Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit

Schicksale am Fuße des Dente del lupo. In ihrem mit dem diesjährigen Premio Strega ausgezeichneten Roman Die zerbrechliche Zeit erzählt Donatella di Pietrantonio von prägenden Erlebnissen auf einem Campingplatz in den Abruzzen, die in einer Mutter durch die Heimkehr ihrer Tochter wieder wachgerufen werden.


Dente del lupo, Wolfszahn, so wirde der Berg in den Abruzzen geheißen, der in Donatello di Pietrantonios Buch alles überragt. Am Fuße des Wolfszahn geheißenen Bergs liegt ein Grundstück, das der Vater seiner Tochter Lucia überschreiben will. Früher befand sich auf dem Grundstück ein Campingplatz, nun aber hat die Natur dort am Berg mit der Rückeroberung des Gebiets begonnen. Längst haben die Schäfer und ihre Herden dem Dente del lupo wieder einen Lebensraum abgetrotzt und beweiden Flächen dort oben. Eine Schärfe besitzt der Berg aber immer noch, wenngleich eher in psychologischer Hinsicht. Denn einst schlugen Ereignisse dort oben Wunden in Lucias Seele, die im Lauf des Romans wieder aufbrechen.

Denn nicht nur, dass ihr Vater ihr das fragliche Grundstück mit den Überresten des Campingplatzes vermachen will. Auch ihre Tochter Amanda ist auch Mailand heimgekehrt, kurz bevor die Corona-Pandemie das ganze öffentliche Leben zum Erliegen brachte.

Rückkehr zum Dente del lupo

Ich habe sie zu viel allein gelassen in der Großstadt. Bei ihrer Rückkehr war sie eine andere. Ich glaubte, sie sei von ihren neuen Freundschaften in Anspruch genommen, aber sie existierten nur in meiner Fantasie.

Nach ihrer Abreise füllte ich meine Tage mit Patienten, suchte in der Arbeit Betäubung. Daheim kam zu der kalten Hälfte des Ehebetts Amandas leeres Zimmer. Sie waren im Abstand von wenigen Monaten gegangen, Vater und Tochter. Mein Mann, unser Kind. Im November habe ich den Heizkörper abgestellt und die Tür des Zimmers, in dem sie aufgewachsen war, geschlossen. Habe mich dem Winter gestellt.

Sie muss frei sein, sagte ich mir, deshalb bestieg ich keinen Zug. Innerlich fühlte ich mich schwach, beschränkte mich auf die Alltagsdinge, mehr wagte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie sag, wie es mir ging. Ich habe die Angst gezähmt, die ich um sie hatte. Ein Ort, den sie sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihr nichts Böses tun.

Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit, S. 65

Langsam versucht Lucia zu ergründen, was Amandas Heimkehr und ihre charakterliche Veränderung verursacht hat. Die Suche nach den auslösenden Momenten fördert dabei auch aus Lucias eigener Jugend Erinnerungen zutage und bringt Dinge zum Vorschein, die vor allem mit dem Campingplatz zu tun haben, auf dem Lucia einst ihre Sommer verbrachte.

Das Leben von Mutter und Tochter

Donatella di Pietrantonio - Die zerbrechliche Zeit (Cover)

In zwei Rückblenden verschränkt di Pietrantonio das gegenwärtige Leben von Mutter und Tochter mit dem Sommer vor vielen Jahren, als ein Vorfall im Dorf für Aufsehen sorgte und der Erinnerungen an Fälle männlicher Gewalt wachruft. Diese Gewalt, sie dauert an und setzt sich wie ein Kontinuum bis zum heutigen Tag fort – und das nicht nur in Italien, sondern auch in unserer Gesellschaft. Liest man Die zerbrechliche Zeit, werden Assoziationen geweckt, etwa jüngst an die grauenvollen Ereignisse, die zwei amerikanischen Touristinnen nahe Schloss Neuschwanstein widerfuhr.

Donatello di Pietrantonios Roman öffnet den Raum für derlei Themen und Gedanken. Es ist ein präziser Roman, in dem die schreibende Kinderzahnärztin Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und verknotet – und langsam wieder entspinnt. Das erfordert ein langsames und genaues Lesen, denn Die zerbrechliche Zeit ist gesättigt von Atmosphäre und Schwebungen, die zwischen den Charakteren und den Zeilen herrschen (übersetzt von Maja Pflug).

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

„Es geht nicht nur um das, was du siehst“. Dieser Satz, den Lucias Vater bei der Begehung des familieneigenen Besitzes auf dem Berg äußert, er lässt sich auch auf Pietrantonios Roman übertragen. Denn die äußere Handlung in der Gegenwart ist alles andere als spektakulär, vielmehr geht es um das Innere, um Seelenlandschaften und die Gefahren, die sich Frauen heute wie einst ausgesetzt sehen.

Filigran und durchdacht werden die Themen von di Pietrantonio in einen genauen Erzählton gekleidet, was mich persönlich in einigen Passagen an das ebenfalls so verdichtete Erzählen Maja Haderlaps erinnerte. Mit Sinn für Verletzlichkeit, Präzision und einem Fokus auf den Auswirkungen von Gewalt erzählt Die zerbrechliche Zeit von einer Mutter und Tochter und arbeitet Erinnerungen und kontinuierliche Gewalt als Themen des Romans gekonnt auf.

Die Auszeichnung mit dem Premio Strega ist mehr als gerechtfertigt, vor allem in einer Zeit, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung nicht nur in Italien sondern weltweit in Gefahr geraten und die Gesellschaft in alte, patriarchale Rollenmuster zurückzufallen droht. Hier braucht es Romane wie den von Donatella di Pietrantonio, um aufzurütteln, zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Dass die Autorin dabei nicht nur mit der Relevanz ihres Themas sondern auch der literarischen Ausgestaltung überzeugt, macht Die zerbrechliche Zeit noch einmal wertvoller!


  • Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit
  • Aus dem Italienischen von Maja Pflug
  • ISBN 978-3-95614-621-3 (Kunstmann)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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