelt. Zudem nimmt uns die Künstlerin mit weit zurück in ihre eigene Biografie, in der sie immer wieder die Schmerzpunkte und Bruchlinien betastet in dem Versuch, das aktuelle Verhalten ihrer eigenen Familie zu verstehen und den Prozess der Entfremdung aufzuarbeiten.

Dabei sind es auch manchmal nur einzelne Gedankensplitter, die auf einer Seite aufblitzen, dann wieder Bohrungen in der Vergangenheit und Reflexionen über das eigene innerfamiliäre Verhältnisse, Ibsen-, Faulkner- und Handke-Zitate inklusive.

Alle Kinder sind abhängig von ihrer Mutter und sind ihr gegenüber deshalb immer verletzlich, körperlich und seelisch, aus diesem Grund haben wir Müttern gegenüber ambivalente Gefühle, und aus diesem Grund tauchen in Wohlfühlfilmen auch so selten Mütter auf. Die Mutterfigur weckt zu komplizierte Gefühle, um sich wohl zu fühlen.

Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter, S. 326

Von großer introspektivischer Wucht

Mag auch vordergründig wenig auf den vierhundert Seiten dieses Romans passieren, so hat das Ganze doch eine enorme introspektivische Wucht und Gnadenlosigkeit, mit der Johanna in ihr Seelenleben blickt und sich auch nicht davor scheut, in ihrem Willen zu einem neuen Miteinander Grenzen zu überschreiten – und dies auch zu zeigen. Alles hier vibriert vor Anspannung, zeigt Vigdis Hjorth doch ungeschönt eine Frau voller Verzweiflung, nervöser Energie und Wucht.

Dies verleiht dem Roman seine überzeugende Qualität und sorgt für ein stetes Spannungsfeld, das den Text trägt. Zu bemängeln ist in dieser Hinsicht nur, das die deutsche Version von Hjorths Buch mit dem unscheinbaren Titel weit weg ist von der Drastik des norwegischen Originals. Er mor død, zu Deutsch Ist Mutter tot, das trifft den Charakter von Vigdis Hjorths Buch doch weitaus besser, ist ihm doch das Fragende, das hier alles prägt, eindrücklich eingeschrieben.

Fazit

So oder so, dieses Buch ist eine Wucht, bohrt nach, zeigt die Verzweiflung einer heimgekehrten Tochter, die erst lernen muss, mit einem Verlust umzugehen, dabei Grenzen überschreitet, vor allem aber sich selbst erforscht und ergründet und damit überzeugt. Die Qualität, sie liegt in diesem Text offen und ist eine im Gegensatz zu den Einsichten dieses Buchs eine Wahrheit, die nicht schmerzt, sondern beglückt!


  • Vigdis Hjorth – Die Wahrheiten meienr Mutter
  • Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
  • ISBN 978-3-10-397512-3 (S. Fischer)
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €
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Nicola Kabel – Kleine Freiheit

Ein Vater und seine Tochter. Er: Alt-68er mit Pferdeschwanz und Gemeinschaftshaus im Périgord. Sie: Juristin mit Familienhaus im Grünen. Ihre unterschiedlichen Lebensmodelle, Ansichten und Widersprüche seziert Nicola Kabel in ihrem Debüt Kleine Freiheit.


Es ist ein Schreckgespenst, das den Frieden im kleinen Dorf bedroht, in dem sich die Richterin Saskia mit ihrer Familie niedergelassen hat. Dieses Schreckgespenst trägt den Namen Windpark. Ein solcher soll in der Nähe des Dorfs entstehen – und die Anwohner gehen auf die Barrikaden. Infraschall, geschredderte Zugvögel, Verlust der Attraktivität der Landschaft – all das sind Argumente, die die Dorfbewohner umtreiben. Ihre Hoffnung im Widerstand gegen das Projekt setzten sie auch auf Saskia. Schließlich ist sie Juristin, kennt sich mit Verfahren und Einsprüchen aus.

Nicola Kabel - Kleine Freiheit (Cover)

Mit Widerstand und Verfahren kennt sich auch Hans aus. Er rebellierte einst gegen das Elternhaus, zog aus, fand in einer Kommune Anschluss. Er kämpfte gegen das System, gegen das Toschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus und versuchte eigene Ideale durchzusetzen. Und bei allem Wunsch nach der Rebellion gegen das Establishment und all ihre starren Regeln – am Ende veränderte nicht Hans das System, sondern das System ihn.

Alleinerziehend fand er sich nach dem Weggang seiner Frau mit seinen beiden Töchtern Saskia und Sophie wieder. Seine Mandate von Protestlern und Widerständlern tauschte er schon bald gegen den Dienst in einer großen Kanzlei. Die Zeit und das Leben schliff seine jugendlichen Ideale. Aus den Kommunen und dem wilden Leben wurde ein kleines renoviertes Steinhaus im Périgord. Aus dem wilden Liebesleben und den unübersichtlichen Beziehungsverhältnissen wurde eine Liaison mit der Französin Céline. Und trotz (oder vielleicht wegen) seines turbulenten Lebens fehlt Hans nun im fortgeschrittenen Alter ein Fixpunkt im Leben. Die Bindung zu seinen Töchtern ist alles andere als stabil. So beschließt er, seine Tochter Saskia in der norddeutschen Provinz zu besuchen. Während diese im Kampf gegen den Windpark die Bekanntschaft eines deutlich mehr als konservativen Herren namens Joachim von Wedekamp macht, macht sich Hans auf den Weg in die Provinz zu seiner Tochter.

Widerstände und Anpassungen

Im Gegensatz zum thematisch ähnlich gelagerten Roman Unterleuten von Juli Zeh ist es bei Nicola Kabel etwas anderes, das sie in ihrem Buch interessiert. Sie konzentriert sich in ihrem Debüt auf die beiden Hauptfiguren Hans und Saskia, von denen sie zumeist abwechselnd erzählt. Dabei verschränkt sie kunstvoll Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander. Die Rahmenhandlung der Gegenwart unterbricht sie häufig, um vom Werdegang der beiden zu erzählen. Immer wieder schneidet sie auch mehrfach Rückblenden in die Rahmenhandlung der Kapitel. Ihre Sozialisation, ihre Ideale, die Anpassungen, die das Leben den beiden unterschiedlichen Figuren abfordert, all das sind Themen, die Nicola Kabel interessieren.

Die Frage nach Widerstand und Anpassung ist in Kleine Freiheit eine zentrale. Immer wieder kreist Nicola Kabel um diese Themen, vergleicht diese in den Leben von Vater und Tochter. Sie tut das mit knappen, aber sehr präzisen Worte. Sie versteht es, Verständnis für Hans und Saskia zu wecken, ihr Handeln und ihre Ansichten plausibel darzustellen.

Gegen diese Plastizität fallen die anderen Figuren deutlich ab. Ihr neurechter Herr von Wedekamp oder Saskias Mann Christian bleiben im Vergleich zu den kräftig gezeichneten Hauptfiguren blass und sind schnell wieder vergessen. Auch die Handlung des Buchs selbst verliert gegenüber den fein nuancierten Figurenporträts . So ist das schon das Schreckgespenst des Windparks eines, das gegenwärtig kaum mehr großes Bedrohungspotenzial besitzt. Die im Buch thematisierten Ängste und Bedrohungen waren vielleicht vor einigen Jahren noch akut. Inzwischen hat das politische Handeln der Windkraft ja mehr oder weniger die Handlungsgrundlage entzogen.

Der Verlust des erzählerischen Fadens

Auch verpufft der Clash zwischen Vater und Tochter, auf den das Buch hinarbeitet, dann doch recht unspektakulär. Beim weihnachtlichen Gansessen fliegen die Fetzen, damit hat es sich dann aber schon wieder. Beide Figuren fliehen wieder in ihre gewohnten Umgebungen und Verhaltensmuster, ein tiefschürfenderer Erkenntnisgewinn oder eine neue Stoßrichtung für die Handlung bleibt aus. Die rechtsgerichteten Ansichten Saskias interagieren nicht mit den linksgerichteten ihres Vaters – stehen damit aber auch symbolisch für unsere Gesellschaft, die das Streiten verlernt hat.

Leider verliert Nicola Kabel nach diesem Aufeinanderprall dann aber auch etwas den erzählerischen Faden. Hier finden dann – Achtung Spoiler – zahlreiche Themen wie Krebsdiagnose, Kinderwunsch, außereheliches Begehren und Tod in die Handlung. Diese dramatische Überfrachtung steht in Kontrast zu dem zuvor so ruhig und entschieden aufgebauten Setting.

Symbolisch ist hier für mich, dass plötzlich auch Saskias Ehemann Christian ein Kapitel erhält, in dem plötzlich aus seiner Sicht erzählt wird. So ganz mag das für mich erzählerisch nicht aufgehen. Auch löst sich manches dann allzu leicht auf, etwa wenn sich Herr Wedekamp einfach aus der Handlung davonschleicht. Manches Angerissene bleibt etwas in der Luft hängen und wird zumindest für mein Empfinden nicht souverän aufgelöst. Für mich drängte sich der Eindruck auf, dass nach der starken ersten Hälfte dem Erzählen im zweiten Teil dann etwas die Luft ausgeht.

Fazit

So bleibt Kleine Freiheit für mich ein Buch, dessen Handlung klar hinter der Figurengestaltung zurückbleibt und das manchmal etwas den Fokus verliert. Festzuhalten ist aber auch, dass mit Nicola Kabel eine Erzählerin hier ein Werk vorlegt, das vor allem auf Figurenebene und Erzählebene erstaunlich fein ausgearbeitet ist. Die ehemalige dpa-Redakteurin zeigt sich sehr versiert in der Kunst der plastischen Figurenbeschreibung mithilfe unterschiedlicher gestalterischer Mittel. Sie beobachtet genau, beschreibt treffsicher, schildert ihre Milieus glaubhaft und weckt Empathie sowohl für Hans als auch für Saskia. Das ist in seiner literarischen Ausarbeitung wirklich überzeugend, weshalb ich Kleine Freiheit trotz der von mir ausgemachten Mängel gerne empfehle. Eine interessante neue Stimme, gerne mehr hiervon!

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Don Winslow – London undercover

Neal Careys erster Fall

Noch bevor Don Winslow zu einem auch hierzulande bekannten Autor werden sollte, verfasste er in den 90er Jahren eine Krimireihe um den jungen Schnüffler Neal Carey.

Ein kalter Hauch im Untergrund

Dem Suhrkamp-Verlag ist es nun zu verdanken, dass die bislang nur antiquarisch erhältlichen Bücher noch einmal in einer gelungenen Übersetzung durch die Winslow-erfahrene Conny Lösch neu aufgelegt werden. Aus Ein kalter Hauch im Untergrund wurde das griffige London undercover, dann noch ein reduziertes Cover und einen roten Buchschnitt hinzugefügt – und schon ist der potentielle Hit fertig.

Ein Himmelfahrtstrip in London

Winslow erzählt in seinem ersten Roman über Neal Carey, wie dieser vom verwahrlosten Kind durch das Training seines Mentors Joe Graham schon bald zum Top-Schnüffler reifte. Mit seinen zarten 23 Lenzen wird er dann von Graham auf eine Himmelfahrtsmission geschickt. Die Tochter eines amerikanischen Senators ist in London untergetaucht und will nicht gefunden werden. Doch da der Senator im Wahlkampf nach außen hin die perfekte Familie repräsentieren muss, liegt es nun an Carey, die Tochter aus einer Stadt zwischen Hare Krishnas, Drogen und Beatniks zu retten. Carey stürzt sich in die Straßen der britischen Hauptstadt und muss schon bald sein ganzes Können aufbieten, um mit heiler Haut aus seiner Mission herauszukommen.

London undercover ist ein Roman, der zwar schon auf dem Papier fast ein Vierteljahrhundert alt sein mag, dem Krimi sieht bzw. liest man dies aber nicht an. Die unverwechselbare Prosa Winslows, die er in späteren Romanen perfektionierte, ist hier schon in Ansätzen zu erkennen. Durch die Kunst der Verknappung treibt Winslow seine Erzählung immer wieder voran und schafft es, den Leser zu fesseln. Die Beschreibung eines London, das noch von Subkulturen durchmengt ist und so ganz anders als das heutige Hochglanz-London erscheint, ist nur als gelungen zu bezeichnen. Dieser Auftakt macht schon einmal mächtig Laune auf Careys zweiten Fall China Girl, der als Neuauflage im April 2015 erscheint.
Für alle die jetzt Lust auf den Roman bekommen haben: Hier geht’s zur Sonderseite für die Neal-Carey-Reihe. 

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